218 218 FUDUTOURS International 29.03.24 09:01:08

25.05.2019 SG Rot-Weiß Frankfurt 01 – Turnerschaft 1895 Ober-Roden 2:2 (0:1) / Stadion am Brentanobad / 150 Zs.

Glück ist, wenn man um 10.20 Uhr wach wird, auf dem Nachttisch noch eine Dose „Budvar“ steht und in zehn Minuten Anpfiff ist. Für manche ist es zwar nur der „Finaltag der Amateure“, für Fetti ist es ein mehr als erstklassiger Start in den Tag. In der 10.30 Uhr Konferenz hat das Erste Deutsche Fernsehen heute gleich vier Klassiker im Programm und besonders das Bremer Pokalfinale verspricht besondere Unterhaltung. Der Bremer SV trifft auf den FC Oberneuland, bei dem niemand geringeres als Günter Hermann als sportlicher Leiter tätig ist. Klar, dass sich der Reporter vor Ort da nicht zwei Mal bitten lässt und das Gespräch zum Weltmeister von 1990 sucht. Das Interview startet mit erheblichen Tonproblemen, ehe die Regie mitten im Gespräch entscheidet, doch besser zum Hamburger Pokalfinale zu schalten. Was für ein Skandal! Niemand, aber wirklich niemand, hat das Recht, einen Weltmeister mitten im Satz.

Um 12.15 Uhr sind der FC Hansa Rostock, der TuS Dassendorf, der FC Viktoria Berlin und der FC Oberneuland in den DFB-Pokal eingezogen. Fetti verbleiben nun nur noch 15 Minuten, um schleunigst seine sieben Sachen zusammenzupacken und das „Hotel Klee“ pünktlich zur vorgegebenen Check-Out-Zeit zu verlassen.

Auf die Minute pünktlich entert das schwitzende Schwein die Lobby. Fußball am frühen Morgen kann also auch zum Stressfaktor werden. Kaum ist der erste Wettlauf gegen die Zeit gewonnen, schon sitzt sie einem erneut im Nacken. Es sollte doch wohl möglich sein, bis um 14.15 Uhr in Frankfurt-Rödelheim eine Kneipe gefunden zu haben, in der man die zweite Finalkonferenz schauen kann – so Fettis neuerliche Mission. Die S-Bahn-Fahrt von Wiesbaden nach Frankfurt nimmt lediglich 43 Minuten in Anspruch und kostet stolze 8,60 €. Das Reisegepäck wandert für vier Euro in ein Schließfach am Hauptbahnhof und schon kurz nach der Ankunft in „Mainhattan“ ist klar, dass Fetti heute wohl leider keine Hausse mehr zu erwarten hat.

Für die neunminütige Weiterfahrt wird die Fahrkarte schon noch gelten, interpretiert man im Anschluss geschickt, um den weiteren Wertverfall des eigenen Portemonnaies nicht unnötig voranzutreiben. Rödelheim entpuppt sich kurz darauf als sehr lebendiges Viertel mit vielen Restaurants und Cafés und das „Schusterstübchen“ in Alt-Rödelheim qualifiziert sich mit spielerischer Leichtigkeit für alle meine weiteren Vorhaben. Hier habe ich durch Zufall eine wirklich wunderbare fußballaffine Kiezkneipe mit einem freundlichen Wirt gefunden, der mit „Schlappeseppel“ vom Hahn für FUDUs Hühnerbrust, einer ordentlichen Schnitzelkarte und der Bereitschaft, für den einzigen Gast des Ladens den Fernseher anzuschmeißen und ihm das Programm seiner Wahl einzustellen, auf ganzer Linie punktet. Ich wiederum punkte beim Wirt, indem ich auf den Kommentar verzichte und er so weiterhin zum „Besten der 80er Jahre“ hinter der Theke Gläser polieren und schwofen kann.

Noch fünfzehn Minuten bis zum Anpfiff. Gleich werden Partien aus acht Landesverbänden in der Konferenz gezeigt und beim Servieren des ersten Glases werde ich gefragt, ob ich heute wegen der „Rödelheimer Musiknacht“ gekommen sei. Unwesentlich später bin ich bestens informiert, dass ich wieder einmal zufälligerweise genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingetroffen bin und erhalte ein Programmheft für die heute Abend stattfindende Freiluftveranstaltung mit mehr als 50 Bands aller Musikrichtungen und den 36 Auftrittsorten im Kiez. Womit schon jetzt die Frage geklärt wäre, was zur Hölle ich nach Abpfiff bis zur Abfahrt meines Zuges um 2.49 Uhr in der Stadt wohl so treiben werde. Im Radio läuft derweil die Nachricht, dass Fans des FC Ingolstadt 04 auf einer Autobahnraststätte von „blau-weiß vermummten Tätern“ überfallen worden wären. Es ist davon auszugehen, dass eine Tüte voll KFC-Fraß erbeutet werden konnte.

Pünktlich zum Beginn der Fußballspiele verzichtet der Wirt auf sein Musikprogramm und spendiert mir den Kommentar zur Konferenz, was besondere Unterhaltung verspricht, da die Rundfunkanstalten zum „Finaltag der Amateure“ häufig eher unbekannte Nachwuchshoffnungen von der Leine lassen, die auf der großen TV-Bühne dann und wann einigermaßen unbeholfen daherkommen. Nach und nach kehrt auch der ein oder andere Stammgast ein, doch da ein Wespennest im Innenhof die volle Aufmerksamkeit der Kundschaft auf sich zieht, bleibe ich der einzige Gast, der Umsatz verspricht. Die Halbzeitpause wird dann durch das wohl weltbeste Jägerschnitzel aller Zeiten aufgewertet und um 16.15 Uhr sind drei Bier geleert und sieben der acht Finalpartien ohne Überraschungen zu Ende gegangen. Nicht einmal der TSV Essingen konnte dem SSV Ulm ein Bein stellen, obwohl sie von ihrem Trainer Beniamino Molinari (Originalkommentar: „Der Deutsch-Schwabe“) hervorragend eingestellt waren. Ich lasse 22 € im „Schusterstübchen“, bedanke mich für die gebotene Gastfreundschaft, das leckere Bier, das gute Essen und das touristische Informationsmaterial und eile hinüber in den benachbarten Brentanopark.

Eigentlich dachte ich, dass ich meinen Frieden mit Frauenfußball geschlossen hätte. Sollen sie doch machen. Wenn Frauenfußball aber dazu führt, dass schöne Stadien kaputtmodernisiert werden, dann ist Schluss mit lustig. Das „Stadion am Brentanopark“, erbaut im Jahre 1940 und 1992 Instand gesetzt, fasste einst bis zu 20.000 Menschen. Da das Stadion in Frankfurt über die Jahre ein Schattendasein fristete, nagte der Zahn der Zeit an der Spielstätte. Weitläufige Graswälle, verwilderte Kurven und grasbewachsene Stehränge auf der Geraden waren die Konsequenz der achtlosen Behandlung. Mutter Natur nutzte die Gunst der Stunde und schuf einen Traum von Stadion, doch dann kamen die Fußballerinnen des 1.FFC Frankfurt, die sich für ihre 1.000 Zuschauerinnen im Schnitt sicherlich irgendwelchen albernen Verbandsregularien beugen und die Bagger anrollen lassen mussten. Zwar konnte die alte Haupttribüne erhalten werden, doch drei Viertel des ehemals so charmanten Stadions wurden durch lieblos akkurate Betonstufen ersetzt und verleihen dem Stadion nun die Ausstrahlung eines Nachwuchsleistungszentrum-Nebenplatzes. An dieser Stelle kann man getrost Grüße nach Hannover senden – auch hier kennt man sich mit dem Verschandeln von Tradtionsstadien bestens aus!

Heute muss ich mich gedanklich jedoch nicht länger mit Frauenfußball beschäftigen als nötig. Mit der SG Rot-Weiß Frankfurt nutzt auch ein Herrenteam traditionell diese Spielstätte. 1901 wurde der Verein gegründet, seit 1926 trug er bereits die Farben Rot-Weiß in sich verändernden Vereinsnamen und nach mehreren Fusionen tritt der Club immerhin bereits seit dem 13.01.1946 unter dem aktuell gültigen Namen an. Die Vereinsgeschichte darf man getrost als „bewegt“ beschreiben und wer mehr über „Kokain- und Kuppeleiskandale“, die Zeit in der Oberliga, gefeierte Meisterschaften und Pokalsiege oder das Abschneiden in der Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga in der Saison 1990/91 erfahren mag, den darf ich gerne an den liebevoll zusammengestellten Wikipedia-Beitrag verweisen.

Nun heißt die Gegenwart „Verbandsliga Hessen-Süd“ und für diese Ligaebene stellt das „Stadion am Brentanobad“ natürlich trotz der beschriebenen Umbauten eine imposante Spielstätte dar. Dank des Bundesliga-Teppichs der Damen kann man schon darauf hoffen, dass die Sechstligakicker hier gleich all ihr technisches Potential ausschöpfen können werden, doch noch wirft der gastgebende Verein dem geneigten Hopper einen fiesen Knüppel zwischen die Beine, befindet sich doch hier allen Ernstes eine griechische Taverne samt Efeu bewachsener Terrasse mitten auf der Haupttribüne. Schweren Herzens verzichtet Fetti auf Gyros, Souvlaki und Ouzo und kann den Fokus noch gerade eben so rechtzeitig zum Anpfiff um 17.00 Uhr auf das Thema Fußball richten.

Behilflich ist hierbei, dass der Chefcoach der SG Rot-Weiß ein „Held“ meiner Kindheit ist. Dank des damaligen Auswendiglernens meiner „Panini“-Hefte kenne ich natürlich jeden Bundesligakicker der 90er Jahre aus dem Effeff. Hier sitzt niemand geringeres als Eintrachtlegende Slobodan Komljenović auf der Trainerbank (sein Vorgänger war übrigens ein gewisser Mario Basler) und dank des „ran“-Konsums bis zum Erbrechen in eben jener Zeit ist mir natürlich bekannt, dass Slobodan einst die Tochter seines Trainers geheiratet hat (keine Sorge, der besagte Kuppeleiskandal hat bereits in den 30er Jahren stattgefunden). Nur ein kurzer Blick durch das weite Rund genügt, um Slobodans Schwiegervater zu erspähen. Da sitzt er: Die Beine lässig übereinander geschlagen, weltmännisch gekleidet, das Haupthaar weiß und wallend, Weinglas in der Hand, Pilotenbrille auf der Nase, Zigarre im Mund. Dragoslav Stepanović, wie er leibt und lebt – schade, dass ich niemand bin, der andere Menschen um gemeinsame Fotos bittet.

