357 357 FUDUTOURS International 19.04.24 03:01:20

19.04.2018 VSG Altglienicke – BSG Chemie Leipzig 0:0 (0:0) / Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark / 811 Zs.

Häufiger werde ich gefragt, ob ich in einem „Sozialen Brennpunkt“ arbeiten und was genau einen solchen denn ausmachen würde. Um in Zukunft auf eine Antwort verzichten und lediglich etwas Bildmaterial zur Verfügung stellen zu können, plane ich, einen der nächsten dienstlichen „Familiennachmittage“ filmisch zu begleiten. Dann dürften keine Fragen offen bleiben. Heute muss ich jedenfalls einen Vater der Veranstaltung verweisen, weil er mit seinem Gehstock auf den neuen Freund seiner größten Tochter losgehen wollte. Es ist 18.00 Uhr und ich atme erleichtert auf, als auch dieser Arbeitstag überstanden ist. Was könnte man jetzt nur tun, um schleunigst auf andere Gedanken zu kommen?

Gedankenverloren öffne ich die „Livescore“-App meines Handys. In der Regionalliga Nordost steht unerwartet eine Partie auf dem Programm. Plötzlich fällt mir ein, gelesen zu haben, dass das heutige Spiel um einen Tag verlegt werden musste, da gestern an selbigem Ort das Berliner Pokalspiel zwischen Tennis Borussia und dem BFC Dynamo ausgetragen wurde. Die Sonne scheint, das Thermometer zeigt 23 Grad und der Gegner der Volkssportgemeinschaft Altglienicke ist niemand geringeres als die BSG Chemie Leipzig. Na, dann mal den Gehstock geschwungen und nichts wie ab zur Eberswalder Straße!

Den aus Unionersicht verhassten, aber aus Hoppersicht recht attraktiven Jahn-Sportpark mit seinen opulenten osteuropäischen Flutlichtmasten erreiche ich gerade noch rechtzeitig, um den singenden Stadionsprecher Ronny Rothé miterleben zu dürfen/müssen. Man kann dieses Erlebnis nur schwerlich in eine Schublade einsortieren, da man doch etwas Zeit benötigt, um für sich zu eruieren, wie man das denn jetzt nun finden soll, dass ein alter Mann Schlager singend auf der Laufbahn spazieren geht. Irgendwie pendelt die Nadel zwischen lustig, kultig, peinlich und unnötig hin und her, während Rothé seinem Bewusstseinsstrom folgend singend mitteilt, wie viele Minuten noch bis zum Anpfiff verbleiben und dass er nun den Platz betreten würde. Insbesondere letzteres ist für Menschen, die über Augenlicht verfügen, natürlich eine besonders wichtige Botschaft und so hofft man inständig, dass dem guten Mann in den kommenden Minuten nicht auch noch der Einkaufszettel für den Wochenendeinkauf durch den Kopf gehen möge.

Nachdem die trashige Vereinshymne der Volkssportgemeinschaft noch gerade eben so mit Hängen und Würgen überstanden ist und der Frank Sinatra für Arme den Innenraum verlassen hat, eröffnet Schiedsrichter Schipke die Partie. Ich werfe einen Blick in das weite Rund. Gut 400 „Chemiker“ haben sich unter der Woche auf den Weg nach Berlin begeben und auch die Haupttribüne ist mit ebenso vielen Menschen recht ansehnlich gefüllt, wobei eine nicht unerhebliche Zahl Fußballtouristen darunter befindlich sein dürfte. Ich lasse mir mein wohlverdientes Feierabendbier schmecken. Es ist ein lauer Frühlingsabend, im Hintergrund singt Chemie und ich sacke unbekümmert in meine grüne Sitzschale – Football is the only Love!

Obwohl sich beide Mannschaften in den Niederungen der Tabelle bewegen, entsteht ein recht lebendiges und unterhaltsames Spiel mit schnellen Abschlüssen aus allen Lagen. Zum Problem wird dies in den Anfangsminuten vor allen Dingen für Chemies Keeper Lattendresse, der in Ermangelung von Balljungen bereits einige Kilometer abgespult hat, um vorbeigeschossene Bälle aus den weitläufigen Kurvenbereichen zurückzuholen. Bei gleißendem Sonnenlicht und des daraus resultierenden Einsatzes meiner Sonnenbrille habe ich hingegen in erster Linie damit zu kämpfen, die dunkelblauen Altglienicker von den dunkelgrünen „Chemikern“ optisch zu unterscheiden.

In der 6. Spielminute trifft Alexander Bury, der fleischgewordene Hoffnungsträger im Abstiegskampf aus Leipzig-Leutzsch, lediglich den Pfosten. Auch dies kann den melodiösen Dauersingsang der „Diablos“ nicht nachhaltig irritieren. Kein Spieler der Welt kann das. Keine Aktion der Welt kann das. Einzig und allein die „Diablos“ entscheiden, wann sie aufhören zu singen und das Tempo anziehen. Und so verstreichen weitere zehn Minuten, ehe sie mit einem durch Paukenschläge dreigeteilten „Vorwärts!“ – „Chemie!“ – „Ultras!“ den Prenzlauer Berg im Mark erschüttern. Wirklich absolut großartig!

