620 620 FUDUTOURS International 19.04.24 03:21:21

10.12.2016 Racing Club de Strasbourg – Racing Club de Lens 3:1 (2:0) / Stade de la Meinau / 22.062 Zs.

Ganz gleich, ob man nach dem Einschalten des Fernsehers einen öffentlich-rechtlichen Kanal empfängt oder aus Versehen bei RTL2 gelandet ist, heutzutage wird immer und überall irgendetwas getestet, gegenübergestellt und bewertet. Auch FUDU möchte sich in Zukunft serviceorientierter zeigen und bedient im Folgenden eben dieses Marktsegment. Nur weil der kleine Mann der Straße nicht nach seiner Meinung gefragt wird, heißt das noch lange nicht, dass er sie nicht sagen darf.

Den heutigen Samstag rufen der verrückte Tischfinne und meine Wenigkeit also zum großen Zug-Check aus. Welcher Premiumzug wird die anspruchsvollen Hopper eher zufriedenstellen? Die Deutsche Bahn schickt den ICE ins Rennen, der französische Nachbar stellt für den Rückweg einen TGV bereit. Getestet werden die Strecken Stuttgart-Strasbourg und Strasbourg-Stuttgart.

Am Morgen geht der ICE direkt in Vorleistung und glänzt mit einem nicht-funktionierenden Wi-Fi sowie mit einer ausgefallenen Reservierungsanzeige. Auch der Streckenverlauf kann auf den Monitoren leider nicht angezeigt werden. Für weitere deutliche Abzüge sorgen die übrigen Passagiere. Ein Vater spricht sein explorierendes in etwa einjähriges Kind an: „Lotta, im Zug zu laufen ist per se schwierig, aber das hatte ich dir ja schon einmal erklärt!“ Vermutlich hat er seiner Tochter diese Information im Vorfeld der Reise bereits schriftlich zukommen lassen, um nun die Zeit zu haben, anderweitig als Korrektiv einwirken zu können. „Nein, Lotta, das ist kein Schnee, das ist Rauhreif!“ Schnellanamnese abgeschlossen: Wir haben es hier mit einem Vollidioten zu tun. Die ziemlich attraktive alleinerziehende Mutti in spe schaut mit einem unbeschreiblich leeren Blick hilflos in der Gegend herum. Als sich unsere Blicke treffen, beginnen wir beide zu lächeln. Es scheint, als hätte ich zu alleinerziehenden Muttis einen guten Draht. Was man da wohl draus machen könnte? Ach, wenn doch da bloß die Kinder nicht wären…

Wir erklären den TGV bereits jetzt zum Sieger des Tests, um zu verhindern, dass sich unser Format ebenso unerträglich in die Länge zieht wie die Vorbilder aus dem Fernsehen. Der verrückte Tischfinne schmiedet derweil schon große Pläne, welche Glühweintassen des Straßburger Weihnachtsmarktes er seiner Sammlung hinzufügen mag. Ich hab angesichts der aktuellen Bedrohungslage in Frankreich und aufgrund der Tatsache, dass eben jener Markt bereits mehrfach in das Visier terroristischer Organisationen geraten ist, ein etwas mulmiges Gefühl, welches ich mit Zynismus bearbeite. Mein Vorschlag, ob wir aus Sicherheitsgründen nicht lieber einen Integralhelm tragen sollten, wird mit Verweis auf die Eintrittskarte des Fußballspiels abgelehnt. Helme sind im Stade de la Meinau leider verboten. Kurz darauf läuft ein verkleideter Junge in kompletter Ritterrüstung durch den Zug. Sollten wir hier heute alle in die Luft gesprengt werden, dann wäre dieser kleine Junge [neben der Wassermelone mit Fahrradhelm aus dem Lehrvideo] wohl derjenige, der darauf am Besten vorbereitet wäre. So etwas trifft mein Komikzentrum.

Wenig später verlassen wir den ICE in Strasbourg und bewundern einen schicken alten Bahnhof mit opulenter Bahnhofshalle, der von einer hochmodernen Glaskonstruktion ummantelt ist. Nachdem man erste Sicherheitsschleusen mit Körper- und Taschenkontrollen passiert hat, um in die Innenstadt zu gelangen, schreit es einem sogleich entgegen: „Strasbourg – capitale de Noël“. Die Hauptstadt Weihnachtens also, oder wie ich zu sagen pflege: Die Ausgeburt der Weihnachtshölle. Es gibt in der Tat keinen Baum, kein Haus, keinen Baukran, keine Brücke, die nicht in irgendeiner Form beleuchtet werden oder mit kitschiger Weihnachtsdekoration verhangen sind. Mit uns drängeln sich heute schätzungsweise 8,7 Millionen Menschen durch die Straßen der Altstadt und flanieren über einen der drei Weihnachtsmärkte. Genaugenommen stehen die Menschen vor den Buden, fressen, saufen und jeder, der nicht frisst oder säuft, wird von den Massen durch die Gegend geschoben.