Kurz darauf sind bedauerlicherweise meine Hoffnungen verpufft, Kachaber Zchadadse in Ordnerweste und Marek Penksa am Bierstand zu treffen, dennoch bin ich bereits vollumfänglich davon überzeugt, heute auf das richtige Pferd gesetzt zu haben. Hinter mir gesellt sich ein RW-Fan mit zwei Bierbechern in der Hand zu seinem Freund und singt dabei die Union-Hymne. Nicht ganz textsicher, aber dennoch interessant, zu welch nichtigen Anlässen Nina Hagen mittlerweile deutschlandweit angestimmt wird.

Das Spiel beginnt. Rot-Weiß spielt in gelb, die Gäste aus Ober-Roden erkennen sie an den roten Trikots. Der Mann hinter mir stimmt mittlerweile hintereinander Einracht-Frankfurt-Lieder, Borussia-Dortmund-Schlachtrufe und „Oh, RWE“ aus Essen an. So kann man sich natürlich auch die Zeit vertreiben, während unten im Kampf um die goldene Ananas der Ball rollt. Es ist der 34. und letzte Spieltag der Verbandsliga und es begegnen sich der 7. (46 Punkte) und der 9. (45 Punkte) im spektakulären Tabellenmittelfeld-Duell. Trotz der wenig verheißungsvollen Vorzeichen entwickelt sich aber ein recht lebendiges und ansehnliches Spiel. In der Frühphase der Partie lassen die Hausherren zwei recht gute Gelegenheiten ungenutzt, ehe nach einer knappen Viertelstunde der Gast aus Ober-Roden durch Mario Gotta in Führung gehen kann. „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord“, schallt es von hinter mir. So langsam wird es albern.

Bei der Heimmannschaft läuft der Ball auch nach dem Rückstand weiterhin gefällig. Technisch und taktisch schaut das gar nicht schlecht aus, auch wenn der eine oder andere übermütig geschlagene Diagonalball im Fanshop-Caravan des 1.FFC landet. Die Rot-Weißen können sich zwar keine klaren Chancen erspielen, kommen aber immer wieder zu schnellen Torabschlüssen. Mit ein wenig mehr Geduld sollte die Defensive der Gäste im zweiten Abschnitt auszuhebeln sein.

Marek Penksas Vertretung lässt sich in der Halbzeitpause Zeit beim Zapfen, doch ein schlechtes Gefühl für Timing kann man dem Biersommelier nicht zum Vorwurf machen. Ein gutes Bier dauert sieben Minuten nach Wiederanpfiff kehre ich mit frischem Pils pünktlich zum 1:1 an meinen Platz zurück. Torjäger Ozan Keskin braucht keine echte Torchance, um zu treffen. Ihm reicht manchmal offensichtlich auch ein unübersichtliches Gewühl im Strafraum aus, um den Ball humorlos mit der linken Bauernpike versenken zu können (53. Minute). Die Freude ist jedoch nur von kurzer Dauer, da sich Komljenovićs Mannen nun viel zu offensiv bewegen und sich nur 13 Minuten später auskontern lassen. Da kann auch Abwehrdirigent Zamir Daudi, der immerhin 16 Länderspiele für Afghanistan auf dem Buckel hat, nur staunend zugucken, wie die Gäste zwei-drei Pässe an den Mann bringen und plötzlich Tim Kalzu freistehend mit dem linken Fuß präzise ins lange Eck abschließen kann.

Rot-Weiß Frankfurt reagiert mit wütenden Gegenangriffen. Es dauert gerade einmal vier Minuten, bis die Hausherren die Turnerschaft aus Ober-Roden mit einer wilden Dreifachchance ordentlich durcheinanderwirbeln können. Ein Frankfurter scheitert mit einem guten Schuss an Gästekeeper Niklas Schwaar, der anschließende Kopfball wird auf der Linie geklärt und der dann einschussbereite Johnson Toko rabiat von Schwaar von den Beinen geholt. Toko sondert markerschütternde Schreie ab und bevor auch der Torwart schmerzerfüllt zu Boden fällt, kann dieser wenigstens mit letzter Kraft noch einen wertvollen Kommentar absondern: „Ey, Du brauchst nicht mehr zu schreien, Du kriegst wenigstens einen Elfmeter!“. Schiedsrichter Hauser gibt Schwaar Recht und zeigt auf den Punkt, dafür hat Ober-Rodens Keeper wenigstens die attraktivere Physiotherapeutin an seiner Seite. Und während Toko bereits das untrügliche Zeichen zum Wechsel gibt, lässt sich Schwaar von der hübschen Blonden noch weitere zehn Minuten (!) behandeln, ehe er in das Tor zurückkehrt, um den Elfmeter von Patrick Gürser mustergültig zu halten. Fernet Bianca. Man sagt, sie habe magische Kräfte!

Blöd nur, dass es nur drei Minuten später dann doch hinter Schwaar einschlägt. Der gerade einmal 20 Jahre alte Ozan Keskin hat soeben mit einem trockenen Linksschuss zum zweiten Mal am heutigen Nachmittag und bereits zum 16. Mal in dieser Saison getroffen. Keine fünf Minuten später lässt sich Schwaar mit Schulter-Spätfolgen der vorausgegangenen Karambolage verletzt auswechseln und das Spiel verzeichnet nur noch einen Höhepunkt, als Topić nach einer Ecke per Kopf aus fünf Metern vergibt. Das 3:2 wäre unter dem Strich für Rot-Weiß Frankfurt wohl nicht ganz unverdient gewesen, doch so gehen die beiden tabellarischen Mittelfeldhelden im Kampf um die goldene Ananas letztlich unentschieden auseinander.

Ich stürze mich nun mitten hinein in die „Rödelheimer Musiknacht“ und döse bei noch immer frühlingshaften Temperaturen im Brentanopark zu „Schlager der 60er und 70er und Oldies aus derselben Zeit. Gassenhauer, Schenkelwalzer, Klammerblues, Schmachtfetzen, Mitgröhllieder, Liebesschnulzen“, wie es im Programm geschrieben steht. Nach kurzer Rast zieht es mich zurück nach Alt-Rödelheim, wo an wirklich jeder zweiten Ecke eine Bühne aufgebaut ist und Hobbymusiker ein gut gelauntes Publikum unterhalten. In etwa so wie die „Fête de la Musique“ in Berlin – als sie noch cool, unbeschwert, unkommerziell und nicht durch Ordnungsamt und Anwohner totreglementiert war. In die Notizen können sich im Laufe des Abends aber nur „A Story For Reflection“ spielen, die vor dem „Café Laves“ bis um 20.00 Uhr ihre etwas mehr als fünf Minuten Ruhm haben. Dafür bereiten die „REWE“-Bierkäufe zur Vermeidung der überteuerten Straßenfeststände zusätzliche Freude und auch das Elektronikfachgeschäft „Kelety“ hat sich zur Feier des Tages etwas besonders ausgedacht und überträgt auf den TV-Geräten im Schaufenster das DFB-Pokalfinale zwischen Bayern und Leipzig. Nebenan beschallt eine Band die schmale Straße in Alt-Rödelheim mit solider Rockmusik, die Leute kehren vor den Fernsehern ein und nutzen abgeparkte Motorroller als Behelfstresen. Kurzum: Ein rundum gelungener und für deutsche Verhältnisse nahezu lässiger Abend!

Aber auch der ausgelassenste deutsche Abend ist nun einmal um 22.00 Uhr zu Ende. Soviel Ordnung muss sein. Ich kehre noch einmal in das „Schusterstübchen“ zurück. Das Problem mit dem Wespennest ist in der Zwischenzeit gelöst worden und der Laden nun wesentlich besser gefüllt als heute Nachmittag. Um 23.30 Uhr ist vor dem S-Bahnhof Rödelheim eine widerliche Armada an „zivilen Ticketkontrolleuren“ (sollte ich jemals Karneval feiern, ich würde mich als ziviler Kontrolleur verkleiden) aufgezogen, die die angetrunkene Feiermeute abzukassieren gedenkt. Der umsichtige und vorausschauend planende Fetti zieht sich schweren Herzens einen 2,75 € teuren Fahrschein, wird exakt sieben Minuten später kontrolliert und hat in diesem Moment 60 € gespart. Die freudige Nachricht über diesen Triumph wird stante pede an den rumänischen Kassenwart versandt – wer einmal Bilanzenfälschung in Dubrovnik studiert hat, der weiß, dass man diese 60 € nun locker in der nächsten Woche in Dänemark versaufen kann…

Der Zug um 2.49 Uhr hat bedauerlicherweise 30 Minuten Verspätung. Gemeinsam mit einigen osteuropäischen Freunden wärme ich mich im U-Bahnhof auf und Fetti grinst im Hintergrund schon wieder, nachdem er an irgendeinem Gag mit „Metropole“ gebastelt hat. Ich habe an der Stelle zugegebenermaßen genug von allem und und freue mich, als der ICE in Richtung Berlin um 3.20 Uhr endlich am Frankfurter Hauptbahnhof einrollt. Irgendwann weckt mich ein Zugbegleiter. Wir sind 23 Minuten vor Fahrplan in Berlin eingetroffen und ich wünschte, ich hätte nicht geschlafen, um mitzubekommen, wie die Teufelskerle das nun wieder geschafft haben.

Glück ist, wenn man um 9.35 Uhr wach wird, beim Verlassen des Schnellzuges 2 € auf einem Sitz findet und einen freien Sonntag vor der Brust hat, um sich von seinem Wellnesurlaub erholen zu können… /hvg

24.05.2019 SV Wehen-Wiesbaden – FC Ingolstadt 04 1:2 (0:1) / Arena Wiesbaden / 7.698 Zs.

Es ist Donnerstag, der 23.05.2019. Der 1.FC Union Berlin steht vor dem wohl wichtigsten Spiel seiner Vereinsgeschichte. Im Hinspiel beim VfB Stuttgart geht es darum, sich im Kampf um den Aufstieg in die Fußball-Bundesliga eine gute Ausgangsposition zu verschaffen. Die Anspannung ist groß, die Aufregung auf die Begegnung stieg seit des Abpfiffs der Partie in Bochum (2:2, 29.05.20) nahezu minütlich. Ausgerechnet jetzt haben sich Fetti und seine Freunde allesamt einen mittelschweren Schnupfen eingefangen und müssen sich bedauerlicherweise arbeitsuntauglich melden. Naja, kriminelle Ossis supporten (koS) eben auch unter der Woche…

Nach 90 hart umkämpften Minuten hat der 1.FC Union Berlin auswärts ein phantastisches 2:2 errungen und steht mit einem Bein in der Beletage des deutschen Fußballs. Im Rückspiel, welches in vier Tagen (Montagabend) in Berlin-Köpenick stattfinden wird, würde beispielsweise schon ein 0:0 genügen, um das „Fußballwunder“ perfekt zu machen. Aber das ist alles Zukunftsmusik – jetzt muss Fetti erst einmal im Südwesten seine Rotznase auskurieren. Die Luft soll hier ja sehr gut sein.

