271 271 FUDUTOURS International 18.04.24 08:56:23

08.06.2019 Ecuador U20 – USA U20 2:1 (2:1) / Stadion Miejski w Gdyni / 6.389 Zs.

Drei Monate harter Arbeit liegen hinter mir. Wie so oft in den vergangenen Jahren hatte ich erneut das zweifelhafte Vergnügen, den Betrieb in einer kräftezehrenden One-Man-Show aufrechtzuerhalten. Seit Anfang der Woche hat man mir nun endlich wieder eine Kollegin an die Seite gestellt, die dieses Mal hoffentlich nicht all zu schnell schwanger oder ausbrennen wird.

„Wir müssen uns endlich einmal belohnen!“, philosophiert Fetti, der bekanntermaßen nebenberuflich Interviewphrasen für Fußballfunktionäre schreibt, direkt nach der Einstellung der neuen Kollegin vor sich her und verweist auf den anstehenden Pfingstmontag. Da Fetti auch über einen Lehrstuhl an der Fernuniversität Rimini im Fachgebiet „Life-Coaching“ verfügt, macht er mich darüber hinaus darauf aufmerksam, dass mir für jeden Monat, den ich alleine gearbeitet habe, ein zusätzlicher Tag Urlaub zusteht. Interessant, interessant.

Es locken sechs freie Tage am Stück. Frühsommer. Der neuen Kollegin schnell erklärt, wo der Hase langläuft. Urlaub eingereicht. Sie schafft das schon. Und so begab es sich also im Jahre 2019, dass ich mich kurz darauf durch Spielpläne klickte und Landkarten wälzte. Auf die verheißungsvolle Kombination aus Sonne, Strand, Meer, Sightseeing und Fußball stieß ich letztlich in der Rzeczpospolita Polska. U20-Weltmeisterschaft in Gdynia, einer Hafenstadt in der Danziger Bucht mit feinstem Sandstrand, dazu die wunderschöne Stadt Gdańsk in unmittelbarer Nachbarschaft, die auch noch für einen Appel und ’n Ei von Berlin aus angeflogen wird. Zugeschlagen. Ja, so einfach war das anno Dunnemals mit der Work-Life-Balance, als es noch so etwas wie ein Life gab. Aus heutiger Sicht (12/20) klingt dieses Planungs- und Buchungsprocedere ja beinahe wie Science-Fiction, nur rückwärts. Damals war alles irgendwie futuristisch. Könnte glatt ein neues Genre werden.

Nun befinden wir uns gedanklich also wieder im Juni 2019. Da hat man sich noch über ganz andere Sachen mokiert. Zum Beispiel darüber, wer zur Hölle auf die Idee kommt, einen Flug von Berlin-Tegel zum „Port lotniczy Gdańsk im. Lecha Wałęsy“ samstags um 6.00 Uhr morgens anzusetzen? Wenn man sich bereits um 3.30 Uhr zur S-Bahn schleppen muss, um pünktlich am Gate zu erscheinen, dann kann man zwischen Freitagabendfeierabend und Samstagmorgenabflug auch getrost auf einen Aufenthalt im Bett verzichten, denkt sich Fetti und überzeugt auch mich von diesem Plan. Mit kleinen Augen habe ich den Westberliner Superflughafen um kurz vor fünf Uhr erreicht. Größer werden die Augen nur kurz, als die ersten blondierten Damen mit künstlichen Fingernägeln, Schlauchbootlippen und Dekolletés bis Schönefeld in das Flugzeug staksen und Duftwolken nach sich ziehen, die hinsichtlich der Gefährdung der Flugsicherheit durch terroristische Angriffe mindestens im Graubereich zu verorten sind. Scheint heute irgendwas mit plastischer Chirurgie in der Stadt los zu sein, denke ich mir, schließe die Augen und lande bereits um 7.20 Uhr doch einigermaßen ermüdet in Polskas sechstgrößter Stadt. So kurze Flüge sollten verboten werden, wenn man nicht einmal vernünftig ausschlafen kann.

