960 960 FUDUTOURS International 26.04.24 01:16:14

12.11.2017 Altonaer Fußball-Club von 1893 – FC St. Pauli II 1:5 (0:3) / Adolf-Jäger-Kampfbahn / 2.080 Zs.

Zu keinem anderen Zeitpunkt kann man die Warschauer Straße derart menschenleer erleben wie am Sonntagmorgen um 8.30 Uhr. Die Partygänger sind bereits zu Hause, die Touristen schlafen noch und zur Arbeit müssen sich auch nur die allerwenigsten auf den Weg begeben. So komme ich an diesem 12.11. in den Genuss, mir die ansonsten so lebendige Hauptstraße mit lediglich zwei polnischen Obdachlosen zu teilen, die in aller Seelenruhe die Pfandflaschen der zurückliegenden Nacht aufklauben und in IKEA-Tüten verstauen. Auf Höhe der Boxhagener Straße verfallen die beiden in großen Jubel, hat doch tatsächlich irgendwer eine halbvolle Flasche Wodka am Wegesrand stehen lassen. Sogleich nehmen die beiden einen tiefen Schluck aus der Pulle und grüßen mich freundlich, als ich sie überhole. Glück ist: etwas, was Ergebnis des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände ist. Und so hoffe ich, dass ich gleich im Zug die Meldung aus Hamburg vernehmen werde, dass das Spiel zwischen Altona 93 und dem FC St. Pauli II nach einer angekündigten Platzbegehung des Schiedsrichters trotz der sintflutartigen Regenfälle der letzten Tage nicht ausfallen wird. Glück ist: bekanntermaßen auch etwas, was jeder für sich selbst definiert.

Am Berliner Hauptbahnhof werden dann der Hoollege und meine Wenigkeit in ein echtes Gefühlschaos gestürzt. Zunächst erhalten wir eine positive Rückmeldung hinsichtlich der Austragung des Spiels. Ist ja schon mal nicht so schlecht, nicht gr(o)undlos in Richtung Hamburg aufbrechen zu müssen, doch dann ersetzt die Deutsche Bahn den eigentlich gebuchten ICE mehr oder weniger wortlos durch einen minderwertigeren IC und sorgt so dafür, dass wir uns in der Rubrik „gelungenster Start in den Tag“ hinter den polnischen Obdachlosen bestenfalls auf Rang 2 einsortieren können.

Mit nicht all zu viel Verspätung haben wir den Bahnhof Hamburg-Altona erreicht. Der Fußweg in Richtung Spielstätte geht mit weiterem Zuwachs in der Kategorie „Musikwissen“ einher, in der ich generell erheblichen Nachholbedarf aufweise. Das Stadion des AFC befindet sich nämlich in der Griegstraße, die mich auf die Fährte eines norwegischen Pianisten und Komponisten namens Edvard Hagerup Grieg führt. Ob die Straße nach ihm oder nach seiner Mutter Gesine benannt wurde, die einst als junges Mädchen zur musikalischen Ausbildung nach Altona geschickt wurde, ist mir jedoch nicht bekannt. Fakt ist: nachdem ich bereits im IC über die Tradition portugiesischer Klagelieder („Fado“) aufgeklärt worden bin, ist die Chance auf ein schnelles braunes Tortenstück bei „Trivial Pursuit“ exorbitant in die Höhe geschnellt.

Noch besser stehen die Chancen auf ein schnelles Bier, als wir in einem Spätverkauf unweit des Stadions einkehren. Die Stickerkultur um den Laden herum überzeugt vollends und auch die ersten eintrudelnden Gäste stehen dem in nichts nach. „Nee, waren nur Altonaken im Bus“, weiß ein Altona-Fan zu berichten und somit die Sorgen seines Kumpels zu lindern, der FC St. Pauli würde heute die Stimmungshoheit erobern können. Analog zu dem „Daltona“-Aufkleber entert dann eine vierköpfige Herrengruppe das Getränkefachgeschäft und der Größte erweist sich auch hier als der minderbemittelste, indem er mit einem alkoholfreien Hefeweizen aus dem Verkaufsraum zurückkehrt. Anders als bei den Daltons üblich, wird Averell jedoch nicht von Joe gemaßregelt, obwohl er für diesen Einkauf durchaus eins auf die Schnauze verdient gehabt hätte.