Da sich meine Stuttgarter Freunde momentan auf Weltreise befinden, steht in der Baden-Württembergischen Landeshauptstadt ausnahmsweise kein Domizil zur Verfügung. Vom „Hotel Lamm“ an den Mineralbädern verspricht sich Fetti einen überaus erholsamen Wellnessurlaub, doch schnell stellt sich heraus, dass ihm sein rumänischer Kassenwart nur eine heruntergekommene Bruchbude mit Gemeinschaftsbad gegönnt hat, die seine Landsleute hier in ruhiger Parknähe für überzogene 50 € die Nacht an gut situierte erkältete Obdachlose vermieten. Fakt ist: Auch auf der schlechtesten Matratze der Welt lässt es sich gut von der Bundesliga träumen.

Am nächsten Morgen stärkt sich Fetti zunächst am überraschend passablen Frühstücksbuffet und schlägt sich so lange den Bauch voll, bis er das Gefühl erhält, in den Wehen zu liegen. Genau der richtige Zeitpunkt also, um nach Wiesbaden aufzubrechen. Am U-Bahnhof „Mineralbäder“ packt die fancy Landeshauptstadt kurz darauf alle coolen Kids an der Emojiehre und präsentiert ein Meisterwerk des Schwachsinns, welches aufzeigt, wie 2.0 Müllentsorgung sein kann. Die „Gum-Wall“ ermöglicht all denjenigen, die zu blöd sind, ihren Kaugummi in den Mülleimer zu werfen, eine Alternative zum achtlosen Fallenlassen des klebrigen Schuhsohlenstörers. Hier kann man seinen ausgelutschten Kaugummi nun also auf ein Emoji seiner Wahl kleben. Fetti sieht vor seinem geistigen Auge bereits den armen Vasall aus dem Niedriglohnsektor, der den durchgekauten Ekel mit bloßem Fingernagel irgendwann wieder von der Wall kratzen muss und zerschlägt vor lauter Verzweiflung seine Bierflasche am Kackehaufen. Kann doch alles nicht Euer Ernst sein…

Am Stuttgarter Hauptbahnhof verkündet die „DB“ sogleich, dass mein Zug nach Mainz 20 Minuten Verspätung haben wird. Aufgewertet wird diese schlechte Nachricht durch einen kleinen Jungen neben mir, der just in diesem Moment seiner Mama offenbart, dass er jetzt sofort ganz dringend strieseln muss. Perfekter Zeitpunkt, muss sich da die Mutter denken, die angesichts fehlender Bäume und Möglichkeiten lediglich eine Flasche anbieten kann. Nun aber geht der kleine Bruder auf die Barrikaden, der nicht will, dass in seine Trinkflasche gestrullt wird, aber auch hierauf kann die Erziehungsberechtigte flexibel reagieren, leert ihre Selters in einem Zug und reicht sie für die Notdurft herüber. Kaum hat sich der Große – versteckt hinter einem durchsichtigen Wartehäuschen – erleichtert, will der Kleine natürlich auch in seine Pulle pullern, deswegen heißt sie ja auch so.

Ach, es hätte stundenlang so weitergehen können und vermutlich wäre auch noch eine „Urinella“ zum Einsatz gekommen, hätte die „DB“ diese Familie und andere Reisende nicht mit einer Durchsage aufgescheucht. „Die Abfahrtszeit ihres Zuges ist derzeit nicht absehbar“ ist eine so auch noch nie gehörte Durchsage und auch die Verbindungsalternative, die die „DB“ ihrer Kundschaft mit an die Hand gibt, ist nach kurzer Recherche als völliger Unsinn zu entlarven. So rennt also alles kreuz und quer über den Bahnhof, während unsereins entspannt am selben Gleis auf den IC von Konstanz nach Emden via Mainz wartet, der hier recht bald auf die Minute pünktlich einrollen wird. Auch die von der „DB“ verjagten Reisenden kehren nach und nach an ihr angestammtes Gleis zurück und im „Intercity“ in Richtung Ostfriesland hat sich die Aufregung dann auch schnell wieder gelegt. Nur das schwäbische Rentnerehepaar wird den Schaffner noch zwei Mal anhalten und erst einmal fragen, ob sie im richtigen Zug „hocke“ und später, ob der Zug in Köln auch wirklich „am Bahnhof“ halten wird. „Ja, natürlich am Bahnhof, wo sollten wir denn auch sonst halten?“, weiß der Zugbegleiter aber auch die letzte Unsicherheit gekonnt zu nehmen. In Mainz hüpfe ich in die S8 und ohne weitere Höhepunkte habe ich mein Ziel bereits um 14.15 Uhr erreicht, um mich sogleich in das Getümmel der hessischen Landeshauptstadt stürzen zu können.

Der Fußweg vom Bahnhof in meine Unterkunft nimmt in etwa 30 Minuten in Anspruch und sorgt dafür, dass ich mir bereits einen ersten Überblick über die Stadt verschaffen kann. Wiesbaden punktet mit einigen Vorzeigebauten (Marktkirche, Neues Rathaus, Hessisches Staatstheater, Kurhaus), wartet aber auch mit einer herben Enttäuschung auf, die es nicht einmal auf ein Foto schaffen wird. Vom Wiesbadener Stadtschloss, das als Sitz des Hessischen Landtags genutzt wird, hatte sich Fetti deutlich mehr erhofft. Gleichzeitig bietet Wiesbaden auch gepflegte westdeutsche Fußgängerzonenlangeweile mit den typischen architektonischen Verbrechen der 70er Jahre.

Ich flaniere dann lieber entlang der Wilhelmstraße, die schon eher meinen Ansprüchen genügt. Ein Boulevard, der einst vom nassauischen Baudirektor Carl Florian Goetz geplant und dann anno 1810 von Baumeister Christian Zais zwischen Kurgebiet und Friedrichstraße angelegt wurde, lässt auch Fetti mit der Zunge schnalzen. Das hier geht getrost als repräsentative Prachtstraße durch, denkt er sich gerade, aber da muss er „Am Warmen Damm“ auch schon wieder rechts einbiegen.

Das „Hotel Klee“ liegt direkt am Kurpark und für die eine Übernachtung hat Fetti 3€ FerkelKurtaxe zu entrichten. Hätte man vielleicht wissen können, dass es sich bei Wiesbaden um einen Kurort handelt, war mir und meinem Schwein im Vorfeld der Reise jedoch nicht bewusst. So aber freuen wir uns, dass das, was die Mineralbäder in Stuttgart nicht geschafft haben, nun die Thermal- und Mineralquellen der hessischen Landeshauptstadt nachholen können. Einer endgültigen Gesundung bis Montag kann man nun aufgrund der Verlängerung des Wellnessurlaubs optimistisch entgegen sehen.

Doch zunächst einmal steht der nächste Relegationsschlager auf dem Programm. Der SV Wehen-Wiesbaden aus der dritten Liga muss gegen den FC Ingolstadt 04 aus der zweiten Bundesliga ran. Wer bei diesem „Super-Plástico“ keine Gänsehaut verspürt, der ist selber Schuld. Mit meinem online gebuchten Stehplatzticket in der Tasche durchquere ich die Stadt also erneut, um die südwestlich gelegene Spielstätte zu erreichen. Da sich am Wegesrand leider keine vernünftige Gaststätte auftut, erreiche ich die Arena überpünktlich, durstig und etwas hungrig. Wenigstens komme ich so in den Genuss, den benachbarten „Helmut-Schön-Sportpark“ besuchen zu können und ausgiebig zu bewundern. Ein echtes Fußballstadion – da kann man ja angesichts dessen, was heute noch auf einen zukommen wird, schon jetzt nicht genug davon bekommen.

Dagegen wirkt die Arena nebenan, die 2007 eröffnet wurde und mit ihren Stahlrohrtribünen eigentlich nur als fünfjährige Übergangslösung gedacht war, auf den Fußballtraditionalisten von Welt in höchstem Maße bedrohlich. Bis vor kurzem fanden 12.566 Menschen Platz in der Blechbude, doch nachdem vor zwei Monaten die Westtribüne weggerissen wurde, um an selber Stelle eine neue Betontribüne mit damit einhergehender Kapazitätserweiterung auf 15.200 zu errichten, fasst die Spielstätte bis zum Abschluss der Bauarbeiten nur noch 9.100 Besucher. Was will man machen, die DFL fordert nun einmal 15.000 Plätze, so man längerfristig in der zweiten Bundesliga spielen mag. Ich darf an dieser Stelle kurz auf den aktuellen Zuschauerschnitt der Wiesbadener verweisen: 3.153. Alles in allem also eine in sich stimmige, nachvollziehbare und zwingend notwendige bauliche Veränderung.

„Herzrasen kann man nicht mähen“, steht in übergroßen Lettern an der Fassade der Stahlrohrhaupttribüne geschrieben und man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Erste Schalrocktrottel mit Lederwesten, Mittfünfzigerinnen mit rosa Fanartikeln und der „SVWW Kids Club“ beziehen vor dem Stadion Position und werten das wider„Licher“ von der „Jet“-Tankstelle um die Ecke zusätzlich ab, welches ich mir mangels Optionen (Bierstand vor dem Stadion? Kneipe? Fehlanzeige!) nach der schönen Stadionbesichtigung organisiert hatte. Ein übermotivierter Ordner verweigert mir kurz nach Beendigung des Biergenuss den Einlass auf die Südtribüne, da ich einen Turnbeutel mit mir führe. Meine Argumentation, dass dieser nicht größer als DINA4 sei, soll ich mir für die Diskussion mit seinem Chef aufheben, sagt er und lässt mich passieren. Den Chef erkenne ich daran, dass seine Weste eine andere Farbe hat, ruft er mir noch hinterher, aber da stehe ich genaugenommen ja bereits auch schon mit Turnbeutel auf dem Rücken im Stadion und frage mich, warum zur Hölle ich jetzt jemanden suchen sollte, der mir auf die Nerven gehen will und entscheide mich stattdessen, einfach meinen Platz auf der „Süd“ einzunehmen.

