129 129 FUDUTOURS International 29.03.24 13:14:08

17.07.2016 1.FC Union Berlin – Udinese Calcio 3:2 (3:1) / Stadion Villach-Lind / 200 Zs.

Der Rückweg aus Ljubljana nach Villach ist so schnell zurückgelegt, dass wir kurzerhand darüber nachdenken, das Land von Slowenien in Fast-lane-ien umzubenennen. Weniger überzeugt uns der Parkplatz direkt vor dem Hotel Kasino, der uns doch zu sehr an eine Fußgängerzone erinnert und die Angst erwachen lässt, dass das Auto über Nacht abgeschleppt werden könnte. Auf der Buchungsbestätigung ist jedoch von einem „hoteleigenen Parkplatz“ die Rede. Da die Rezeption zu dieser späten Stunde nicht mehr besetzt ist, lässt sich das alles entscheidende Fragewort nicht angemessen platzieren. So entschließen sich der Wirtschaftsflüchtling und meine Wenigkeit, die nebenan gelegene Bar aufzusuchen, um wenigstens einen unangemesseneren Rahmen zu erschließen.

Die Tür öffnet sich. Zwei Gäste und die Wirtin schauen verdutzt.
„Sacht ma, darf ick mal ’ne Frage stelln?“, poltert der Wirtschaftsflüchtling in den kleinen Raum, der aus einem Tresen, einem kleinen Hinterzimmer und zwei Tischen besteht.
Ein Herr mittleren Alters (Brille, Jackett, Professorenfrisur) fühlt sich bemüßigt, uns zunächst wortlos anzustarren und dann zu antworten: „Joa, war des jetzt die Froag oder kommt’s da noch woas?“

„Wisst ihr zufällig, wo wir den Hotel-Parkplatz finden?“
„Joa, des weiß i schon, aber woas hilft’s euch?“

In einer nun folgenden Verhandlungsphase versprechen wir, auf ein Bier ins „Tio Pepe“ zurückzukehren, wenn wir die Koordinaten des Parkplatzes erhalten. Beide Parteien zeigen sich mit diesem Tauschgeschäft einverstanden und so nimmt der Abend seinen Lauf, als wir um kurz vor Mitternacht unser Versprechen einlösen. Zu unserer Enttäuschung gibt es kein Bier vom Hahn, dafür offeriert die Schiefertafel hinter dem Tresen lokale Flaschenbierspezialitäten aus dem Hinterzimmer-Kühlschrank.

„Ja, denn nehm wa doch so zwei Willacher, bitte!“

Auf einmal gleitet der Herr Professor von seinem Schemel, auf dem er mutmaßlich seit 18.00 Uhr sitzt, kommt auf uns zu, stellt sich Vis-a-vis, hebt mit weit aufgerissenen Augen mahnend den Zeigefinger und sagt:

„Tut’s mir hier nur oanen Gfalln“. Er verlangsamt die Stimme zusätzlich, als wäre die Situation bis hierhin nicht schon befremdlich genug gewesen und setzt an:  „Es. Hoaßt. Vvvvvvvvvvillach!“

Etwas irritiert wischen wir uns die feuchte Aussprache aus dem Gesicht, während der Herr Professor im Hintergrund wieder Platz nimmt. Frisch belehrt korrigieren wir die Bestellung: „Na denn eben zwei Villacher, bitte!“

„Und wo seid’s her, woas moacht’s in Villach?“

„Wir sind aus Berlin, wir sind wegen Fußball hier, morgen spielt Union!“

Schon bei dem Wort „Fußball“ geht unser Gesprächspartner abermals aus dem Sattel und sucht unsere Nähe. Dieses Mal lässt er uns jedoch ausreden, es zerreißt ihn innerlich, doch es gelingt ihm erst nach unserem letzten gesprochenen Wort seinen Gedanken freien Lauf zu lassen: „Ja seid’s ihr deppert? Ihr foahrt’s 1000 Kilometer für oan deppertes Fußballspiel?“. Er setzt sich wieder auf seinen Barhocker, nimmt einen tiefen Schluck aus der Flasche und lässt sich nicht lumpen. Die Gäste wollen über Fußball reden. Sichtlich gelangweilt stellt er aus reiner Höflichkeit eine Anschlussfrage: „Und soagt’s, woas is des jetzt? Is des Europaleague, is des Champions League oder woas?“