Im Anschluss begeben wir uns zu der nur noch einen Steinwurf entfernten Adolf-Jäger-Kampfbahn. Und somit ist es an der Zeit, ein Loblied auf ein Kleinod der deutschen Stadionlandschaft zu singen. Eingeweiht wurde dieses im Jahre 1908 und zählt somit zu den ältesten Fußballplätzen dieses Landes. Der Altonaer Fußball-Club von 1893 spielt hier an Ort und Stelle seit Eröffnung des Stadions Fußball. Benannt ist die Kampfbahn seit 1944 nach Sturmlegende Adolf Jäger, der von 1907 bis 1923 für Altona 93 auf Torejagd ging und in 18 Spielen für die deutsche Nationalmannschaft 11 Treffer erzielen konnte und immerhin stolze 10 Partien als Kapitän erleben durfte. Geadelt wurde er durch Trainer Otto Nerz, der ihn als „Genie“ und den „Schöpfer des modernen Kombinationsspiels“ attribuierte. Im Jahre 1944 zeigte Herr Jäger bei Bombenentschärfungsarbeiten am Hamburger Elbufer leider weniger Geschick als auf dem Fußballplatz und verstarb im Alter von 55 Jahren.

1958 wurde dann die 1.400 Zuschauer fassende Haupttribüne eingeweiht, der in den letzten 59 Jahren lediglich eine Sanierung widerfuhr, als die alten Holzbänke gegen Sitzschalen aus dem abgerissenen Hamburger Volksparkstadion ausgetauscht worden waren. Der Zuschauerrekord stammt aus dem Jahr 1953, als 27.000 Menschen ein Heimspiel gegen den Hamburger SV erleben wollten. Aus Sicherheitsgründen und aufgrund der Baufälligkeit der Tribünen sind mittlerweile nur noch 8.000 Plätze für Besucher freigegeben. Bei all der Historie treibt es einem schon die Tränen in die Augen, wenn man liest, dass Altona 93 seine Heimat in Bälde aufgeben wird. Lange kann es nicht mehr dauern, bis hier die Bagger anrücken, die Kampfbahn dem Erdboden gleichmachen, um Platz für – Mutmaßung meinerseits – Eigentumswohnungen für irgendwelche Yuppies zu schaffen, die ihr überflüssiges Geld dann in Hamburg-Ottensen gegen irgendwelche Sojascheiße und Craftbeer eintauschen können.

Im Jahre 2017 sticht die Adolf-Jäger-Kampfbahn neben ihrer Geschichte und den baulichen Gegebenheiten aber auch durch ihre Gegenwart aus dem Einheitsbrei hervor. Alleine mit der Beschreibung der Zusammensetzung des Publikums und durch die liebevollen Spitznamen der Tribünen würden sich ganze Bücher füllen lassen. Da gibt es die „Meckerecke“ neben der Haupttribüne, die von „Altonaken“ besucht werden, die es mitunter auch mit dem HSV halten. Da gibt es den legendären „Zeckenhügel“ hinter dem Tor, den man etwas wohlwollend als Naturtribüne beschreiben könnte und der durchaus auch heute von dem einen oder anderen Punk aus der Ottenser Bauwagenszene (die dann andersherum auch gerne mal „Hügelpunks“ genannt werden) bevölkert wird. Und da gibt es diejenigen, die sich unter dem Motto „St. Pauli, McDonald’s und die CDU“ vom kommerzialisierten FC St. Pauli abgewandt haben und auf Teilen der Gegengerade eine neue Heimat gefunden haben. Diese bunte Durchmischung wird auch heute schnell ersichtlich. Ein Antikapitalist nimmt sich einen Coca-Cola-Kasten zur Hilfe, um ein Banner mit einem roten Stern zwischen zwei Holzpfosten aufzuspannen. Ein türkischstämmiger Bartträger mittleren Alters erscheint in feinster Ballonseide zum Spiel. Menschen, die Devotionalien vom FC Schweinfurt 05, Fortuna Düsseldorf, Levadia Tallinn, A.E.K FC, Malmö FF und Randers FC am Körper tragen, sind zum Hoppen vorbeigekommen. Und der Rest liegt irgendwo zwischen der völlig albernen Veggie-Wurst vom Grill und der sehr sympathischen Hemdsärmeligkeit, hier knöcheltief durch Matsch waten zu müssen, um seine Plätze auf der Gegengerade einnehmen zu können, verortet.