Vor mir steht eine Frau mit SVWW-Fanshoptüte und Darmstadttrikot, neben mir befindet sich der mit 1.500 „Schanzern“ gefüllte Ingolstadtblock und die weggerissene Gegengerade zu meiner Linken ermöglicht einen unbezahlbaren Blick auf Sandhügel und Bürohäuser. Natürlich ist das Stadion trotz der begrenzten Kapazität und der Wichtigkeit der Partie nicht ausverkauft. Im „Sendung mit der Maus“-Stil wird dem geneigten Stadionbesucher die Funktion des VAR näher gebracht und auch der „taktische Sicherheitssprecher“ der Polizei erhält die Gelegenheit, sich persönlich an das Publikum zu wenden. „Bitte sprechen Sie uns an!“, bittet er beinahe flehentlich und ein Adlerträger neben mir fasst all die Absurditäten treffend zusammen: „Und ich dachte, ich hätte in der Europa League schon alles gesehen!“. Oder wie Fetti sagen würde: Schon jetzt ist klar, dass das hier das schlimmste Stadionerlebnis seit Sonnenhof Großaspach ist, aber hoppen muss manchmal eben weh tun…

Die Vereinshymne steht all den bislang erlebten Grausamkeiten in Nichts nach und weist neben hochgradig individuellen Textzeilen („Keiner wird uns jemals trennen, unser Herz wird ewig brennen!“) auch etwas Geschichtsklitterung in Bezug auf die Vereinshistorie auf („Wehen-Wiesbaden, das ist mein Verein. 1926 fing alles an und bis heute glauben wir daran!“). Kenner wissen natürlich, dass der SV Wehen-Wiesbaden den Freunden von Traditionsvereinen erst seit 2007 auf die Taunüsse geht, aber da auf der Gegenseite mit dem FC Ingolstadt 04 auch nicht gerade ein Gegenentwurf auf dem grünen Rasen steht, tut all dies heute auch nicht besonders viel zur Sache.

Die Fans des SV Wehen (der Austragungsort Wiesbaden spielt auf Fahnen, Bannern und auch in den Gesängen der Zuschauer keine Rolle – mal abgesehen von dem brachialen Wechselgesang Weeeehen – Wiesbaaaaden) rollen gerade noch die Stoffbahnen ihrer Choreographie zusammen und lassen letzte Luftballons zerplatzen, da zerplatzen auch bereits erste Aufstiegshoffnungen. Ingolstadts südamerikanischer Vollsympath Darío Lezcano kann den allerersten Angriff nach Pledl-Pass aus Nahdistanz verwerten. 31 Sekunden sind gespielt. Neben mir schlagen sich die Leute die Hände vor den Köpfen zusammen, ich juble innerlich: Yes, wenigstens kein 0:0!

Die Heimelf von Trainer Rüdiger Rehm reagiert gut auf den frühen Rückstand. Angetrieben von Routinier und „Fußballgott“ Alf Mintzel verschafft man sich in den folgenden 25 Minuten ein Übergewicht auf dem Feld und ist die deutlich aktivere Mannschaft. Immer wieder wird der starke Strafraumwühler Schäffler gesucht, doch mehr als ein Fallrückzieher springt bei allen Bemühungen nicht heraus. Der letzte Pass ist oft zu ungenau, die technischen Qualitäten mangelhaft und die Standards von Kuhn dermaßen unpräzise, dass Ingolstadt wenig Mühe hat, den knappen Vorsprung bieder verteidigend in die Kabinen zu retten. Und beinahe hätte es mit dem zweiten Angriff in der 45. Minute noch zu mehr gereicht, doch der im Strafraum freigespielte Lezcano verpasst den Wehener Kasten mit einem Heber über den herauseilenden Kolke nur knapp. Nun haben auch die mitgereisten Ingos nebenan endlich Pause und stellen ihren nervtötenden und uninspirierten Dauersingsang auf Dorfverein-Niveau ein („Werdet zur Legende. Kämpfen bis zum Ende. Für die zweite Liga. Blablabla“) und mich zieht es auf den Stadionvorplatz.

Hier wird schnell deutlich, dass die Arena auch infrastrukturell an Grenzen stößt, sobald sich mehr als die übliche Handvoll Zuschauer darin tummeln. Die vier Dixis und der WC-Container mit Pissrinne für exakt drei Menschen werden dem heutigen Zuschauerharndrang jedenfalls nicht gerecht – erst recht nicht, wenn es Spezialisten gibt, die sich nach Rückkehr vom Pissoir ihre Schnürsenkel noch auf der Treppe des Containers binden müssen. Jede Wette: Genau solche Experten entsorgen ihre Kaugummis bestimmt an der „Gum-Wall“. Da auch die Schlange vor dem Bierstand in etwa von Wiesbaden bis nach Wehen reicht, kehre ich nach 14 Minuten Wartezeit unverrichteter Dinge zurück in den Block.

Gerade habe ich meinen Platz mit nun unfassbar schlechter Sicht wieder eingenommen, da hat Schiedsrichter Winkmann auch bereits auf Elfmeter entschieden. 41 Sekunden sind gespielt. Wehens Keeper Kolke muss Darío Lezcano von den Beinen geholt haben. Lezcano selbst legt nun den arrogantesten Hurensohnanlauf aller Zeiten auf’s Parkett und verwandelt dann zittrig wie ein Kreisklassekicker. Solche Superstarimitatoren sind wohl in etwa so unnötig wie Fanfreundschaften zwischen Weltklasseszenen wie beispielsweise Wehen und Ingolstadt (wirklich wahr!). Puh. Ich habe für’s Erste genug gesehen und versuche erneut mein Glück am Bierstand.

Hier ist die Schlange nur unwesentlich kürzer geworden, aber wenigstens sind die Ingolstädter Gästefans bereits wieder in ihren Block zurückgekehrt. Und während die Wehen-Wiesbadener da in ihrem Heimbereich brav in Reih und Glied stehen, betreibt der gewitzte Fetti schnellen Handel mit der Gästeblockgastronomie und lässt sich sein Bier einfach durch den Zaun reichen. Macht’s gut, ihr Trottel, möchte man da den noch immer Wartenden im Grunde genommen zurufen, aber Contenance, wird sind hier nur zu Gast.

Mit dem frisch Gezapften in der Hand erschleiche ich mir Zutritt in einen falschen Block, aus dem die Sicht auf das Spielfeld nun wieder deutlich besser ist. Dies stellt sich alsbald als Fehler heraus, denn auf dem grünen Rasen gibt es rein gar nichts attraktives mehr zu sehen. Ingolstadt verwaltet, Alf und seine Mannen bauen außerirdisch ab und zu allem Überfluss übernehmen die Gästefans auch noch die Stimmungshoheit. „Wer nicht hüpft, ist Ingolstädter“ halten die Heimfans mit Fremdschämpotential nur einmal trotzig dagegen und verfallen sonst in eine Art Totenstarre. Nach 72 Minuten muss Wiesbadens bester Mann Schäffler verletzungsbedingt vom Platz und spätestens jetzt hätte wohl kaum noch jemand einen Pfifferling auf den SVWW gesetzt. Außer vielleicht die Herrengruppe neben mir, die nun anlässlich der Einwechslung von Niklas Schmidt regelrecht aus dem Sattel geht: „Mit dem habe ich in der Jugend mal Fußball gespielt!“. Eine Ekstase wie auf dem Dorfplatz. Und gerade, als man das Fazit der Partie aus der Sicht der Heimmannschaft bereits gezogen hat (→ in der ersten Halbzeit war mehr drin, in der zweiten klar an Grenzen gestoßen) und denkt, man hätte es überstanden, spendiert einem das Schiedsrichterkollektiv sechs Minuten Nachspielzeit und weitere Qualen zu Scooter-Klängen. Daniel Kofi Kyereh drückt nach 96 Minuten am langen Pfosten tatsächlich einen Flachpass, der quer durch den Fünfmeterraum gerauscht war, über die Linie und verkürzt zum 1:2. Döp Döp Döp de de Döp Döp Döp, sag ich mal.

Leider finde ich beim Verlassen des Stadions keine echte Eintrittskarte für die Sammlung daheim und werde so nicht zweifelsfrei beweisen können, wahrhaftig Augenzeuge dieses spektakulären Relegationsspiels gewesen zu sein. Um mich herum finden neuerliche Verbrüderungsszenen von Wehen- und Ingolstadtfans statt und Satzfetzen wie „Ihr macht eine Stimmung, das ist so geil!“ werden aufgeschnappt und schmunzelnd mit auf die Flucht genommen. Freunde, nichts wie weg hier!

Am Bahnhofsvorplatz will ich den lauen Abend bei Döner und Dosenbier aus dem „Rossmann“ (Mist. Gutscheine in Berlin vergessen. Wird der rumänische Kassenwart wieder schimpfen!) eigentlich nur unaufgeregt ausklingen lassen, bekomme aber noch ein solides Rahmenprogramm geboten. Da ist zunächst dieser Mann mit Rollator, der ungeniert die Hosen herunterlässt und auf offener Szene vor den Bahnhof uriniert und die Pfandflaschensammlerin und Neigetrinkerin in Personalunion, die dieses Bild mit einem eindringlichen „Ai, ai, ai, Leute gibt’s“ zusammenfasst. Und dann wäre da noch die Fanszene des FC Ingolstadt 04 zu beobachten: Vier betrunkene Abenteurer lassen die Köpfe hängen, der fünfte und fitteste im Bunde kauft eine Tüte Fraß beim „KFC“ und obwohl er sich mit dem Einkauf wirklich beeilt, sind in der Wartezeit zwei seiner Compañeros eingeschlafen und zwei weitere haben sich drittklassig erbrochen. Ich an seiner Stelle würde die beiden anderen jetzt besser nicht aufwecken. Was für ein jämmerlicher Haufen, dieser FC Ingolstadt 04.

Ich spaziere nach dem „Genuss“ meines lieblosen Fettdöners für 4,20 € zurück zum Hotel und bewundere neben der illuminierten Wilhelmstraße im Zuge der Entsorgung der ersten Bierdose auch einen Müllplatz, der „mit großem personellem und finanziellem Aufwand“ eingerichtet worden ist und ich frage mich ernsthaft, warum ich mich noch nie gedanklich damit auseinandergesetzt habe, wie genau ich mir den Müllplatz meiner Träume wohl so vorstelle. Diesen soll ich jedenfalls so verlassen, wie ich ihn gerne hätte antreffen wollen. Häh? Wenn Du denkst, dass ich hier jetzt meine vollen Bierdosen hinstelle, haste Dich aber geschnitten, Wiesbaden!