Gute Ausgangssituation, um direkt in die Falle zu tappen. Als waschechter Cateringverlierer lasse ich mich im erstbesten Café der Haupthalle nieder und ordere im Sinne einer lebenserhaltenden Sofortmaßnahme einen Kaffee. Macht 23 Zł, bitte. Ich zahle bereitwillig und kaum sind erste Hirnareale nach den ersten Schlücken wieder wachgeküsst, wird mir plötzlich klar, dass ich Bartek dem Barista soeben über 5 € zum Fraß vorgeworfen habe. Kurwa mać!

Dafür könnte man nun für gerade einmal 6,50 Zł die 25-minütige Zugfahrt direkt vom Flughafen nach Gdynia antreten – wenn der Automat doch bloß die EC-Karte oder einen Geldschein anerkennen würde. Tut er aber nicht und so fährt mir der Zug genau vor der Nase weg, während ich das Kleingeld der vergangenen Abstecher nach Polska aus der Tasche krame, um passend zahlen zu können. Die nächsten Verbindungen werden glücklicherweise auch nicht all zu lange auf sich warten lassen, auch wenn die große digitale Abfahrtstafel doch mittelschwere Verwirrung auslöst. Laut dieser werden hier demnächst nämlich sowohl auf Gleis 1 als auch auf Gleis 2 Züge mit dem Ziel „Gdynia Głowny“ einrollen. Verwunderlich, da laut analoger Ausschilderung die Züge auf Gleis 1 allesamt ausschließlich in Richtung „Gdańsk Głowny“ und nur auf Gleis 2 in Richtung Gdynia fahren sollen. Menschen gibt es leider auch nicht all zu viele, die man fragen könnte und so entscheidet sich der progressive Fetti, sein Handy zu zücken und zu recherchieren. „Wir können auf Gleis 1 bleiben, der fährt wirklich nach Gdynia“, verkündet er triumphal und ich bin trotz des einen Kaffees zu schwach, dagegen zu argumentieren. „Aber ist doch Quatsch, steht doch eindeutig hier, dass der von hier in Richtung Danzig Hauptbahnhof fährt und das ist nun einmal die falsche Richtung“, hätte ich vielleicht noch hervorbringen sollen. Aber was soll’s, das Smartphone, das hat ja eh immer Recht. Da kann gesunder Menschenverstand nicht gegen anstinken.

So kommt es, wie es kommen muss und ich lasse mich breitschlagen, in den gefühlt falschen Zug einzusteigen. Dieser weist aber immerhin auch über dem Lokführerstand das richtige Fahrtziel aus. Ich werde also in jedem Falle an meinem Reiseziel ankommen und ohne jeglichen Zeitstress bin ich nach wie vor gespannt, wo genau wohl der Haken an dieser Verbindung liegen mag. Schnell hat sich nach der Abfahrt herausgestellt, dass der Zug natürlich zunächst in die falsche Richtung fährt und einen riesigen Bogen durch die Innenstadt von Gdańsk dreht, ehe er in Wrzeszcz (den Knoten in Euren Köpfen würde ich beim Lesen nur all zu gerne sehen!) endlich die Fahrtrichtung wechselt und gemütlich wieder hinaus in Richtung Westen tuckert. Nach etwas mehr als 40 Minuten Fahrtzeit habe ich dann um 9.15 Uhr „Gdynia Głowny“ erreicht und hatte somit genau genommen doppelt so viel Fahrspaß für den selben Preis. Ach, Fetti ist schon ein alter Pfennigfuchser!