„Nee, is‘ Trainingslager, morgen ist Testspiel gegen Udine!“

Dem Professor schlafen die Gesichtszüge ein, während er abermals von seinem Stuhl herunterrutscht. Nicht schon wieder, denken wir uns noch, aber da steht er uns bereits erneut von Angesicht zu Angesicht gegenüber und maßregelt uns: „Joa, seid’s ihr völlig deppert? Ihr foahrt’s 1000 Kilometer für oan deppertes Freundschaftsspiel???“

„Wir reisen halt gern. Fußball ist immer nur der Anlass, aber das was wirklich zählt, sind die Dinge, die man auf diesen Reisen erlebt. So wie das hier. Niemals im Leben wären wir sonst nach Villach und in diese Bar gekommen. Vorhin waren wir in Ljubljana! Wir waren schon gemeinsam in Schottland, Andorra, überall. In zwei Wochen fliegen wir nach Litauen!“

Ihr seid’s deppert. Ihr reist’s net, ihr reißt!

Punkt. Stille im Raum. Über den weiteren Verlauf des Abends könnte ich ganze Romane schreiben, versuche mich im Sinne der Allgemeinheit aber auf die wesentlichen Momente zu beschränken. Um ca. 0:30 Uhr verlässt die Dame, die wir beim Eintritt in die Bar als zweiten Gast gezählt hatten, das Etablissement. Wir philosophieren mit dem Herrn Professor, der mittlerweile offiziell Stephan (gesprochen: Schtéééphan) heißt, über bedeutsame Themen (Gesellschaft, soziale Ungerechtigkeiten, Privatisierungen von Staatsunternehmen, Politik der Gegenwart), ehe er mit der in etwa zwanzig Mal wiederholten Frage: „Wisst’s ihr oaigentlich, in woas fuer oanem Land ihr hier seid’s?“ zu einem Themenkomplex überleitet, welcher einem als deutscher Staatsbürger in ausländischen Kneipengesprächen nahezu zwangsläufig irgendwann begegnet: zweiter Weltkrieg, Schuldfrage, Holocaust. Der Professor legt den Fokus seiner Redebeiträge allerdings auf die Rolle Kärntens in den Jahren 1939-1945 und setzt sich nun schwer gezeichnet von seinen eigenen Ausführungen einen mit Schuld beladenen Rucksack auf. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals nach sechs Bier mit einem mir unbekannten Mann über die „Todesfuge“ von Paul Celan gesprochen und mich dabei verstanden gefühlt zu haben.

[tiefgründige Gedanken ausschließlich in eckigen Klammern, damit Fetti nicht aus Versehen irgendwann einmal für irgendeinen scheiß Fußballkultur-Bloggerpreis nominiert wird: Einem besonderen Abend dürfen auch gerne besondere Zeilen gewidmet werden. Wie lange ist es her, dass man in einer Zufallsbegegnung auf einen Menschen gestoßen ist, der in Erinnerung geblieben ist? Wie oft trifft man auf Menschen, denen es in kürzester Zeit gelingt, dass man sie langweilig oder uninteressant findet? Wie oft trifft man auf Menschen, die Meinungen vertreten, die dermaßen absonderlich sind, dass man auf Abstand geht? Wie oft trifft man auf Menschen, die Haltungen haben, die einen anwidern? Ich befürchte, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem die Optik wichtiger ist als der Inhalt. Ich weiß, dass Besitz, Einkommen, Statussymbole und technischer Fortschritt von den allermeisten als erstrebenswert betrachtet werden. Ich befürchte, dass die guten und klugen Menschen weniger Chancen haben, in diesem Zeitalter „erfolgreich“ zu sein. Ich habe angefangen, zu verstehen, dass ich derjenige bin, der nicht passt. Unzählige Begegnungen, Situationen, Gespräche sind mir folgerichtig unangenehm und zuwider. Die Idioten haben längst gesiegt, geben den Ton an und Regeln, Normen, Konventionen und Ansprüche werden kontinuierlich am unteren Rand angepasst. Nun stelle ich mir die Frage: Wie sollen sich die letzten klugen und guten Menschen finden, wenn sie bereits so weit kapituliert haben, dass sie sich in einer Bar mit zwei Tischen in Villach / zu Hause in ihrem Wohnzimmer / verstecken, um die Wahrscheinlichkeit so gering wie möglich zu halten, von Idioten belästigt zu werden…?]