Kurz bevor das Spiel eröffnet wird, lässt der Stadionsprecher noch verlauten, ihm sei ein Hund zugelaufen. Der Besitzer möge sich bitte melden und seinen Fiffi abholen, während die Zuschauer in der „Meckerecke“ eine Tapete zeigen, welches den abstiegsbedrohten AFC zum ersten Heimsieg treiben soll. Die Gäste aus St. Pauli haben außer ihren braun-weiß-roten Trikots nichts anderes im Ausrüstungskoffer, was nicht besonders clever ist, da man eigentlich auch außerhalb Hamburgs weiß, dass die Vereinsfarben Altonas eben schwarz, weiß und rot sind (übrigens von Jahr zu Jahr eines der schönsten Dresse Deutschlands, wie ich finde) und dass es so zu optischen Komplikationen kommen könnte. So kommen die Akteure des FCSP in den zweifelhaften Genuss, unter „Imperial March“ Klängen in orangenen Leibchen auf das Feld zu laufen. Viel peinlicher geht es dann wohl nicht.

Weniger peinlich ist allerdings der sportliche Start der Gäste in die Partie des 16. Spieltages der Regionalliga Nord. Nach handgestoppten 10 Sekunden zappelt der Ball nämlich bereits im Gehäuse des AFC. Der Stadionsprecher kann den Torschützen aufgrund des Leibchens nicht identifizieren, aber im Nachhinein wird aufgeklärt, dass Bräuning aus gut 18 Metern abgezogen hatte, während in der „Meckerecke“ das Motivationsplakat empor gereckt wurde.

Nur vier Minuten später erhöht Zehir auf 2:0. Das Tor war in etwa nach dem selben Muster gefallen – per Fernschuss aus zentraler Position aus ähnlicher Distanz, nachdem der erste Ball von der Verteidigung zwar abgewehrt, aber nicht weit genug vom eigenen Strafraum entfernt werden konnte. Für etwas Erheiterung sorgt beim konsternierten Heimpublikum ein Schäferhund, der den Platz entert und bellend die Jubeltraube der Spieler des FC St. Pauli vor der „Meckerecke“ aufzulösen vermag. Die Ottenser Bauwagenjungs auf dem „Zeckenhügel“ wissen ihr Missfallen über den Spielstand ebenfalls zum Ausdruck zu bringen, indem sie auch die „2“ auf der selbstgebauten Anzeigetafel kopfherum aufhängen. Scheiß St. Pauli!

Ein mobiler Bierverkäufer versorgt die frustrierten „Altonaken“ auf der Gegengeraden mit Bier. Interessant ist seine kreative Konstruktion, die ein wenig an „Edward mit den Scherenhänden“ erinnert und aus einem mit Gaffa-Tape am rechten Unterarm befestigten Flaschenöffner besteht. Ad absurdum wird die Konstruktion jedoch dadurch geführt, dass der gute Mann lediglich Bier aus Dosen verkauft. Auf dem Feld bringen die St. Paulianer widerliche Profiattitüden auf das Geläuf, gleichermaßen aber auch eine technische Finesse und eine hohe Dynamik, die auf diesen bescheidenen Platzverhältnissen zu einer deutlichen Feldüberlegenheit führen. Bis zum Halbzeitpfiff ist Altona darauf bedacht, hier nicht höher in Rückstand zu geraten und die wenigen Akzente nach vorne, die Altonas bester Mann Jakob Sachs setzen kann, verpuffen wirkungslos.

In der Halbzeitpause schwingt sich der Hoollege zum Marketingstrategen des Monats auf, indem er vor dem kleinen Fanartikelstand aktiv auf einen kleinen Jungen zugeht, der gerade im Begriff ist, mit seinen Eltern durch das Sortiment zu stöbern. „Such Dir ruhig das aus, was dir am Besten gefällt – der Preis spielt keine Rolle!“. Man kann die in der Luft liegende Dankbarkeit der Eltern geradezu mit Händen greifen und schon wird der zweite Spielabschnitt von Schiedsrichter Murat Yilmaz freigegeben.

In diesem ist Altona mittels Kampf und Leidenschaft sehr bemüht, sich in das Spiel zurück zu arbeiten. Mehr als die eine oder andere Ecke springt jedoch zunächst nicht dabei heraus, doch immerhin gelingt es dank des Ärmehochkrempelns, dem etwas etwas ermatteten Publikum wieder Leben einzuhauchen.

Dies bekommt dann als erster St. Paulis Keeper Rakocevic zu spüren, der nach gut einer Stunde bereits das dritte Mal verletzt auf dem Boden liegt und sich behandeln lässt. Die Heimzuschauer bezichtigen ihn der Schauspielerei und pfeifen ihn wegen des vermuteten Zeitspiels nach allen Regeln der Kunst aus, woraufhin er, kurz vor der vierten Verletzungspause, den Ball vehement in das Publikum drischt. Nun hat er auch den letzten Fan gegen sich aufgebracht und wird bis zum Abpfiff bei jedem noch so kurzem Ballkontakt gnadenlos ausgebuht.