Der Himmel über Gdynia präsentiert sich nahezu wolkenlos und die Sonne lässt die Temperaturen bereits in den frühen Morgenstunden auf angenehme 25°C klettern. Mein Zimmer in der „Willa Rybitwa“ ist noch lange nicht bezugsfertig und so führt mich mein erster Weg naturgemäß direkt ans Meer. Nach einer kurzen Erkundung des Yachthafens und des Beton-Boulevards entlang der Küste (Bulwar Nadmorski im. Feliksa Nowowiejskiego, benannt nach einem polnischen Komponisten, der einst in Berlin-Moabit lebte und arbeitete und dessen Musik ich am Ende der Reise in Form eines Glockenspiels vom Danziger Rathausturm vernehmen werde), kehre ich auf der Terrasse der Strandbar „F. Minga“ ein. Mit einem eisgekühlten Piwo für 12 Zł (dem Touristen von Welt, der sich nicht schnell genug wehrt, wird hier „Grolsch“ eingeschenkt) lasse ich es mir gut gehen, während vis-à-vis am Stadtstrand von Gdynia (Plaża Gdynia Śródmieście) beste sportliche Unterhaltung geboten wird. Fetti war ja schon immer ein großer Fan von Frauen-Beachvolleyball und so lässt er es sich auch heute nicht nehmen, die (sportlichen Qualitäten der) jungen Damen zu bewerten, während die Sonne auf seinen mittlerweile freigelegten Speckbauch herunter scheint. Zum Mittag darf man sich ruhig noch ein zweites Bier gönnen, wobei dieses Mal die holländische Touristenfalle schon etwas geschickter umschifft wird und man mit einer deutlichen „Tyskie“-Bestellung einheimisches Bier einfordert, den Genussfaktor erhöht und gleichzeitig 3 Zł spart.

Die Suche nach meiner Unterkunft wird im Anschluss zu einem echten Abenteuer. Mit dem schweren Reisegepäck auf dem Rücken, den zwei Bier im Schädel und der nach wie vor kontinuierlichen Sonneneinstrahlung kommt wenig Freude auf, den dürftigen Hinweisen des kleinen Handydisplays nachzugehen. Die Straßen sind leider nur schlecht oder gar nicht ausgeschildert, die gesuchten Straßen unauffindbar und die Menschen, die ich nach Hilfe frage, sprechen entweder kein Englisch oder sind nicht von hier. Ganz zu schweigen davon, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie man die Straßennamen wohl aussprechen mag (vgl. → Wrzeszcz), was die Kommunikation zusätzlich erschwert. Irgendwann begegne ich einer hilfsbereiten Dame, die ihre beiden Kinder kurz unbeaufsichtigt über die Straßen toben lässt, ihr modernes Telefon zückt und nach kurzer Recherche auf den Hügel weist. Your place to stay is up the hill! Na, da hätte ich hier unten ja lange im Kreis herumrennen können.

Etwas beschwerlich ist der Aufstieg auf die Anhöhe namens „Kamienna Góra“ schon, den ich über diverse verstecke Treppenanlagen im Zickzackkurs nach und nach meistern muss. Auf den Zwischenebenen tauchen dann auch die Straßen auf, in die man laut „googlemaps“ angeblich ach so einfach hätte einbiegen können. Irgendwann stehe ich inmitten des gleichnamigen Stadtviertels, welches „als das luxuriöseste Viertel der Stadt und als eines der angesehensten in Polen“ gilt, so man „Wikipedia Polska“ Glauben schenken darf. Mitten in diesem Villenviertel, in dem die Reichen und Schönen wohnen, tut sich dann hinter den sieben Bergen auch endlich die unverputzte „Willa Rybitwa“ mit Baustelle im Garten auf, in der mich die Gastgeberin freundlich in Empfang nimmt, mir mein schönes Zimmer, die gut ausgerüstete Gemeinschaftsküche und das Gemeinschaftsbad mit fragwürdigem Farbkonzept zeigt. Für den Rückweg in die Innenstadt hat sie einen guten Tipp parat und macht mich – nachdem sie sich ausgiebig über mich lustig gemacht hat, dass ich mein Gepäck den Hügel hinaufgeschleppt habe – darauf aufmerksam, dass man den beschwerlichen Weg bergauf bzw. hinunter ins Tal auch einfach mit einer Seilbahn (Kolej linowo-terenowa) zurücklegen könnte.