Woaßt woas, diese Piefkes soan’s koane Oarschlöcher!“, sagt Stephan zu der Wirtin und reißt mich aus meinen Gedankenspielen. Dieses offenbar größtmögliche Lob veranlasst die Dame hinter dem Tresen dazu, sich zu verabschieden. Im Zuge dieser Prozedur lässt sie es sich auch nicht nehmen, uns während einer Umarmung zu sagen, dass wir die „besten Gäste seit langem, ach, überhaupt“ waren. Plötzlich sitzen wir also zu dritt in dem Laden und stellen fest, dass Stephan offenbar Mitbesitzer – oder zumindest ein Gast mit Haus- und Schlüsselrecht ist.

Um 2:00 Uhr haben wir dann das erste Problem des Abends gemeinsam zu meistern. Sperrstunde in Villach! Aber Stephan wäre nicht Stephan, wenn er nicht auch für dieses Problem eine Lösung parat hätte. Er steht auf, geht nach draußen und holt die einzige kleine Werbetafel und einen Stuhl hinein und spricht andächtig: „I hoab doa oa geheimen Mechanismus entwickelt“, woraufhin er die Jalousien herunterlässt und die Kneipentür von innen verschließt. „Jetzt koennt’s weitersaufen!“. Prima!

Die nächsten dreieinhalb Stunden vergehen wie im Flug. Um kurz vor sechs Uhr wird unsere Freundschaft auf eine harte Probe gestellt, als wir gemeinsam versuchen, so etwas wie eine Rechnung aufzustellen. Derjenige, der das Geld kassieren mag, weiß am allerwenigsten, wie viele Biere im Laufe der Nacht aus dem Kühlschrank des Hinterzimmers geholt worden sind. Der Professor weiß nur, dass er pro Glasflasche 3,30 € kassieren soll. „Machste einfach 30 Euro und denn is jut“, versucht FUDU die Problematik klein zu halten. Aus irgendeinem uns unbekannten Grund ist unser Gegenüber allerdings der Meinung, wir hätten 11 Flaschen zu 36,30 € gehabt. Schwankend hält er uns das geöffnete und gut gefüllte Kneipenportemonnaie entgegen. Er kratzt sich am Kopf, richtet sich notdürftig die Brille und öffnet mit der herzerfrischend ehrlichen Ansage, dass er aktuell überhaupt nichts mehr klar sehen könne, Tür und Tor für eine gute Verhandlungsposition. Ostdeutsche Ehrlichkeit ist, wenn man dann einen Fuffi in das Portemonnaie steckt, sich zwanzig wieder herausnimmt und „Stimmt so!“ sagt.

Bei helllichtem Tag legen wir die 20 Meter bis zu unserem Hotel zurück und fallen dann in die Betten. Vier Stunden später klingelt das Telefon unseres Zimmers. Die Rezeptionistin weist darauf hin, dass wir auszuchecken hätten. Mist, das Frühstück verpennt, nur noch schnell Duschen gehen. Eine gute halbe Stunde zu spät schlagen wir mit Kater-Airways in der Lobby auf. Sichtlich schlecht gelaunt starrt man hinter dem Counter auf die Uhr. Können wir jetzt auch nicht mehr ändern. Schnell ist die Rechnung beglichen und noch auf dem Hotelparkplatz treffen wir die übellaunige Dame von der Rezeption wieder und sind plötzlich voll der Empathie. Wir waren offenbar die einzigen Gäste des Hotels, da kann man schon mal genervt dreinschauen, wenn man ausgerechnet auf zwei solche Exemplare warten muss, ehe man seinen Feierabend genießen darf.

Hoch motiviert beginnen wir unser Sonntags-Sightseeing: Spaziergang an der Drau, Bahnhof, Innenstadt, Rathaus, reicht jetzt. Der Fußweg zu den Thermalquellen zieht sich zu sehr in die Länge und die Reisegruppe entscheidet sich für einen Abbruch, nachdem sie gelernt hat, dass auch in Villach alle Bullen Schweine sind, außer Rainer, der ist keiner. Bei einem Konterbier machen wir es uns dann im Biergarten der Villacher Brauerei gemütlich und treffen auf erste auswärtige Fußballfans in den schwarz-weißen Farben Udines.

