817 817 FUDUTOURS International 16.04.24 16:15:24

25.02.2017 Budapest Honvéd FC – Debreceni VSC 1:0 (0:0) / Bozsik-József-Stadion / 2.019 Zs.

Es ist Freitagabend und der 1.FC Union Berlin hat seinen Spieltag mit einem 2:0 Heimsieg gegen den TSV 1860 München bereits erfolgreich hinter sich gebracht. Somit verbleibt für uns kein einziger stichhaltiger Grund, ein ganzes Wochenende in Berlin verbleiben zu müssen. Schnell werden die Erwartungen an die geplante Wochenendreise ausgelotet und ebenso schnell stellt sich heraus, dass diese erstmals etwas auseinanderklaffen. „Möglichst viele Spiele in kurzer Zeit sehen”, schreibt sich der Hoollege als Credo auf die Fahnen, während unsereins die Sightseeingfelle bereits davonschwimmen sieht. Am Ende fällt unsere Wahl des Reiseziels gut begründet auf Ungarn. Zunächst einmal aus reiner Dankbarkeit – hätte Király Gábor nicht kürzlich seine Jogginghose in Fußballdeutschland an den Nagel gehangen, der 1.FC Union hätte wohl abermals nicht gegen den TSV 1860 gewinnen können. Darüber hinaus bin ich im März 2013 denkbar knapp an meinem Länderpunkt Ungarn vorbeigeschrammt, als die erstklassige Partie zwischen dem Bodajk FC Siófok und Diósgyöri VTK kurzfristig Schneeverwehungen zum Opfer gefallen war. Obendrein ist es möglich, an einem Wochenende gleich drei Spiele in einer Stadt zu besuchen, was den Hoollegen in Verzückung versetzt. Den Gefallen kann ich ihm tun, schließlich war ich bereits drei Mal in der ungarischen Hauptstadt zu Gast, kenne jede Sehenswürdigkeit und auch jede Falte im Gellértbad und kann so getrost auf neuerliches Sightseeing verzichten.

Am Samstag bietet Nadjuschka um fünf Uhr in der Früh einen kostenlosen Transfer im Tschechenbentley zum Flughafen an. Klar, dass die beiden Althauer bei diesem unwiderstehlichen Angebot höchstpünktlich zur Abhoolung bereit stehen. Dank der haften gebliebenen Ortskenntnisse der vergangenen Ungarnreisen ist der Flughafenbus nach erfolgter Landung in Budapest schnell gefunden. Um das logistisch günstig gebuchte Hotel in der Nähe des Bahnhofs Kőbánya-Kispest zu finden, benötigt es aber die freundliche Hilfe zweier junger Ungarn, die uns zunächst in englischer Sprache den Weg erklären, dann aber offenbar das Gefühl entwickeln, dass wir womöglich etwas auf den Kopf gefallen sind und uns dann folgerichtig lieber persönlich durch die wunderbar heruntergekommenen Bahnhofsgänge hindurch in ein Shoppingcenter schleusen, wo sie uns dann mit einem letzten Fingerzeig in Richtung Hotel in unseren Wochenendurlaub entlassen.

Kurz darauf haben wir im Hotel Chesscom in der Bartók Béla Utca eingechecked, der bekanntermaßen kein Schachspieler, sondern Komponist war. Leider können wir unsere Zimmer noch nicht beziehen, stattdessen aber die Serviceleistung in Anspruch nehmen, unsere Gepäckstücke in einem Gitterverschlag einzuschließen. Der Hoollege schlägt beim Verstauen der Rucksäcke vor, mich ebenfalls wegzusperren, was die Rezeptionistin mit einem gequälten Lächeln quittiert. Wohl erst 284 Mal gehört, diesen Hänsel und Gretel Gag.

Professionelle Fußballspieler denken häufig nur von Spiel zu Spiel. Professionelle Fußballspieler verfügen in der Regel aber auch über einen derart eingeschränkten Horizont, dass ihnen schlicht und ergreifend keine andere Wahl bleibt. Fetti hingegen ist ambitioniert, vorausschauend und mit einem nicht in Worte zu fassenden Weitblick ausgestattet. Klar, dass er daher heute vor dem Besuch des ersten Spiels bereits das zweite plant und so führt ihn der erste Weg des Tages mit der blauen Metrólinie 3 nach Népliget, wo sich das Stadion des Ferencvárosi Torna Club befindet.