Die Seilbahn liegt an einer Aussichtsplattform, von der aus man eine wunderbare Panoramasicht auf Stadt, Strand und Meer genießt. Fertiggestellt wurde das praktische Transportmittel anno 2015 und setzt im Design auf die „Gdynia-Moderne“. Der schmissige Flyer spricht von der „Einfachheit der Karosserie“, den „Minimalismus der Details“ und verweist auf die „Verwendung wertvoller Materialien“, was übersetzt wohl so viel heißt wie: Sieht nach nüscht aus, aber hält ewig. In der nachhaltig produzierten Gondel finden jedenfalls bis zu zwölf Personen Platz und ein alter Mann freut sich hier diebisch über jeden Fahrgast, den er auf der zweiminütigen und kostenlosen Fahrt begrüßen kann.

Kaum bin ich unten angekommen, schlägt das Wetter um. Statt strahlendem Sonnenschein dominieren von einer Sekunde auf die andere dunkle Wolken das Bild, ein unangenehmer Wind zieht auf und keine fünf Minuten später setzt ein Starkregen ein, den man in dieser Form auch noch nicht all zu oft erlebt hat. Ich breche das gerade erst begonnene Sightseeing ab und flüchte in eine Gaststätte unweit des Bahnhofs. In dem Zufallstreffer des Vertrauens gibt es dann sogleich maritimes Ambiente zu bestaunen, traditionelle polnische Küche mit unaussprechlichen Namen [ohne jede Hoffnung auf Übersetzung] auf der Speisekarte und später Abzüge in der B-Note für langweilige Tiefkühlwedges, die man hier als Bratkartoffeln verkauft. 90 Minuten später hat es aufgehört zu regnen und ich bin für ein Bier, ein „Kotlety po parysku“ (Glückstreffer!) und einen Espresso inklusive Trinkgeld knapp 40 Zł losgeworden.

Für Sightseeing ist nun nicht mehr genügend Zeit auf der Uhr, sodass ich mich entschließe, direkt in Richtung Stadion aufzubrechen. Das „Stadion Miejski w Gdyni“, welches teilweise auch als „Stadion GOSiR“ geführt wird, ist von 2009 bis 2011 umgebaut worden und sieht mittlerweile aus, wie der feuchte Traum eines jeden FIFA-Funktionärs. Komplett überdacht, keine Stehplätze, 15.139 bunte Sitzschalen, familienfreundlich gestaltet und mit hochmodernen sanitären Anlagen ausgestattet. Aus Hoppersicht also etwas fad, wenigstens aber scheint die infrastrukturelle Anbindung zu stimmen und so wird die Fahrt vom Hauptbahnhof zur Station „Stadion“ gerade einmal sieben Minuten in Anspruch nehmen. Darüber hinaus gilt das Ende Mai erworbene Online-Ticket für das Spiel W43-W40 (für ohnehin schon faire 20 Zł) zusätzlich auch noch als Fahrschein – und schon wieder hat der Pfennigfuchser 3,20 Zł gespart.

Im Zug sitzen bereits erste ecuadorianische Schlachtenbummler und ich freue mich diebisch, dass ich neben den vielen gelben Farbtupfern auch die Trikots des Barcelona SC und des CS Emelec aus Guayaquil erkenne. Wohl dem, der schon einmal das „Clásico del Astillero“ miterleben durfte. Noch immer feiere ich diesen glücklichen Umstand, als ich im Rahmen eines Familienurlaubs in Madrid anno 2014 Groundfotos vom „Estadio Vicente Calderón“ schießen wollte und plötzlich von überall herkommend bunt gewandete, singende, tanzende und musizierende Südamerikaner die Straßen fluteten. Ich schwöre, dass ich von der Ansetzung dieses Spiels keinen blassen Schimmer hatte – es muss eine schicksalhafte Fügung gewesen sein, die mich mit der nur teilweise fußballbegeisterten Familie im Schlepp am richtigen Tag zur richtigen Zeit hinaus an das Ufer des Manzanares zog. Ich glaube, immerhin 3/5 hatten einen ganz wunderbaren Tag. Aber das ist eine andere Geschichte.