Am Stadion wartet ein kleines Polizeiaufgebot und eine Eintrittszahlung in Höhe von 12 € für ein Spiel der ominösen „European Summer League“ auf uns. Leider fehlt vom Professor jede Spur, der heute eigentlich ein Experiment der doppelten Meta-Ebene wagen wollte. Fußball findet er langweilig; Leute, die beim Fußball zugucken, sind ihm suspekt; aber vielleicht hätte er Spaß daran gefunden, Leuten, die beim Fußball zugucken, dabei zuzugucken. Soweit der Arbeitstitel der nächtlichen Planspiele.

In der Spielstätte der Stadt Villach finden sich in seiner Abwesenheit noch gut 200 Zuschauer ein, darunter in etwa 50 Unioner. Viel erfreulicher ist, dass sich unter den 150 Gästen aus Udine auch mehr als 20 Ultras befinden, die auf der Gegengerade mobil machen und einen ernsthaften Support hinlegen. Bengalos, Fahnen, Sprechchöre, Spruchbänder. In erster Linie nutzen sie den Auftritt, um gegen die drohende Übernahme durch Red Bull zu protestieren. Neben den bekannten italienischen Schimpftiraden greifen die schwarz-weißen aber auch auf deutsche Schlachtrufe zurück und erhalten so Applaus von der Gegenseite. So kann auch ein Testspiel Spaß machen.

Neben Stephan vermissen wir auch die Udine-Legende Antonio di Natale. Einer dieser wenigen Spieler im Weltfußball, die permanent auf höchstem Niveau agiert haben und dennoch nie den Verein wechselten. Den monetären Verlockungen europäischer Großclubs widerstand er stets aus bloßer Liebe zu seinem Heimatverein. Guter Typ, der jetzt jedoch leider seine aktive Laufbahn nur wenige Wochen vor dem Testspiel gegen den 1.FC Union Berlin beendet haben muss. Schon bitter, wenn man nach so vielen Jahren sein Karrierehighlight denkbar knapp verpasst.

Für Erheiterung sorgen derweil der Stadionsprecher, der so gut wie keinen einzigen Spielernamen korrekt verliest, der Behelfs-Schiedsrichter, der mit seinem Schmierbauch und dem nicht vorhandenen Tempo in der „European Summer League“ etwas Fehl am Platze wirkt, die Gäste aus Udine mit einem legendären Wechselgesang zwischen Block und Bierstand und die Unioner, die Collin Quaner nach seiner Einwechslung einen neuen Song widmen: „Your Defense is unemployed ´cause Collin’s on Fire!“.

Auf dem grünen Rasen kann Unions Offensive überzeugen und die Abwehrreihen der Serie-A-Equipe immer wieder durcheinanderbringen. Die eigene Defensive ist jedoch recht anfällig, sodass sich ein kurzweiliger Schlagabtausch entwickelt. Nach 20 Minuten führen die Unioner mit 2:0 (Hosiner per Strafstoß und Skrzybski nach sehenswerter Kombination), nach 45 mit 3:1 (dritter Treffer durch Fürstner im Anschluss eines schönen Doppelpasses). Der Anschlusstreffer der Italiener fällt nach einer guten Stunde. Nach einem Foul gegen Leistner kommt es zur Rudelbildung und für ein belangloses Testspiel ist doch einigermaßen Feuer im Spiel. Im Anschluss bringen jedoch Wechselarien auf beiden Seiten (alleine 9 Wechsel in der 63. Minute beim FCU) das Spiel vollends aus dem Rhythmus. Die einzige Szene, die noch auf dem Notizzettel landet, ist eine Großchance, die Skrzybski kurz vor dem Ende der Partie liegen lässt. Abpfiff.

Auf dem Weg zum Auto steuere ich den Versorgungsstand an. Mein letztes österreichisches Bier des Tages wird mir leider verwehrt. Den italienischen Gästen ist es gelungen, sämtliche Biervorräte leer zu saufen. Meinen aufrichtigen Respekt hierfür. Wenige Stunden später sitzen wir in München in unserem griechischen Bistro des Vertrauens und holen das mit dem Bier nach. Morgen früh geht es mit dem ersten ICE zur Arbeit. Auf die Frage, wie mein Wochenende so war, werde ich wie gewohnt nicht mehr antworten, als nötig. Aber womöglich werde ich in Erinnerung an Stephan sagen: „I hoab was grissen!“ Mehr muss keiner wissen. /hvg