An einem Informationsstand überfordern wir die Dame der Tourismusbehörde mit unserer Frage nach dem Anfahrtsweg zum Stadion. Sie hält lediglich Stadtpläne zur Ausgabe bereit, auf denen der Christkindelsmärik mit seinen drei überlaufenen Außenstellen eingezeichnet ist. Sie ist nicht sonderlich gut darauf vorbereitet, dass es noch einen anderen Grund geben könnte, nach Strasbourg zu reisen und ihre Versuche, uns den Weg zum Stadion per Straßenbahn zu erklären, sind genauso unsicher wie falsch. Im Hintergrund winkt der Finne ab: „Da weiß ich ja besser Bescheid!“, womit er wohl Recht haben dürfte.
Zu Fuß machen wir uns dann auf den Weg in die knapp sechs Kilometer entfernte Spielstätte, nachdem wir uns in einem kleinen Bistro mit einem lokalen „Storik“ und „Meteor“ gestärkt haben.

Das „Stade de la Meinau“ wurde 1914 eröffnet und war Spielstätte der Fußball-Weltmeisterschaft 1938 und der Fußball-Europameisterschaft 1984. Die letzten großen Sanierungen erfolgten in den 80’er Jahren und somit kann der Spielstätte heute dank seiner steilen Ränge, der unprätentiösen Außengestaltung und aufgrund des Fehlens modernen Schicki-Micki-Brimboriums eine gewisse Attraktivität attestiert werden. Auch von der Atmosphäre im Stadion erhoffen sich der Tischfinne und meine Wenigkeit heute einiges. Nach den Lizenzentzügen und Abstiegen des RC Strasbourg wurde in den unteren Klassen des französischen Fußballs der eine oder andere Zuschauerrekord aufgestellt. Treu sind die Zuschauer des RC Strasbourg allemal, auch wenn die freundschaftlichen Beziehungen zu Hertha BSC und dem Karlsruher SC schon vor Anpfiff zu deutlichen Abzügen auf der Sympathieskala führen.

Die Gäste aus der nordfranzösischen Steinkohlebergbaustadt Lens haben hingegen all das, was mein Fußballherz höher schlagen lässt. Allein der Umstand, dass man über lediglich 31.398 Einwohner verfügt, der Zuschauerschnitt in der Ligue 2 jedoch bei 28.996 liegt, zeigt, wie sehr Stadt und Region mit dem Club verwurzelt sind. Das Stade Félix Bollaert ist wohl eines der schönsten in Frankreich und die Schlachtenbummler des Arbeitervereins sind als besonders treu und leidenschaftlich verschrien.

Heute haben gut 2000 Fans aus Lens den 530 Kilometer langen Anreiseweg auf sich genommen, um ihre Helden im Kampf um den Aufstieg zu unterstützen. Die heimischen „Ultra Boys“ haben im gesamten Stadion blaue Winkelemente verteilt und eine Choreographie vorbereitet, um den 111-jährigen Geburtstag des Vereins zu feiern. Der Stadionsprecher agiert auch in Strasbourg wie ein Marktschreier und fordert „bruit“ auf „un, deux, trois“, während im Hintergrund „Hell’s Bells“ dudelt und sich die Gästeschar aus Lens bereits jetzt aufmacht, die akustische Hoheit zu erobern.

Das Spiel beginnt bei gleißendem Sonnenlicht, das uns auf der Gegengerade mitten in die Gesichter strahlt und ein entspanntes Verfolgen des Spiels erschwert. Den ersten Aufreger gibt es bereits nach wenigen Spielminuten zu bestaunen, als ein rot-gelber Akteur der Gäste nach einem Eckball der Hausherren im Strafraum zu Fall kommt. Der Gästemob fordert vehement einen Pfiff und scheint bereits jetzt am Siedepunkt angekommen. Ein Zuschauer vor uns, der einen Storch auf der Schulter sitzen hat, winkt ab. Kein Foul, sagt auch Schiedsrichter Freddy Fautrel. Einen Wimpernschlag später schlägt der Ball im Tornetz ein. Jérémy Grimm hat die freie Schussbahn, die er sich dank dieses vermeintlichen Ellenbogenschlags verschaffen konnte, erfolgreich genutzt. Der Gästespieler krümmt sich vor Schmerzen am Boden, die Fans des RCS jubeln, die des RCL fühlen sich nach nur neun Minuten gehörig verschaukelt.

Nach 18 Minuten rettet ein Spieler Strasbourgs einen Angriffsversuch des RCL auf der Torlinie. Ab diesem Moment wird für die unermüdlich angetriebenen Gäste nicht mehr viel zusammenlaufen. Nach einer halben Stunde fällt eine Art Vorentscheidung, als Strasbourg mit einem simplen langen Einwurf gleich mehrere Verteidiger überspielt und der von Außen in den Strafraum hineingespielte Pass durch Bahoken verwertet werden kann.