Direkt vom Bahnsteig hat man besten Blick auf das Stadion und auf den Kunstrasen-Nebenplatz der Arena, auf dem gerade polnische Nachwuchsteams dem Ball hinterherjagen. Doch noch bevor man kurz inne halten und hinunterschauen kann, sind bereits erste übereifrige Volunteers aufgezogen und bieten ihre Hilfe an. Ob ich den Weg zum Stadion kenne? Joa, Treppe runter und dann links das große Ding mit Flutlicht, nehme ich an? Auch auf den verbleibenden 150 Metern stehen alle 10 Meter irgendwelche Neonwesten, werfen Blicke auf meine Karte und dirigieren mich in den richtigen Block. Hier hat man keine Chance, sich zu verlaufen.

Leider ist die französische U20-Nationalmannschaft um Moussa Diaby, Dan-Axel Zagadou, Evan N’Dicka und Michaël Cuisance vor vier Tagen an den USA gescheitert. Schade. Die von Bernard Diomède trainierte Mannschaft hätte ich gerne gesehen, aber so muss ich mich eben mit den Vereinigten Staaten begnügen, die ich sowohl als Reiseland als auch als Fußballnation in etwa so interessant finde wie einen Beipackzettel. Aber so ist das eben mit Eintrittskarten, die man sich im Voraus für ein Viertel- und Halbfinale kauft – muss man eben so nehmen, wie es kommt.

Wenigstens aber gibt es auch in der U20-Nationalmannschaft der USA einige wenige Prominente zu bestaunen. Wenn es hier in einer knappen Stunde losgeht, wird auf dem grünen Rasen mit Timothy Weah der Sohn der Stürmerlegende George zu beobachten sein und in der Innenverteidigung ist Bayerns Nachwuchshoffnung Chris Richards aufgeboten. Noch spektakulärer geht es auf der Bank der Amerikaner zu, hat hier doch niemand geringeres als Tab Ramos das Sagen. Da hat unsere Generation natürlich sofort das „Panini“-Bild von 1990 vor Augen oder aber diese eine Szene der WM 1994, als Brasiliens Raubein Leonardo mit gezieltem Ellenbogenschlag den Tab geschlossen hat.

Auf der anderen Seite hat sich Ecuador als Gruppendritter im Achtelfinale überraschend gegen das bis dato ungeschlagene Uruguay durchsetzen können und noch bevor ich tiefer in die Materie einsteigen kann, werde ich unsanft beim Fotografieren der Spielstätte gestört. Es sind noch immer 40 Minuten bis zum Anpfiff, das Stadion ist zwar komplett leer, aber dennoch gibt es keinen Grund für den polnischen Familienvater, auf SEINE Sitzschale zu verzichten und so fuchtelt er mir aufgeregt mit seiner Platzkarte vor der Nase herum. Junge, da kann man sich über Kartoffeln ärgern, wie man will – woanders sind die Menschen auch nicht immer klüger, denke ich mir und trete den Rückzug an. Ich fühle mich genötigt, mir ein Stadionbier für 9 Zł zu kaufen und das bunte Treiben auf dem Stadionvorplatz zu beobachten. Nach und nach strömen Familien mit Kindern, als Fußballfans verkleidete und geschminktes Eventpublikum in die Spielstätte. Es ist das erwartete FIFA-Fanfest-Publikum, das normalerweise wohl eher an den TV-Bildschirmen als bei „Arka“ mitfiebert und heute das erste Mal echte Stadionluft schnuppern will. Nachvollziehbar, dass man solchen Leuten erklären muss, wie man eine Treppe vom Bahnhof nach unten läuft und dass das „Gate I20 next to I21“ liegt, so wie eben bei mir geschehen.