Dort gilt es vor dem Kartenkauf erst einmal im schmuckvoll vergitterten „Regisztráció“-Büro vorstellig zu werden. Von dem Procedere hatte bereits Günter aus Malta einschlägig geschwärmt – nun wird unser Traum wahr und endlich dürfen auch wir einen mehrseitigen Fragebogen ausfüllen, den die freundlichen Vereinsverantwortlichen Ferencvaros‘ auch in englischer Sprache vorliegen haben. Besonders angetan hat es uns die Kategorie „Full Mother’s Name“. Und während wir grübeln, was zur Hölle das bedeuten soll und warum dies eine relevante Angabe für einen Stadionbesuch in Ungarn darstellen könnte, füllen wir bereits kichernd „Marlies Silvia“ und „Susanne Katrin“ in die entsprechenden Lücken. Ich denke, es ist an dieser Stelle angebracht, sich bei unseren Müttern zu entschuldigen, deren Daten nun in einer Gewalttäter-Sport-Datei erfasst sind und die hoffentlich nachhaltig für etwas Irritationen bei ungarischen Sicherheitsbeamten sorgen.

Nach dem Ausfüllen der Dokumente werden Fotoaufnahmen (Portraitfoto, Profilfoto links, Profilfoto rechts) angefertigt und anschließend mittels moderner Scannertechnik unsere Handflächen eingelesen. Als ein freundlicher Ungar uns beobachtet, wie wir etwas ungläubig all dies über uns ergehen lassen, kommentiert er süffisant die Szenerie: „We have the safest Stadium in the World!“ und wir erinnern uns plötzlich wieder daran, dass wir ja eigentlich nur zum Fußball gehen wollten.

Für unverschämte 1500 Forint erhält man dann seine persönliche Chipkarte mit einem Konglomerat an Daten, wie es einst nur für Staatsbedienstete in einem Hochsicherheitstrakt angefertigt worden wäre und ist somit endlich zu einem Erwerb von Eintrittskarten berechtigt. Diese werden einem dann für die besten Plätze des Stadions kurz darauf zu einem Discountpreis von 1000 Forint hinterhergeschmissen.

Sichtlich gezeichnet von diesem furchtbaren Erlebnis treten wir den Rückweg in den XIX. Bezirk im Südosten der Hauptstadt an (Kispest). Dort erkunden wir die nähere Umgebung des Hotels, laufen erste Wege ab und besteigen dann den erstbesten Bus, von dem wir vermuten, er könnte uns in die Nähe des Bozsik-József-Stadions befördern. Viel zu früh verlassen wir diesen und kommen so in den Genuss, den Stadtteil etwas ausführlicher zu erkunden. Schnell keimen bei den Streifzügen durch die Straßen Erinnerungen an Leipzig-Leutzsch auf. Viele schöne Häuser stehen leer und sind deutlich in die Jahre gekommen. In den meisten Geschäften scheint die Zeit still zu stehen. Die allermeisten Schaufenster offerieren Werkzeuge und Baumaterialien und sind ganz offensichtlich seit den frühen Neunzigern nicht mehr umdekoriert worden. Da schüttelt es meine Reisebegleitung, seines Zeichens anerkannter Experte für visuelles Marketing.

Nachdem wir das Stadion von Honvéd gefunden und in leerem Zustand bewundert und fotografiert haben, entschließen wir uns in Ermangelung von Restaurants noch einmal zum Bahnhof Kőbánya-Kispest zurückzukehren. Nachdem wir beim zweiten Versuch des heutigen Tages den richtigen Bus erwischt haben, haben wir nun auch alle benötigten Koordinaten für die weitere Tagesverlaufsplanung beisammen (Wegstrecken Bahnhof-Stadion1-Bahnhof-Stadion2), was einerseits zu der Erkenntnis führt, dass wir das erste Spiel fünf Minuten vor Abpfiff verlassen werden müssen und andererseits noch einmal verdeutlicht, dass das Ermitteln solcher Koordinaten ohne Smartphone zwar länger dauert, aber wesentlich mehr Spaß bereitet und für bleibende Eindrücke sorgt.