Ein paar Minuten später hat Fetti auch schon den warmen Damm erreicht. Nach zwei emotionalen Relegationsspielen fühlt er sich bereits deutlich besser und ist auf dem besten Weg zu endgültiger Gesundung. Ach, so ein Wellnessurlaub im Südwesten ist schon was feines… /hvg

04.05.2019 FC Gießen – FSV Lohfelden 1924 2:1 (0:1) / Waldstadion Gießen / 1.173 Zs.

Um 11.34 Uhr sitzen Fetti und seine Freunde in der „Vogelsbergbahn“, die die 105,9 Kilometer entfernten Städte Fulda und Gießen direkt miteinander verbindet. Bahnnostalgiker kommen auf der eingleisigen Strecke, die illustre und dicht besiedelte Orte wie Oberbimbach (Funfact am Rande – den Ort Oberbimbach gibt es seit einer Gebietsreform in den 70er Jahren und des Zusammenschlusses der Orte Ober- und Unterbimbach zu Bimbach gar nicht mehr, nur der Bahnhof heißt noch so), Burg- und Nieder-Gemünden (zwei Orte, ein Bahnhof – manchmal muss man auch teilen können), Mücke und Göbelnrod anfährt, vollends auf ihre Kosten. Wenn man im Verlauf der Reise den einen oder anderen Bahnmitarbeiter sieht, wie dieser im Schweiße seines Angesichts manuell Weichen stellen und Bahnschranken herunterkurbeln muss, wähnt man sich kurz im wilden Osteuropa. Aber nein, wir sind hier immer noch im Lande des Innovations-Vize-Weltmeisters mit „herausragend hoher Hightech-Dichte“ unterwegs. Auch in den alten Bundesländern gibt es also abgehängte Regionen, in denen das im Alltag nicht immer unbedingt mit jeder Faser des Körpers spürbar ist…

Kurz nach diesen Beobachtungen sind wir auch schon in der Universitätsstadt Gießen angekommen und haben unserer neuen Übergangsheimat schnell einen Kosenamen verpasst. „Die Stadt der studentischen Brillengestelle“ kann eine überlaufene Fußgängerzone sein Eigen nennen und mag sicherlich die eine oder andere passable Touristenattraktion zu bieten haben (Altes Schloss, Neues Schloss, Zeughaus, Stadttheater), für deren Besichtigung wir heute allerdings nicht genügend Zeit mit im Gepäck haben. Ein digitales Werbeplakat an einer Rolltreppe weist auf das wichtige Fußballspiel des heutigen Nachmittags hin, welches auch der Grund dafür ist, dass unsere zeitlichen Ressourcen eher spärlich gesät sind. Wir konzentrieren uns daher vorerst auf die „wuchtige Fußgängerüberführung am Selterstor“, die 1968 errichtet wurde, um auch nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern eine Überlebensmöglichkeit einzuberaumen. Eben ein klassisches Abfallprodukt einer Städteplanung, die in den 60er und 70er Jahren ausschließlich den Autoverkehr in den Fokus nahm. Aber wenn dieses dann auch noch architektonisch derart misslungen ist, dass es zu einem regelrechten Störfaktor des Stadtbilds wird, muss man sich als Einwohner eben in Sarkasmus flüchten. So bezeichnen die Gießener das Bauwerk wegen seiner übertriebenen Größe und der drei großen kreisrunden Öffnungen oberhalb der Kreuzung als „Elefantenklo“ und schon ist für FUDU eine Sehenswürdigkeit daraus geworden.

Allgegenwärtig ist die Figur des „Schlammbeiser“. Auf Werbeplakaten für ein Bier, als Statue auf dem Kirchplatz. Der Begriff geht zurück auf das „Schlamp-Eisen“, ein Werkzeug eines Kanalreinigers („Schlamp-Eissers“), der – bevor es geschlossene Kanalisationen gab – den Müll und Schmutz der Häuser („Schlammp“) mit einer langen Eisenstange („Eisen“) holte und mit Holzkarren außerhalb des Ortes entsorgte. Zwischen den Häusern gab es oft kleine Gassen, in denen Kübel standen. In dem Freiraum über diesen Gassen hingen die Aborte der Häuser. Die Schlammbeiser zogen mit ihren langen Stangen die Kübel aus den kleinen Gassen heraus und leerten sie, sagt Wikipedia und später werden wir ein solches Bier auf dem Weg nach Darmstadt verköstigen.

Jetzt aber haben wir noch gerade genügend Zeit, um in die Falle zu tappen, in die uns ein Werbeplakat am Hauptbahnhof gelockt hatte. „Pitta Gyros bietet Ihnen schon seit 1982 hausgemachte griechische Spezialitäten in frischer Top-Qualität“ – na, dann mal nichts wie hin. Das „Gyros to go“ kostet dann zwar 7 € statt der versprochenen 4,50 € und ist unterwegs in etwa so bequem zu essen wie Erbsensuppe aus der hohlen Faust, schmeckt aber fantastisch und wirft wieder einmal die Frage auf, warum es in Berlin nicht eine einzige griechische Imbissbude gibt. Auf diese Marktlücke muss doch irgendwann mal jemand stoßen…

Nach einem knapp 30 minütigem Spaziergang haben wir das „Waldstadion Gießen“ einigermaßen unbekleckert erreicht. Der Andrang am Kassenhäuschen hält sich eine halbe Stunde vor Anpfiff noch in Grenzen und so haben wir die Stadiontore für 7 € schnell passiert und können einen ersten Blick in die Spielstätte werfen. Die Sonne scheint, es gibt wunderbare Stehränge auf der Geraden, eine kleine überdachte Haupttribüne mit 645 Schalensitzen und weitere Stehplätze links und rechts neben dieser, eine weitläufige Rasenfläche hinter dem einen Tor und viel Wald drumherum – kurzum: ein schöner Ort, um Fußball zu spielen. Seit der Saison 2018/19 trägt der ambitionierte FC Gießen (Zusammenschluss aus VfB Gießen 1900 und SC Teutonia Watzenborn-Steinberg, Gründung 2018) seine Heimspiele im Herzen Gießens aus, wodurch sich die Stadt nun die Chance verspricht, „das Waldstadion den aktuellen Anforderungen für höherklassigen Fußball anzupassen.“ – bedeutet übersetzt also, dass das Stadion nicht mehr all zu lange so schön anzusehen sein wird. Als erster Vorbote auf das, was noch so kommen dürfte, darf der Jahrmarkt gedeutet werden, den der FC Gießen heute zum Entertainment seiner Gäste hinter dem anderen Tor aufgebaut hat. Folgen werden wohl Zäune vor der Geraden, Blocktrennung, Stahlrohrtribünen zur Kapazitätserhöhung und weitere furchtbare Dinge, über die ich jetzt gar nicht weiter nachdenken mag.

Pünktlich um 15.00 Uhr eröffnet Schiedsrichter Christoffer Reimund die Partie. Hier ist heute kein Rahmen für jedwede Verzögerungen im Betriebsablauf, schließlich überträgt der „Hessische Rundfunk“ die Partie live und in Farbe auf „Hessenschau online“. Da kann man dann auch keine Rücksicht mehr drauf nehmen, dass noch technisches Equipment auf Höhe der Eckfahne auf dem Rasen herumsteht, während der Ball bereits rollt. Irgendwann ist aber auch die Anmoderation endlich im Kasten und die Herren des Senders bequemen sich, ihre sieben Sachen zusammen zu sammeln.

Auf dem Platz scheinen sich auch die Hausherren zunächst etwas sammeln zu müssen. Obwohl man die Oberliga Hessen souverän anführt und erfahrene Spieler wie Frederic Löhe, Kevin Nennhuber und allen voran Michael Fink mit seinen 37 Jahren und stolzen 137 Bundesligaspielen, 73 Zweitligaeinsätzen und 66 Schlachten in der „Süper Lig“ auf dem Buckel, in seinen Reihen weiß, ist heute eine gewisse Nervosität nicht zu leugnen. Nach Kassels Ausrutscher am gestrigen Freitag in Fulda (FUDUTOURS berichtete) kann der FC Gießen am 31. Spieltag historisches schaffen: Bereits mit einem Remis wäre der Aufstieg in die Regionalliga Südwest nach Menschengedenken gesichert (aufgrund einer wesentlich besseren Tordifferenz gegenüber der „Verfolger“ aus Kassel und Alzenau). Bei einem Heimsieg wäre den neugegründeten Gießenern die Meisterschaft auch rechnerisch nicht mehr zu nehmen. Einer Ehrung mit der Meisterschale und einer großen Aufstiegsfeier würde hier nichts mehr im Wege stehen. FUDU hofft auf Freibier und drückt dem FC die Daumen.

Nach gerade einmal zehn Minuten hat sich auch Löhe von der Nervosität seiner Vorderleute anstecken lassen. Eine furchtbar verunglückte Rückpass-Bogenlampe von Nennhuber verspringt ihm bei der Annahme, den daraus resultierenden ersten Abschlussversuch der Lohfelder kann Löhe noch gerade ebenso abwehren, doch gegen den zweiten Versuch von Nasuf Zukorlic, den Ball ins mehr oder minder leere Tor zu schieben, ist der ehemalige Drittligakeeper aus Sandhausen und Babelsberg machtlos. Na, das geht ja gar nicht gut los.

Passend zur Laune der immerhin 1.173 Zuschauer verfinstert sich nun auch das Wetter. Dunkle Wolken sind über das „Waldstadion“ gezogen, während sich die Atmosphäre im Stadion trotz Aufstiegskampf nun in etwa auf Dorfplatzniveau einpendelt. Auch der grundsympathische Kaffee- und Kuchenverkauf vor den Kabinen erinnert eher an Kreisliga, denn an Regionalliga, dennoch (oder gerade deswegen) tun wir den Kuchenmuttis nach 25 Minuten den Gefallen und bestellen im Kampf gegen den auffrischenden Wind etwas Erwärmendes. Die Einnahmen werden nicht etwa zur Aufstellung des Regionalligaetats benötigt, sondern für den Bau von Schulen in Sierra Leone. Für solch edle Spendenaktionen trinkt dann auch Fetti Leone gerne mal einen Stadionkaffee.

Auf dem Rasen hat der FC Gießen so langsam ins Spiel gefunden, während das Wetter immer noch fleißig hin- und herflippert. In klassischer Aprilwetter-Manier geben sich Sonne, Wind, Wolken, Regen und Sonne quasi im Fünfminutentakt die Klinke in die Hand und gerade ist wieder einmal eine vielversprechende Flanke von Alban Lekaj verpufft. Offensiv nun etwas agiler, lässt der FC Gießen in der Defensive aber jegliche Ordnung vermissen. Nach einer guten halben Stunde reicht ein öffnender Pass aus der Tiefe, um Zehner Zukorlic glänzend in Position zu bringen, doch jagt dieser den Ball völlig unbedrängt weit über das Tor und hinein in den Stadtwald. Keine zwei Minuten später hätten sich die Gäste für einen wunderbar vorgetragenen Angriff über die linke Seite belohnen müssen. Dieses Mal ist es Stoßstürmer Tjarde Bandowski, der in aussichtsreicher Position nur die Latte trifft. Die letzte Viertelstunde der Partie verstreicht ereignisreich und mit einem beinahe schmeichelhaften 0:1 rettet sich der Titelanwärter in die Kabinen.