Das Bier ist mittlerweile geleert, die Mannschaften stehen schon am Spielfeldrand bereit und selbst auf der Toilette verpasst man keine Sekunde des durchsynchronisierten FIFA-Spektakels, werden doch sämtliche Kniffe der Stadionregie über die Lautsprecher bis ans Pissoir übertragen. Ein eingespielter Herzschlag in epischer Schwingung soll dann wohl Spannung suggerieren und ich eile zurück auf die noch immer einigermaßen leere Hintertortribüne. Vor irgendeiner der vielen leeren Sitzschalen verharre ich, um den Hymnen der beiden Nationen zu lauschen und schon eröffnet Schiedsrichter Benoît Bastien die Partie.

Der Außenseiter aus Ecuador (seit dieses zeitlos schöne Stück Musikgeschichte neulich beim Akademisk Boldklub im Vorprogramm lief, kann ich mich dieser Nation nicht mehr entziehen!) startet forsch und hochmotiviert in die Begegnung. Nach sieben Minuten klärt Sergio Quintero einen vollkommen belanglosen Ball im Niemandsland des Mittelfelds derart resolut, dass er beinahe eine junge Dame in den vorderen Reihen der Haupttribüne erschießt. Hätte die plastische Chirurgie in Gdańsk sicher richten können.

Eine Viertelstunde lang toben sich die Ecuadorianer nach allen Regeln der wilden Kunst aus. Nur mit viel Mühe erarbeiten sich die US of A Zugriff auf das Spiel. Ich kämpfe mit müden Augen, mit zwei Fernschüssen nach 20 Minuten hat Ecuadors Schlussmann Ramírez deutlich weniger Mühe. Allgemein wirken die US-Boys recht fahrig und mit hohem Pressing provozieren die Südamerikaner immer wieder katastrophale erste Pässe im Aufbauspiel des bieder agierenden Gegners, allerdings ohne hieraus Profit ziehen zu können. Der Führungstreffer nach 30 Minuten ist sinnbildlich für die bisher gezeigte Leistung. Dynamisch, mutig, entschlossen – so zieht Ecuadors Mittelfeldspieler José Cifuentes vom linken Flügel nach innen, wird nicht gestellt und schweißt den Ball aus gut 25 Metern mit einem satten Rechtsschuss ins Netz. Team USA lässt sein Können einzig und allein nach Standardsituationen aufblitzen und kommt im Anschluss einer Ecke zum schnellen Ausgleich. Ein Verteidiger Ecuadors hatte den ersten Kopfball von Richards abblocken können, doch Timothy Weah steht goldrichtig und drückt den Ball aus Nahdistanz über die Linie (36.). Das letzte Kapitel der ersten Hälfte schreiben jedoch wieder die quirligen Ecuadorianer: Gonzalo Plata nagelt den Ball aus wieder über 20 Metern nahezu ansatzlos ans Lattenkreuz, Soto verarbeitet den Abpraller, legt ihn quer in den Strafraum und mit unbändigem Willen grätscht Jhon Espinoza die Kugel über die Linie. Ein Tor des Willens, über das die Ecuadorianer so lange jubeln, bis der Linienrichter plötzlich die Fahne hebt und sich Bastien bemüßigt fühlt, den VAR zu konsultieren. Nach einigen Minuten der Ungewissheit erteilt er dem Tor letztlich die Anerkennung und mich gruselt es schon jetzt vor der kommenden Bundesliga-Saison. So eine Wartezeit fühlt sich sicherlich großartig an, wenn man emotional in ein Spiel involviert ist…

In der Halbzeitpause haben die findigen Organisatoren genau einen Bierstand geöffnet und die Schlange vor diesem reicht in etwa bis Danzig. Ich nutze die Gunst der Stunde und verfeinere die freie Platzwahl und wechsele auf die deutlich höherpreisige Haupttribüne, die nicht nur den Vorteil einer besseren Sicht verschafft, sondern einem auch etwas Sonneneinstrahlung gönnt. Die Temperaturen sind am frühen Abend doch deutlich gefallen und bei nur noch 15°C habe ich mit meinem T-Shirt wohl aufs falsche Pferd gesetzt.