Nach 71 Minuten ist sportlich die Entscheidung gefallen, da der FCSP seinen ersten guten Angriff der zweiten Hälfte erfolgreich zum Abschluss bringen kann. Sobotta lässt sich feiern und das Spiel droht nun 20 Minuten lang ereignislos dem Ende entgegenzutrudeln. Nach 75 Minuten wird Fynn-Johannes Rocktäschel gegen Andranik-Khachaturi Ghubasaryan ausgetauscht und muss sein durchgeschwitztes Leibchen an den neu in die Partie gekommenen Armenier weiterreichen. Somit bleiben auf Seiten der braun-weißen neben Florian-Horst, Theodor-Werner und Kyoung-Rok immerhin noch vier Doppelnamen auf dem Rasen, während Altona nur mit Tjark-Alfons und Jan-Ove dagegenhalten kann.

Dennoch ist das Dagegenhalten letztlich von Erfolg gekrönt. Nachdem St. Paulis Verteidiger Carstens in der 75. Minute ein Eigentor fabriziert hat, verpasst Hinze in der 77. Minute eine gute Hereingabe von Buzhala nur äußerst knapp per Kopf. Es folgt der erste Sturmlauf Altonas und eine kurze Phase, in der man den Glauben gewinnen kann, diese Partie sei noch zu drehen. Doch alle Hoffnungen werden durch zwei starke Angriffe über die linke Seite, die Choi (79.) und Pfeiffer (89.) mustergültig verwerten können, jäh beendet.

Und so kann Altonas Trainer Berkan Algan am Ende des Tages selbstredend nicht zufrieden sein, da sich der Abstieg in die Oberliga Hamburg doch abzuzeichnen scheint. Algan selbst blickt auf eine bewegte Fußballervergangenheit zurück, die hier als kleine Randanekdote natürlich nicht fehlen darf. Wenn der Hoollege schon einmal einen Praktikanten in seinen feuchten Keller schickt, um im Archiv nach legendären Toren nach langen Einwürfen bei Vollmond (Auftrag kam von Jörg Dahlmann) zu suchen und dann auf so einen Zufallstreffer stößt, dann wird dem natürlich Platz eingeräumt. Von Juli 2001 bis Juni 2002 stand Algan beim FC Haka Valkeakoski unter Vertrag und lief laut einiger Statistikportale in diesem Zeitraum genau zwei Mal im schwarz-weißen Vereinsdress auf: Am 20.09.2001 und am 27.09.2001 für insgesamt 50 Minuten, die er sein Leben lang nicht vergessen wird, da diese Minuten immerhin im Rahmen des UEFA-Cups gegen niemand geringeren als den 1.FC Union Berlin abgerissen worden waren.

Doch FUDU wäre nicht FUDU, wenn diese Halbwahrheit nun ungeprüft in die Welt hinausposaunt würde, sondern arbeitet stattdessen akribisch und mit journalistischem Anspruch und bittet den verrückten Tischfinnen daher, weiter in die Materie einzusteigen. Hat Algan wirklich nur zwei Spiele bestritten – oder ist er auch in der finnischen Liga zum Einsatz gekommen? „Ich habe diese Name nie gehört“ ist die erste Reaktion seinerseits, doch am Ende stehen folgende unerschütterliche Fakten auf dem Zettel: fünf Einsätze, ein Mal in der Startelf, vier Mal eingewechselt. Mit einem: „Alle 7 andere Ausländern von Haka 2001 kann ich erinnern – stark Mannschaft damals“ wird noch beherzt nachgetreten. Algan hat in Finnland nichts gerissen.

Fetti kehrt dann zum Abschluss des Ausflugs im „Schweinske“ in Nähe des Bahnhofs Altona ein, schlägt sich den Bauch voll und entschließt sich – auch aus Freude darüber, dass der im Poststadion angekündigte Angriff des VfB Lübeck auf St. Pauli und alle Hopper ausgeblieben ist – wie ein Schwein zu saufen und sich noch den einen oder anderen Gin-Cocktail zu gönnen. Bei einem gepflegten Gin Sin und Gin Smash wird das Hamburger Derby ausgewertet, ehe im Edeka zu Rihanna-Klängen das Wegbier für die Rückfahrt in den Einkaufskorb wandert. Schön breit like a Diamond geht die Fahrt im ICE leicht von der Hand und noch vor 20.00 Uhr kann Berliner Boden betreten werden. Die polnischen Obdachlosen treffen wir leider nicht ein zweites Mal an, lehnen uns aber weit aus dem Fenster und halten fest, dass wir uns in der Kategorie „bester Abschluss des Tages“ uneinholbar vorne sehen. /hvg