Nach einigen weiteren guten Abschlussgelegenheiten auf beiden Seiten hat man das Gefühl, dass sich die Partie nach 25 Minuten so langsam beruhigt. Doch plötzlich taucht Bundesliga-Legende Boubacar in Diensten der VSG Altglienicke völlig freistehend im Strafraum auf und setzt einen Kopfball nur knapp neben das Gehäuse (28.) – Sanogoal! Den letzten Höhepunkt des ersten Spielabschnitts – mit weiterhin überraschend vielen offensiven Impulsen beider Clubs – setzt Alexander Bury, der im Anschluss eines sehenswerten Solos nach 36 Minuten zum zweiten Mal am Pfosten scheitert.

Für Freunde der gepflegten Sportwette, die keine moralischen Bedenken hegen, wenn sie Insidertipps erhalten, könnte folgende Information womöglich gewinnbringend sein: Im Tribünenbauch treffe ich während der Halbzeitpause auf Petrik Sander, der offenbar seine Kreise in der Regionalliga Nordost dreht und fleißig Partien beobachtet. Da man munkelt, dass Altglienickes Trainer Jagatic nicht besonders fest im Sattel sitzt, kann man hier vielleicht den einen oder anderen Euro setzen. Jede Wette, dass sich Sander demnächst Trainer der VSG Altglienicke nennen wird.

Auf dem beanspruchten Geläuf des Jahn-Sportparks dreht derweil Ronny Rothé singend seine Runden. Den Versuch, die Wörter „Feld“ und „fällt“ zu reimen, darf man getrost als mutig bezeichnen – und gleichzeitig kann man dem armen, alten Mann ja nur Recht geben. Wäre wirklich schön, wenn hier bald das „goldene Tor“ fallen würde, wenn die Mannschaften zurück auf das Feld kommen.

Die 23 Grad sind inzwischen hinter dem Tribünendach verschwunden. Abendkühle setzt ein, während Alexander Bury seinen Pfosten-Hattrick komplettiert (48.) und im Anschluss wutentbrannt auf selbigen eintritt. Deppertes Oarschlochstangerl. Nach einer gespielten Stunde wirkt die BSG griffiger und gewillter als die VSG, hier etwas ins Risiko zu gehen, um drei Punkte einfahren zu können. Nach 68 Minuten verlässt Sanogo das Feld, was die französischsprachige Hoppergruppe hinter mir zu lautstarken „Boubacar, Boubacar, Boubacar“-Sprechchören hinreißt. Soviele Emotionen auf einen Schlag bleiben im Jahn-Sportpark selbstredend nicht ohne süffisanten Kommentar und so lässt es sich ein Senior nicht nehmen, die Sachlage augenrollend zusammenzufassen: „Dit passiert, wennde Franzosen zwee Bier jibst!“.

Die offizielle Zuschauerzahl wird durchgegeben und von den Anwesenden frenetisch bejubelt. Feiertag für den Schatzmeister! Pierre „Kanzler“ Merkel verzieht für die BSG freistehend aus elf Metern, auch Ludwig schlenzt den Ball am langen Eck vorbei und VSG-Coach Jagatic schlägt angesichts des Durcheinanders in seiner Defensive die Hände über dem Kopf zusammen. So langsam muss man den guten und mutigen Auftritt der „Chemiker“ aufgrund der mangelhaften Qualität der Abschlussversuche dann doch etwas relativieren. Mit dieser Chancenverwertung ist es wohl leider ausgeschlossen, die Liga zu halten…

Alexander Bury wird in der 90. Minute ausgewechselt und tritt vollkommen frustriert gegen eine Pylone, die weit durch die Gegend fliegt und zu jedermanns Überraschung nicht am Pfosten landet. Oder wie der Senior, jederzeit Herr der Lage, auch dieses Mal treffend pointieren kann: „Na, wenigstens dit Ding triffta!“.

30 Sekunden nachdem Schiedsrichter Schipke die Partie abgepfiffen hat, verdunkelt sich der Jahn-Sportpark. Bei eingeschalteter Notbeleuchtung verlasse ich die Spielstätte. Im Hintergrund singt Chemie im Halbdunkel und so lange hier niemand die Lampen gänzlich löscht, werden die „Diablos“ damit wohl auch nicht aufhören.

Mein Magen grummelt. Ich beehre einen türkischen Imbiss, bestelle ein Berliner Pilsner und einen Sucuk-Döner mit Knoblauchsoße. Als ich die allseits beliebte „Salat komplett?“-Frage verneine und die Zwiebeln ausschließe, reagiert der Systemgastronom geschickt: „Aaaaah, da geht heute noch was!“. Knoblauchwurst mit Knoblauchsoße. Ja, genau, da geht noch was. Nennen wir es einfach „orientalische Logik“ oder berufen uns darauf, dass der gute Mann schlicht und ergreifend einfach nicht wissen kann, worauf es wirklich ankommt. Football. Football is the only Love! /hvg