Die erste Viertelstunde des zweiten Abschnitts verstreicht ereignislos. Nach gut einer gespielten Stunde wage ich den erneuten Gang zum Bierstand, bekomme noch mit einem Auge mit, wie die USA ihre erste herausgespielte Gelegenheit ungenutzt lässt und kehre nur wenige Augenblicke später mit Bier zurück auf die Haupttribüne. Gerade noch rechtzeitig, um mitzuerleben, wie zunächst Alvarado freistehend per Kopf an Keeper Ochoa scheitert. Gut zehn Minuten später hätte Jackson Porozo nach einer Freistoßflanke beinahe für die Entscheidung gesorgt, doch sein Kopfball klatscht nur an die Querlatte (68.). Die Ecuadorianer sind sich ihrer Sache nun beinahe zu sicher und eine gefährliche Lässigkeit zieht in ihr Spiel ein. Hacke, Spitze, 1-2-3! Viel zu verspielt wird der eine oder andere Ball im Mittelfeld hergeschenkt, doch die USA agieren weiterhin viel zu pomadig und es fehlt der vielzitierte Ruck, der hier langsam mal durch die Mannschaft gehen sollte. So bleibt tatsächlich den Mannen aus Ecuador die letzte Chance der Partie vorbehalten, allerdings kann Soto den kläglichen Fehler der US-Defensive nicht nutzen und schiebt den Ball aus fünf Metern Entfernung nur knapp neben das Tor. Ecuador zieht verdient in das Halbfinale ein, die USA sagen „Do widzenia“ und ich finde dank der Unterstützung der Volunteers mit nahezu spielerischer Leichtigkeit aus dem Stadion heraus.

Die Zugtaktung in die Innenstadt ist vom Stadion-Bahnhof derart ungünstig (1x in der Stunde), dass ich kurzentschlossen den Massen in Richtung „Gdynia Redłowo“ folge. Durch diesen geschickten Schachzug erspare ich mir unter dem Strich mehr als 40 Minuten Wartezeit, die sich noch auszahlen werden.

Erst einmal traue ich meinen Augen kaum, als sich auf meinem Nachhauseweg plötzlich ein griechischer Imbiss am Wegesrand auftut. Klar, dass ich da nicht um den Einkauf einer Gyros Pita und zwei Feierabendbierchen zum Mitnehmen drumherumkomme. Im „Hellas Gyradiko Gdynia“ arbeiten waschechte Griechen, die sich über ein kleines Trinkgeld und ein „Ευχαριστώ” derart freuen, dass ich direkt noch einen Schnaps aufs Haus erhalte. Um 21.30 Uhr habe ich den „Plac Grunwaldzki“ erreicht und mich gedanklich bereits damit abgefunden, nun den Hügel hinaufkraxeln zu müssen. Aber wieder traue ich meinen Augen kaum, als ich völlig unerwartet den armen, alten Seilbahnmann erspähe, wie er gelangweilt vor der Gondel stehend rauchend auf Kundschaft wartet. Ein kurzes Hand-Fuß-Gespräch später ist klar – er raucht dann bitte noch entspannt auf und fährt mich dann gerne nach oben. Das macht er übrigens jeden Tag mit stoischer Ruhe, von 10.00 bis 20.00 Uhr und am Wochenende eben sogar bis 22.00 Uhr. Und so komme ich erstmals in meinem Leben in den Genuss, von einem Seilbahn-Privatchauffeur unentgeltlich nach Hause gefahren zu werden. Aber über’n Berg ist Fetti noch lange nicht… /hvg