Wir kehren dann etwas enttäuscht im „Foodcourt” der „Shoppingmall” (altdt.: Futterecke des Einkaufszentrums) ein. Dort offeriert die Auslage eines der Mensa-Restaurants dann zu unserer Überraschung aber recht lecker aussehende landestypische Speisen. Aufgrund der Sprachbarriere zeigen wir mit den Fingern wild durch die Gegend und erhalten letztlich zwei Gerichte unklarer Zusammensetzung und Bezeichnung, die aber beide schmackhaft sind. Abgerundet wird das Festmahl durch meinen italienischen Lieblingseistee der Marke San Benedetto, der es mittlerweile in viele europäische Regale geschafft hat, aber nach wie vor zurecht einen großen Bogen um die deutschen Kostverächter macht, die sich weiterhin stillos über 0,49 € teures Zuckerwasser aus dem Tetra Pak hermachen dürfen.

Gut eine halbe Stunde vor Spielbeginn wieder vor dem Bozsik-József-Stadion angekommen, organisiert der Hoollege in gebückter Haltung unsere Eintrittskarten, da sich die Kassenhäuschen, bzw. deren Fenster, knapp unter Normalnull befinden. Schön, wenn man während des Anstehens lediglich verputzte Wände sieht. Der Überraschungseffekt ist dem Hörensagen nach jedoch einigermaßen angenehm, wenn man in die Hocke gehend Kontakt mit dem Verkaufspersonal aufnehmen mag und zur Begrüßung erst einmal einmal ein wohlgeformtes osteuropäisches Dekolleté präsentiert bekommt.

Gut gelaunt wird der Sektion Sextourismus im Anschluss „Borsodi“ aus dem Hahn und die nostalgische Hymne aus den knarzenden Lautsprechern serviert, während ein hochnotpeinliches Löwen-Maskottchen die ersten Gäste in der altehrwürdigen Sportanlage in Empfang nimmt. Was für ein wunderbares Stadion – alte Tribünen, Industriecharme und sozialistischer Wohnungsbau bilden eine malerische Umgebung, die von opulenten Flutlichtmasten abgerundet wird. Mehr braucht es nicht!

Bevor wir in der Gegenwart ankommen, schwelge ich noch ein wenig in Erinnerungen und berichte von meiner ersten Begegnung mit dem heute gastgebenden Verein, der damals als Kispest-Honvéd in meinen Sprachgebrauch eingegangen war. Es muss Mitte der 90er Jahre gewesen sein, als der ungarische Traditionsclub (13x Meister, zuletzt 1993) im UEFA-Cup auf Bayer 04 Leverkusen traf. Damals saß ich, wie bei jedem Europapokalspiel deutscher Mannschaften, vor dem Fernseher und fieberte fest entschlossen mit meinen PANINI-Idolen, woran mich nicht einmal Jörg Dahlmann hindern konnte. Heute, gerade einmal 20 Jahre später, hat man diese schlechte Angewohnheit glücklicherweise ad acta legen können. Im Nachgang der Reise ist FUDU jedoch einem großen Skandal auf die Schliche gekommen, schließlich spielte Bayer 04 beim 2:0 Rückspielsieg  ganz offensichtlich mit 20 Spielern, darunter u.a. 2x Pavel Hapal und 2x Paulo Sérgio! Wird alles zeitnah an den CAS weitergeleitet…