Im zweiten Spielabschnitt verabschiedet sich die Sonne. Es bleiben 8,8 Grad Celsius und die Erleichterung, am 10.12. eine leichte Jacke dabei zu haben. Auf dem Rasen liefern sich beide Teams weiterhin eine erbitterte Schlacht, doch immer hat die Heimmannschaft das bessere Ende auf ihrer Seite. So auch in der 70. Minute, als Seka eine eigentlich bereits verteidigte Ecke, die dann im zweiten Anlauf erneut in den Strafraum segelt, per Kopf zum 3:0 abschließt. Sinnbildlich, dass just in diesem Moment der gesamte Gästeblock, der über die gesamte Dauer des Spiels kontinuierlich brachiale Anfeuerungsrufe und melodische Gesänge zum Besten gegeben hat, in roten bengalischen Lichtern erleuchtet ist, während das Heimpublikum vom Marktschreier zum Torjubel animiert werden muss. Erst im Anschluss des dritten Treffers gelingt es der zahlenmäßig guten Heimkurve, das gesamte Stadion mit in Gesänge und Aktionen einzubeziehen. Etwas verordnet und choreographiert erscheint dann die Welle, die durch das Stadion schwappt, das gemeinschaftliche Fähnchen schwenken sowie das Einschalten von Handytaschenlampen in der 79. Spielminute, vermutlich zur Erinnerung an den Gewinn der französischen Meisterschaft in eben jenem Jahr. Besonders karikiert werden diese Stimmungselemente dadurch, dass viele Menschen nur wenige Minuten später das Stadion Fähnchen wedelnd vorzeitig verlassen.

Die Gäste verdienen sich dahingegen auch in der Schlussphase Bestnoten. Noch immer ist der Widerstand auf den Rängen nicht gebrochen, noch immer schallt es „RCL-Allez“ und noch immer investieren die Akteure auf dem Rasen eine Menge Energie, um ihren Anhängern wenigstens einen Ehrentreffer zu bescheren. In den Schlussminuten kommt der RCL zu zwei Großchancen und scheitert ein Mal an der Querlatte, ehe ein Elfmeterpfiff dafür sorgt, dass Spanien-Legionär Cristian auch auf der Gästeseite etwas zählbares auf die Anzeigetafel bringen kann.

Das Stadion leert sich. Ein kleiner Kern der „Ultra Boys“ verweilt im Stadion und auch von den 2000 weit gereisten Gästen hegt keiner Ambitionen, das Stadion zu verlassen. Es scheint, als würden beide Fangruppen gemeinsam etwas skandieren wollen, was der Stadion-DJ geschickt zu verhindern weiß, indem er „Relax, Take it Easy“ von MIKA einspielt und ein gellendes Pfeifkonzert erntet. Am Ende singen nur noch die Gäste im gänzlich leeren Stadion.

Der Tagesausflug nach Strasbourg endet für mich dann mit weiteren Cateringverlierer-Anekdoten. Durch das lange Verweilen im Stadion habe ich es leider versäumt, meinen Bierbecher zurückzugeben. Alle Abgabestationen haben bereits geschlossen oder final abgerechnet und sind nicht in der Lage, mir meinen Pfandbetrag auszuzahlen. In Zukunft wird mir also das Trinkgefäß mit dem Konterfei Baptiste Guillaumes als Mahnmal kapitalistischer Ausbeutung in den eigenen vier Wänden erhalten bleiben. Merci!

In der Innenstadt kehren wir vor unserer Rückfahrt nach Stuttgart in einem Lokal ein. Die Preise sind weihnachtlich touristisch gestaltet, sodass für uns die Auswahl auf einige wenige Gerichte begrenzt wird. Der Tischfinne spielt auf Sicherheit und bestellt eine Tarte Flambée. Da kann man nichts falsch machen, aber auch nicht viel gewinnen, denke ich mir und bestelle ein „Paire de Knack“ aus der Speisekartenrubrik „Specialités Alsaciens“. Und während ich mich auf eine lukullische Wurstsensation freue, öffnet irgendein Behelfskoch im Hinterzimmer lachend ein Glas Wiener Würstchen aus dem ALDI. Wäre ja gelacht, wenn sich nicht immer wieder Trottel finden lassen würden, die für Wiener mit Pommes 8,50 löhnen.

Der TGV erweist sich kurz darauf als würdiger Sieger des Wettstreits und befördert uns schnell und komfortabel nach Stuttgart. Hier besitzt der Feinstaubalarm nach wie vor Gültigkeit und berechtigt uns erneut zur Nutzung des ÖPNV mit ermäßigtem Kinderticket. Mit der 111-Jahre Strasbourg-Flagge zwischen den Beinen ist der Killesberg schnell erreicht. Dort falle ich frisch verliebt in den RC Lens in die Federn und nehme mir fest vor, irgendwann einmal dorthin zu reisen – vielleicht ja mit einer alleinerziehenden Mutti… /hvg