Die Pause nutzt Trainer Daniyel Cimen für einen Doppelwechsel. Wohl dem, der in der Oberliga auf solch einen Kader zurückgreifen kann, dass man so einen Mann wie Markus Müller von der Bank bringen kann. Der Eberswalder steht immerhin bereits bei 13 Saisontreffern und hat in seiner Vita u.a. 31 Regionalligatore für Offenbach und 16 Drittligatreffer für Babelsberg stehen. So einer wird fünftklassig sicherlich noch einmal für Furore sorgen können…

Zunächst einmal ist es jedoch Löhe, der noch einmal Harakiri spielt und ein weiterer katastrophaler Fehlpass im Spielaufbau bringt Lohfelden in Stellung. Die Gäste sind aber längst nicht mehr so zielstrebig wie im ersten Spielabschnitt und die Hausherren übernehmen nach und nach das Kommando. Stimmungsmäßig tut der Stadionsprecher selbiges, der den trägen Gießener Haufen nach Verkündigung der Zuschauerzahl zu animieren versucht, hiermit zunächst aber scheitert.

Nach gut einer Stunde ist der Bann endlich gebrochen und eine der vielzähligen guten Flanken von Alban Lekaj findet in Damjan Marceta endlich einmal einen Abnehmer, der den Ball aus Nahdistanz einnicken kann. Nun wechselt Lohfelden doppelt, bringt hierdurch aber eher weitere Unruhe in das eigene Spiel und Gießen drückt auf das Tempo und das 2:1: Antonaci scheitert an Gästekeeper Zunker (62.) und Marceta trifft im Nachschuss etwas überhastet nur das Außennetz, nachdem er im ersten Anlauf per Kopf gescheitert war (65.). Der Stadionsprecher versucht weiterhin Aufstiegsstimmung zu generieren, die geschriene Frage „Gießen, wo seid ihr?“ hat durchaus ihre Daseinsberechtigung, aber keinen spürbaren Effekt.

Gießen bringt die eigene Spielidee mit neuem Personal und veränderter Grundformation deutlich besser auf den Platz und schnürt seinen Gegner weiter hinten ein. In der 77. Minute scheitert Fink, der den Ball nach etwas Ping-Pong im Strafraum urplötzlich auf dem Fuß hatte, aus der Drehung am glänzend aufgelegten Zunker. Vier Minuten später vergibt Müller die nächste große Gelegenheit – sein Abschluss rauscht nur knapp am langen Pfosten vorbei. Auch der Stadionsprecher wird nun energischer und bringt es auf den Punkt: „Gießen, Ihr seid zu leise!“. Nur noch neun Minuten zu spielen, die Gäste haben ordentlich Beton angerührt und Fetti, der bereits etwas traurig durch das Programmheft blättert, sieht seine Freibierchancen schwinden.

Dann aber fasst sich Johannes Hofmann ein Herz und nagelt den Ball in der 88. Minute aus gut 20 Metern in den Knick. Näher an das Tor wäre der FC Gießen heute auch nicht mehr herangekommen. Endlich brandet Jubel im weiten Rund auf, der aber schnell wieder verebbt.

Bereits die Aufstiegsfeier im direkten Anschluss darf emotional als halbgar beschrieben werden, obwohl der Hessische Fußballverband eine recht ansehnliche Schale überreicht und die Übergabe professionell vorbereitet wirkt. Verbandspräsident Reuß freut sich in seiner Rede diebisch, dass „das Konstrukt in Gießen so gut angenommen wurde“ und meint dies als aufrichtiges Lob und als solches wird es vom Publikum auch aufgefasst. Soweit ist es mit Fußballdeutschland im Jahre 2019 also schon gekommen – das Wort Konstrukt auch einfach mal positiv besetzen! Klar, dass man von so einem Verein dann auch nicht mehr zu erwarten hat, als einen Jahrmarkt hinter dem Tor, einen schreienden Stadionsprecher und eine Aufstiegsfeier mit 20 Mann auf dem Platz.

Immerhin schreit der Schreihals nur noch einmal und das was er schreit, ist wie Musik für FUDUs Ohren. Es gibt 200 Liter Freiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiibiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiier! Klar, dass wir da noch ein wenig im Stadion verweilen, um mit den 50 Fans, die nicht sofort nach Hause eilen, den Aufstieg begießen zu können. In der Regionalliga Südwest starten in der kommenden Saison wirklich viele Traditionsvereine. Und der FC Gießen. In einem noch schönen Stadion. /hvg

03.05.2019 SG Barockstadt Fulda-Lehnerz – KSV Hessen Kassel 6:2 (3:0) / Stadion Johannisau / 1.300 Zs.

Am zweiten Mai 2019 hat die SG Eintracht Frankfurt im Hinspiel der Europa League dem Chelsea FC ein 1:1 abgeknöpft. In Berlin wurden zum Fußball Äppelwoi, Rindswurst und „Frankfurter Pilsener“ gereicht. Selten fühlte sich Fetti auf eine Reise derart gut vorbereitet, als er nur einen Tag später in Richtung Hessen aufbricht. Die Vorfreude auf diese Reise ist groß, seit im Gruppenforum FUDUs ein Wahlplakat von 2013 aufgetaucht war: „Chancen, Bildung, Beer“, lautete der verheißungsvolle Dreiklang, der Hessen in Fettis Wahrnehmung seitdem zu einer Art gelobtes Land hat werden lassen. Klar, dass da auch ein eigener Dreiklang komponiert werden musste: Einmal Fulda, Gießen und einen Auswärtssieg in Darmstadt, bitte.

Als ich am Freitagmorgen um 7.28 Uhr den ICE betrete, ist der Erholungsaspekt meines eingereichten Urlaubstages bereits ganzheitlich spürbar. Es ist zwar noch früh am Morgen, aber Fetti ist schon Fulda! Wer würde sich nicht darüber freuen, endlich einmal wieder mitten in der Nacht aufzustehen, um ein Oberligaspiel sehen zu können? Zwar wird der 31. Spieltag der „Hessenliga“ mit dem ewig jungen Klassiker zwischen Osthessen (Fulda) und Nordhessen (Kassel) heute erst um 18.30 Uhr im „Stadion Johannisau“ eröffnet, doch wer mag sich schon mit dem rumänischen Kassenwart anlegen, wenn dieser wieder einmal eine Direktverbindung für 21,75 € ausfindig gemacht hat? So kommt man also in den etwas zweifelhaften Genuss, die „wunderschöne Barockstadt Fulda“, wie der Zugbegleiter vollmundig verspricht, bereits um 10.48 Uhr erreicht zu haben.

Das „Altstadthotel Arte“ punktet zunächst einmal mit seiner Adresse, die die erste Steilvorlage für einen gelungenen Scherz liefert. Ich tippe also die Anschrift „Doll 2-4“ in mein Handy und schicke im Geiste Grüße nach Hannover, wo Thomas Jens-Uwe „Ist doch alles Blablabla“ Doll seit seines Amtsantritts in etwa 2-4 Punkte geholt haben dürfte. Hoffentlich kein schlechtes Omen für die spätere Hotelbewertung bei booking, denkt sich Fetti, als er kurz darauf um die Ecke biegt und erspäht, dass sich direkt gegenüber seiner Unterkunft das „Hohmanns Brauhaus“ befindet. „Gute Lage“, notiert Fetti und nickt wohlwollend. Die ersten fünf von zehn Punkten sind dem Hotel nicht mehr zu nehmen.

Es ist mittlerweile 11.09 Uhr geworden. 50% der Bestbewertung hat das „Arte“ also bereits wenig kunstvoll eingestrichen, doch die halbe Miete ist das bekanntlich ja noch lange nicht. Es folgt jedenfalls ein ordentlicher Schlag in den Schweinemagen, als Fetti verkündet wird, dass sein Zimmer leider erst um 15.00 Uhr bezugsfertig sein wird. Immerhin ist man hier jedoch so freundlich und kann den Rucksack zur Aufbewahrung entgegennehmen. 6/10!

Im Folgenden stürzt sich Fetti ins Getümmel des „kulturellen Zentrums Osthessens“ mit immerhin 68.635 Einwohnern. Geprägt ist das Stadtbild zunächst einmal von Plakaten, Wimpeln und Fähnchen, die auf ein Stadtjubiläum hinweisen. Erstmals wurde Fulda im Jahre 744 urkundlich erwähnt, da liegt es Anno 2019 natürlich auf der Hand, den 1275. Geburtstag der Stadt zu feiern. Der wohl unrundeste Geburtstag, der jemals auf diese Art und Weise präsentiert worden ist. Da wird man schon neugierig, in welcher Amtsstube so wenig zu tun war, dass irgendwer so lange gelangweilt auf einem Taschenrechner herumdrücken konnte (7353315!), bis das mit dem „Jubiläum“ zufällig ans Tageslicht gekommen war…

1275 Jahre nach Stadtgründung ist das „Tourismus- und Kongressmanagement Fulda“ am Bonifatiusplatz jedenfalls bestens auf Gäste eingestellt, die sicherlich eigens wegen dieser Feierlichkeiten anreisen werden. Einen Stadtplan und eine Übersicht über die Sehenswürdigkeiten kann man hier entgeltfrei aushändigen und auch die darauf folgende Werbeveranstaltung hält sich hinsichtlich ihrer Penetranz in Grenzen. Um 12.00 Uhr würde hier eine 60 minütige Stadtführung starten und für gerade einmal neun Euro könnte man dabei sein, wenn in gut 45 Minuten irgendein Schirmträger so eine Art Rentner-Tinder anleiten und einem vermutlich über jedes einzelne Fenster des Fuldaer Doms Legenden erzählen wird. Da ich bereits kurz nach Check-In ausführlich von dem etwas schrulligen Rezeptionisten des „Altstadthotel Arte“ auf diesen „einzigartigen Stadtrundgang“ hingewiesen worden bin, höre ich eh nur noch halbherzig zu, bedanke mich dann artig, lehne aber dankend ab. Zum Abschied winke ich mit dem Gratisstadtplan, mit dem es mir unter Umständen gelingen wird, wirklich alle Hotspots der Weltstadt Fulda selbstständig zu finden.

Und siehe da, kaum hat man das Informationsgeschäft verlassen, schon tun sich in Sichtweite die beiden wichtigsten touristischen Anlaufstellen der Stadt auf. Vis-a-vis befindet sich das Fuldaer Stadtschloss mit Schlossgarten, dreht man sich einmal nach links, schon hat man freie Sicht auf den Dom St. Salvator und den Domplatz. Die beiden Prachtbauten nach Plänen von Johann Dientzenhofer bilden das Herzstück des sogenannten Barockviertels – und damit wäre im Grunde genommen auch schon alles gesehen. Joa. Wieder neun Euro gespart, würde ich sagen.