Nun aber ab in die Gegenwart. Heute steigt der 22. Spieltag der ersten ungarischen Fußballliga und die Gastgeber liegen als Tabellenzweiter so gut auf Kurs wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Gäste aus Debrecen kämpfen als aktueller 10. der 12’er Liga gegen den Abstieg und werden heute von ca. 120 Schlachtenbummlern begleitet, von denen die Hälfte schwarzgekleidet hinter Gruppenflaggen der „Szívtiprók Ultras“ mit faschistischer Symbolik stehen und zu verstehen geben, dass sie auch nicht mehr Klasse als ihre Mannschaft haben. Direkt vor uns sitzt ein alter Mann mit einer Jacke, die locker alles in den Schatten stellt, was die Kategorie C bislang so zu bieten hatte. Vergesst Yakuza, Amstaff, Pitbull. Ab heute geht nichts mehr über ein Kleidungsstück der Marke „Agressor“ (sic!) mit dem wunderbaren Motto: „Jeanswear for negative Life!“. Genau wie wir ist auch der „Agressor“ nur von einer Hecke vom Spielfeld getrennt, wobei eine etwas größere lichte Stelle in selbiger glücklicherweise von einem Ordner bewacht wird.
Die Heimszene schräg gegenüber pflegt ganz offensichtlich einen britischen Stil, was sich in Zaunfahnenkultur und der Art der akustischen Begleitung des Spiels niederschlägt.

Während wir diese Umgebungseindrücke sammeln, lassen die Akteure den Ball eher schlecht als recht über den Rasen laufen. Das Spiel spielt sich größtenteils mit überschaubarer Geschwindigkeit zwischen den Strafräumen ab. Auffällig ist die Nummer 24 der Hausherren, Đorđe Kamber, seines Zeichens halb Bosnier, halb Ungar, halb Holzfäller, der alles aus Debrecen umnietet, was sich anschickt, näher als 30 Meter an das zu verteidigende Tor heranzulaufen. Auch die wenigen Standards Kispests verpuffen kläglich („die flache Ecke ist hoch im Kurs!“), sodass der nächste Höhepunkt erst in der 22. Minute auf die Notizzettel wandert.

Verletzungsbedingt muss Debrecens Mittelfeldmotor Frank Feltscher, seines Zeichens Bruder der Duisburger Swaglegende Rolf, das Feld verlassen. Eine Instagram-Story hierüber ist sicherlich bereits verfügbar. Der eingewechselte Hyun-Jun Suk (geboren 1991) kann eine interessante Vita nachweisen, spielte er in noch jüngeren Jahren schließlich bereits für den AFC Ajax und den FC Porto und wurde einst als Rohdiamant bezeichnet. Heute ist er auf dem Rasen jedenfalls sogleich einer der auffälligsten Akteure. Technisch versiert, schnell, dribbelstark – aber fast jeder seiner Steilpässe landet im Nirwana. FUDU konstatiert: Der muss noch ein Auge für das Spiel entwickeln, wobei das jetzt bei einem asiatischen Spieler auch wieder für einen Shitstorm aus dem Mommsenstadion sorgen könnte. Vielleicht ist Suk mit seinen 15 Länderspielen, mehreren Treffern in Hollands und Portugals höchster Spielklasse, aber auch schlicht und ergreifend einfach etwas zu überqualifiziert für ein funktionierendes Zusammenspiel mit seinen Kollegen.

Sei es wie es sei. Nach und nach übernehmen einige englischsprachige Hopper die Stimmungshoheit auf der Tribüne und lassen die Atmosphäre noch etwas britischer werden. Über die gesamte Dauer des Spiels wird Honvéd überlegen spielen, gewillt wirken und doch aufgrund vieler fehlender letzter Pässe und schwacher Abschlüsse zielstrebig auf ein enttäuschendes 0:0 zusteuern.

Knapp fünf Minuten vor Spielende macht sich FUDU auf den Weg zur altbekannten Busstation, um rechtzeitig zum Anpfiff des zweiten Spiels des Tages eintreffen zu können. Kaum haben wir das Stadionareal verlassen, vernehmen wir einen markerschütternden Torjubel, der gemeinsam mit uns bis zur Hauptstraße wabert. Márton Eppler, der in der 70. Minute noch kläglich aus fünf Metern gescheitert war, hat in der 85. Spielminute das 1:0 für Honvéd erzielt.

Veräppeln können wir uns selber, Márton. Immer von Spiel zu Spiel denken. Auf nach Franzstadt, FUDU! /hvg