Eine knappe Stunde führe ich mich dann aber doch durch die Stadt, erkunde den wirklich schönen Schlossgarten samt Orangerie und „Floravase“ (heute stilvoll hinter Bauzäunen präsentiert) etwas genauer und treffe hierbei sogar auf freilebende Krokodile. Wie sich dieses kreative Performancekünstlerkollektiv wohl nennen mag? Vielleicht Ali and the Gators? Muss ich nachher im „Arte“ mal nachfragen…

Das Wetter ist prächtig und so versprühen im weiteren Verlauf des Stadtspaziergangs auch die Gassen der Altstadt in der Mittagssonne einen gewissen Charme. Sollte der erst heute Abend eintreffende Speckgürtel FUDUs (Zitat: „Ich habe die Buchung für Fulda etwas verkackt. Gestern waren da noch schön günstige Tickets und dann kam Besuch und ich habe meine Buchung nicht beendet. Es wird bei mir wohl darauf hinaus laufen, dass ich doch erst abends komme und die erste Halbzeit verpasse.“) morgen Interesse an einer Stadtführung haben, ich wäre bereit dafür. Für nur acht Euro zeige ich ihm in 55 Minuten Fulda in seiner ganzen Pracht – und der „Hexenturm“ ist da dann auch schon mit dabei!

Für mich ist es nun an der Zeit für mein traditionelles Auswärtsschnitzel. Zwei Stunden vor Check-In beziehe ich Quartier im „Hohmanns Brauhaus“ und schaue wehmütig auf mein Hotel gegenüber. Das Essen mundet, allerdings weiß ein regionaler Hit-Radiosender mit grenzdebilen Moderatoren aus dem Animateurseminar und einem Musikpotpourri aus der Hölle geschickt zu verhindern, dass man hier freiwillig noch eine zweite Runde bestellen mag. Auch, wenn mich das „Fuldaer Kellerbier“ durchaus interessiert hätte. So aber muss ich noch andernorts ein wenig Zeit überbrücken und das Motto: „Bring mal ’n Bier mit, Du wirst schon wieder hessisch!“ wird geboren. In der Kaufhalle bietet man dem geneigten Touristen mit Hang zu Alkoholismus regionale Spezialitäten feil: Neben zwei Flaschen „Hochstift Pils“ wandert auch ein Sechserträger „Fuldaer Stadtbräu“ selbiger Brauerei in den Jutebeutel. Da wird der Nachkömmling aber Augen machen, wenn er unser Hotelzimmer nach Abpfiff derart attraktiv dekoriert sehen wird.

Der Check-In mit den klimpernden Flaschen im Bierigel animiert den Rezeptionisten dazu, mir feierlich zu verkünden, dass das Frühstück morgen im Brauhaus gegenüber gereicht wird. Ich sag mal: 7/10! – und verschwinde zwecks Verköstigung des ersten der ersten beiden „Stadtbräus“ im Zimmer und verliere so wertvolle Zeit. Richtig Stress ist, wenn man im Urlaub seinen Mittagsschlaf auf TM legen muss.

Nach dem Nickerchen geht der zwanzigminütige Spaziergang zum „Stadion Johannisau“ leicht von der Hand. Nur kurz beschäftigt mich das Schicksal der „Rhöner Rosetteneule“, schon bin ich am vermeintlichen Ziel meines Fußwegs angekommen. Angesichts der vielen Kasseler Schlachtenbummler um mich herum, wähne ich mich allerdings zunächst am Gästeblock. Der Ordner meines Vertrauens entschuldigt sich, dass er heute zum ersten Mal eingesetzt wird und nicht weiß, wo er gerade steht und wo sich die anderen Eingänge des Stadions befinden. Für die Auseinanderhaltung von Heim- und Auswärtsfans ist er offenbar ebenfalls nicht ausgebildet und so umkreise ich in Folge die Spielstätte, die mitten im Grünen liegt und rund um Käsbach und Aueweiher nahezu phantastische Möglichkeiten für Drittortauseinandersetzungen bieten würde. Doch auf derartige Gewaltphantasien muss man sich hier gar nicht erst weiter einlassen – kurz darauf hat sich nämlich herausgestellt, dass sich Fuldaer und Kasseler Fußballfreunde heute einen Eingang teilen müssen und sich dann ohne Taschen- oder Leibesvisitation im Stadion, in dem es keine Blocktrennung im eigentlichen Sinne gibt, selbst in Gast- und Heimbereich einsortieren dürfen. „Derby“ mal anders!

Das Stadion hat sich bereits weit vor Anpfiff ordentlich gefüllt. Beim Erwärmen der Mannschaften spielen die gastfreundlichen Fuldaer erst die Hymne des KSV Hessen Kassel ein und setzen im Anschluss auf eine musikalische Bandbreite von „Bamboleo“ bis „Böhse Onkelz“. Ein Kassel-Fan mit Thorhammer-Kettenanhänger, der den Gästeblock in der Kurve noch nicht gefunden hat und unnötigerweise auf der Gegengerade herumlungert, singt begeistert mit – ich verrate aber nicht, bei welchem der beiden genannten Lieder. Abzüge in der B-Note erhält Fuldas Spielstätte wegen der überraschend modernen sanitären Anlagen und aufgrund des Umstandes, dass es kein Fassbier zu erwerben gibt. Das aus 0,33 Liter Flaschen abgefüllte „Stadtbräu“ schlägt mit stolzen 2,40 € zu Buche. Zusätzlich übertreibt es der Stadionsprecher in Folge mit der Anbiederei gegenüber der 350 mitgereisten Nordhessen, indem er die „großartige Vereinsgeschichte“ der Gäste hervorhebt und dann weitere Vereinslieder des KSV vorspielt. Was man eben so macht, wenn es über den eigenen Verein nichts zu senden gibt – aber dazu später mehr.

Hessen Kassel bietet laut Programmheft das kongeniale Innenverteidigerduo Tim-Philipp Brandner und Tim Philipp Brandner auf und wirft im Sturm Sympathieträger Mahir Sağlık nach abgesessener Sperre (gelb-rot im „Rekordspiel“ gegen den KSV Baunatal vor 15.488 Zuschauern → Rekord verpasst) wieder ins Rennen. Bei den Gastgebern vermisst man Sturmlegende Christopher Bieber schmerzlich, der überraschend nicht im Kader steht. Und schon eröffnet Schiedsrichter Gahis Safi die Partie zwischen dem Tabellenfünften und den um zwei Rängen besser positionierten Gast aus Kassel, der mit aller Macht in die Regionalliga drängt.

Gerade einmal zwei Minuten sind gespielt, als ein Akteur des KSV mit einem Heber aus gut 30 Metern Fulda-Schlussmann Wolf um ein Haar überraschen kann. Die Schlagzahl des Spiels bleibt hoch. Wieder vergehen nur zwei Minuten bis zum nächsten Höhepunkt – eine Broschke-Flanke von der rechten Seite kann Fuldas Mittelstürmer Dominik Rummel per Kopf verwerten. Da im Stadion kaum jemand lautstark jubelt, folgt Rummels Tor eben auch ein Rummel vom Band. Unfassbar ohrenbetäubendes Geschrei (Tor! Tor! Tor!) dringt durch die Lautsprecher, ein älterer Herr wendet sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ab. So kann man Freude über Treffer der eigenen Mannschaft natürlich auch im Keim ersticken. Der zweite Hörsturz folgt lediglich sechs Minuten später, als Fulda seinen zweiten Angriff über drei Stationen eiskalt verwerten kann. 2:0 durch Strangl – Jabbadabbadoo!

Der nächste Angriff der Barockstadt ist wunderbar vorgetragen. Mit 5-6 Pässen ist man in den Strafraum des KSV eingedrungen und ich ertappe mich dabei, wie ich regelrecht darauf hoffe, dass der letztlich durch einen Doppelpass freigespielte Broschke aus Nahdistanz scheitern möge – aus bloßer Angst vor dem erneut einsetzenden Torjingle. Doch diesen Gefallen tut der zweite nominelle Stürmer der Hausherren mir und den anderen 1.299 Zuschauern nicht und so steht es bereits nach 20 Minuten völlig überraschend 3:0.

Der melodiöse Dauersingsang aus Kassel verklingt und im Stadion hört man nun die Vögel zwitschern. Ansonsten herrscht die sprichwörtliche Totenstille, während das eigentlich zu Euphorie anregende Spiel dem Halbzeitpfiff entgegen plätschert. Das hat man nun davon, wenn man es sich mit der aktiven Fanszene verscherzt – aber dazu später mehr.

In der Halbzeitpause gibt es auf dem Grill leider keine Wurst mehr, dafür steht das vorbereitete Bier in der Abendkühle herum und lädt Zechpreller geradezu dazu ein, 2,40 € zu sparen. Klar, dass sich Fetti, der gerade erst in einem Crashkurs seines rumänischen Kassenwarts gelernt hat, dass man das meiste Geld beim Bezahlen verplempert, sich da nicht zwei Mal bitten lässt. Kurz darauf kommt auch FUDUs zweiter Mann, der noch immer über keinen passablen Spitznamen verfügt, endlich mit einem Bus am Stadion an. Kurzzeitig stand die Überlegung im Raum, auf ein Taxi zurückzugreifen, da der gemeine Fuldaer keine Busverbindung in die Sportstätte benennen konnte. Wie auch immer, die Kosenamenfindung wird in jedem Fall vorerst vertagt, da sich Wortspiele mit dem Wiewort „dumm“ und unserem aktuellen Standort „Johanissau“ natürlich verbitten lassen.

Gemeinsam werfen wir dann endlich einen Blick in das weite Rund, um die Schönheit der Spielstätte angemessen würdigen zu können. Eine große Haupttribüne, eine unüberdachte Gegengerade, ein wenig Gebüsch zwischen den Blöcken, ausufernde Kurvenbereiche, wunderschöne Flutlichtmasten. Kurzum: Ein Stadion, das genau diesen Namen verdient und ein Ort, an dem ich mich immer sehr viel wohler fühle, als in einer dieser modernen Arenen, in denen es nicht mehr um Fußball geht, sondern nur noch darum, wer die tollste Lichtorgel vorzuweisen hat. Das „Stadion Johannisau“ existiert jedenfalls seit 1957, wurde dann und wann baulich verändert und fasste zu Hochzeiten an die 30.000 Zuschauer. 1963 strömten 26.000 Besucher zu genau der Partie des heutigen Tages, später wurde die Kapazität „aus Sicherheitsgründen“ nach und nach reduziert. Nunmehr fasst das Stadion noch 18.000 Zuschauer. Längerfristig soll es zur Erfüllung der aktuellen Auflagen der Regionalliga modernisiert und auf 10.000 Plätze zurückgebaut werden. Es ist davon auszugehen, dass spätestens dann von dem aktuellen Charme nicht mehr viel übrig bleiben dürfte.

Die geäußerten Sorgen des zu spät gekommenen, dass hier bei einem Spielstand von 3:0 zur Halbzeit nicht mehr viel passieren wird, sind alsbald obsolet. Es sind erst acht Minuten im zweiten Abschnitt gespielt, als Fuldas Dennis Müller irgendwo im Niemandsland des Mittelfelds völlig übermotiviert, überhart und einigermaßen sinnlos in Brian Schwechel rauscht. Der Brian schwächelt zwar nur kurz und kann dann glücklicherweise weiterspielen, doch die einzig logische Konsequenz für Müller lautet: glatt Rot!

Das sollte den Gästen, die gegen Ende der ersten Hälfte schon zu zwei Chancen auf den Anschlusstreffer gekommen waren, doch in die Karten spielen – doch weit gefehlt. Hessen Kassel agiert in Folge völlig kopflos, stürmt ohne taktisches Kalkül nach Vorne und löst viel zu früh die Defensive auf. In Unterzahl nimmt Strangl einen weiten Ball aus der eigenen Hälfte bereits an der Mittellinie auf und hat nur noch einen einzigen Zweikampf zu führen, bevor er den Ball zum „umjubelten“ (Tor! Tor! Tor! Jabbadabbadoo!) 4:0 ins lange Eck legen kann. Und die Demütigung des KSV nimmt kein Ende – nur vier Minuten später verlieren die Nordhessen einen Ball im Mittelfeld, hinten fehlt es an jeglicher Absicherung und so rennt Broschke, der den Ball selbst erobert hatte, 50 Meter alleine auf den Keeper zu und schiebt überlegt zum 5:0 ein (62. Minute).

Eine rote Karte und zwei Tore in einer knappen Viertelstunde. Nicht schlecht, Dr. Specht! Als hätte sich das Nachkommen nicht ohnehin bereits völlig ausgezahlt, kann der Dramaturgie des Abends noch ein weiteres Schmankerl hinzugefügt werden. Nach 65 Minuten beziehen ein Dutzend Männer Stellung in der verwaisten Kurve zu unserer Linken und recken Spruchbänder empor. „Borussia grüßt den KSV!“, so die Aufschrift der zuerst gezeigten Tapete, beantwortet durch „In Fulda, in Fulda, nur Borussia!“-Rufe des Gästeblocks. Dies ruft wiederum den Stadionsprecher auf den Plan, der nun trotzig entgegnet: „Die SG Barockstadt Fulda-Lehnerz begrüßt die ehemaligen Fans der Borussia!“. Weitere Tapeten folgen: „SG Barackenstadt. Keine Fans! Kein Erfolg! Keine Zukunft!“ und „Fulda ist Borussia“ steht auf diesen geschrieben. „Tradition, Kampf und Leidenschaft – sonntags bei Borussia“ wird zum Abschluss samt etwas Pyrotechnik präsentiert und lädt den geneigten Stadionbesucher zum nächsten Heimspiel der neugegründeten Borussia Fulda in die Kreisliga auf Kunstrasen, der regelmäßig von 300-400 verprellten Fuldaer Fußballfans gesäumt wird. Die Fusion im Jahr 2018 von Borussia Fulda und dem TSV Lehnerz 1965 mit einhergehender Aufgabe des Traditionslogos und des Vereinsnamens war mit absoluter Sicherheit eine ganz hervorragende Idee…

Die letzten Highlights des Abends werden wieder auf dem grünen Rasen verzeichnet. In der 75. Minute wird ein Abschluss von Sağlık noch gerade eben so von der Linie gekratzt, im Gegenzug bestraft Strangl die Auflösungserscheinungen in der Defensive des KSV mit dem 6:0. Erst durch den sechsten Treffer werden die Nordhessen etwas wachgerüttelt, schließlich könnte es am Ende der Saison im Duell mit Bayern Alzenau auch um die Tordifferenz gehen, um als Tabellenzweiter noch aufsteigen zu können. So werden trotz des aussichtslosen Spielstandes noch einmal neue Kräfte geweckt. In der 86. ist es erneut Sağlık, der scheitert, doch nach zwei Eckstößen kommt der KSV wenigstens noch zu zwei späten Toren (Sebastian Schmeer, 86. und 90. Minute), die dazu führen, dass man hier glimpflich mit einer -4 davonkommt.

Die SG Barockstadt Fulda-Lehnerz qualifiziert sich im Anschluss mit spielerischer Leichtigkeit für die Rubrik Scheißverein, indem der Stadionsprecher nun lauthals den „Sieg der neuen Fußballtradition“ verkündet. Das Stadion leert sich, ein paar Kinder schwenken alte Borussia-Fahnen und der Inklusions-Heimblock, bestehend aus vier Menschen mit Tröten und einer Trommel, läuft noch einmal zu Hochform auf.

Uns zieht es zielstrebig in den „Hansa-Keller“, auf den ich im Rahmen meines Stadtspaziergangs aufmerksam geworden war. Wie der Name verspricht, wird hier feinste Balkanküche im Souterrain geboten und der Wirt ist so freundlich, uns gegen 22.00 Uhr noch einmal den Ćevapi-Grill anzuschmeißen und dazu „Hochstift“ aus dem Tonkrug zu reichen. Der Abend endet dann mit „Stadtbräu“ im Hotelzimmer und der erwarteten Freude des Nachkömmlings, der das Ambiente des „Arte“ so locker mit 7,5 von 10 bewerten kann.

Am nächsten Morgen begrüßt uns ein widerlicher Graupelschauer, der an unsere Fenster peitscht. Das Frühstück im Brauhaus gegenüber ist zwar durchaus attraktiv verortet, führt nun aber auch dazu, dass man eben über die Straße und durch den Schneeregen laufen muss. Klarer Abzug hinsichtlich des Komforts, zurück auf 7 von 10! Gut gestärkt kann ich im Anschluss die Schönheiten Fuldas bei eher mittelmäßiger Wetterlage auch in weniger als 55 Minuten präsentieren und schon steht die 78 Kilometer lange Weiterreise gen Westen in die Universitätsstadt auf dem Programm. Hoffentlich gibt es da auch Chancen, Bildung und Beer. Und hoffentlich wird’s nicht den ganzen Tag gießen. /hvg

27.04.2019 SV Blau-Weiß Petershagen-Eggersdorf – SV Grün-Weiß Lübben 3:0 (0:0) / Waldsportplatz / 171 Zs.

Noch vor wenigen Tagen bin ich mit einem lange aufgeschobenen Besuch des BSV Eintracht Mahlsdorf meinem Ziel, die Berlin-Liga irgendwann einmal komplett zu haben, etwas näher gekommen. Mitten in die noch bestehende Euphorie, ausgelöst durch die Jagd auf sinnlose Kreuze, erreicht mich eine Anfrage aus Neuruppin. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, mich zu fragen, ob ich nicht schon immer einmal in meinem Leben nach Petershagen-Eggersdorf gewollt hätte. Sofort fühle ich mich von dieser Nachricht abgeholt und auch ohne, dass ich dieses Unterfangen auch nur ansatzweise in Frage gestellt hätte, ergänzt der Mann aus dem Speckgürtel – beinahe so, als müsse man sich für gute Ideen rechtfertigen – dass ihm nur noch der „Waldsportplatz“ zur Komplettierung der Brandenburg-Liga fehlt. Na, da komme ich doch gerne mit. Man hilft eben, wo man kann.

Nach einer kleinen Vorabrecherche ist Fetti bereits in den gastgebenden Verein und dessen Website verliebt. Die Internetpräsenz des Sechstligisten ist liebevoll gestaltet, auf tagesaktuellem Stand und kommt zudem in höchst professioneller Optik daher. Um die Vorfreude auf den Stadionbesuch bereits ins Unermessliche zu steigern, wird dem geneigten Hopper eine imposante Luftbildaufnahme des Sportplatzes präsentiert („Unser schöner Waldi!“) und die eigene Vereinsgeschichte mit einem kleinen Augenzwinkern näher gebracht. 1995 fusionierten die Fußballmannschaften aus Petershagen und Eggersdorf also und schreiben seitdem Geschichte als „blau-weißes Doppeldorf“. Mit einer angemessenen Prise Selbstironie sammelt man bei FUDU immer Punkte!

Als der Brandenburgligist kurz darauf zum „Frühjahrsputz“ auf den „Waldsportplatz“ lädt, hört der Spaß für mich jedoch auf. Ab 9.00 Uhr soll die Sportanlage am Spieltag von Unrat befreit, Sitzschalen geschrubbt und irgendwelche Rohre im Kabinentrakt neu gestrichen werden. Da muss Fetti dann wohl doch konkretisieren: Man hilft eben, wo man kann – aber nur nach dem Aufstehen…

… und das ist am Samstag mitunter eine echte Herausforderung. Heute kommt es jedenfalls zu derart vielen Verzögerungen im Betriebsablauf, dass auch die Einladung zweier FUDU-Jünger in das Ladenkino „b-ware!“ letztlich ausgeschlagen werden muss. Um 11.00 Uhr gibt man sich hier die volle Dröhnung Melancholie. „Unser Team – Nossa Chape“ ist für einen unbeschwerten Start in den Tag natürlich das optimale Programm. Unser aller Fetti hat jedoch bereits genügend Blei in den Füßen und dreht sich so mit spielerischer Leichtigkeit lieber noch einmal um, anstatt sich der Exkursion ins Lichtspielhaus anzuschließen. Naja, der Film wäre eh langweilig geworden – weiß ja jeder, wie’s ausgeht.

Irgendwann hat sich aber auch Fetti endlich aufgerappelt und sich aus der Suhle gequält. Der Film neigt sich langsam dem Ende entgegen und so begibt sich Fetti, der treue Gesell, auf den Weg in das Kino, um seine Freunde einzusammeln und emotional aufzufangen. Kurz darauf ist es jedoch er, der emotionale Unterstützung benötigt, ist doch in seinem Späti des Vertrauens das „Berliner Pilsner“ schon wieder ausverkauft. „Ja, Herrschaftszeiten, das ist ja schlimmer als ein Flugzeugabsturz!“, poltert die dumme Sau in das Ladengeschäft hinein und erntet nicht nur tröstende Blicke des Verkäufers, sondern auch einen Vorschlag zur Güte. „Wenn Du eine Stunde wartest, dann gibt es neues Berliner!“. Fetti, der mit bürgerlichem Namen übrigens Justin Acceptable heißt, lehnt dankend ab und greift anstatt dessen erneut zu B-Ware minderer Qualität.

Genau das richtige Getränk also, um kurz darauf die Ausschussware FUDUs in Empfang zu nehmen. Etwas niedergeschlagen kommen mir die beiden Cineasten schon in die Arme gelaufen, aber immerhin haben sie den Film trotz des erwartbaren dramatischen Ausgangs bis zum Ende durchgehalten. Ich ziehe meinen Hut und sag mal: ‚Chapo!‘ und kann nun meinerseits meinen Teil dazu beitragen, um in Folge für etwas Ablenkung zu sorgen. Auf in die Brandenburg-Liga, auf nach Petershagen-Eggersdorf!

Der Neuruppiner kennt sich in Berlin und Umgebung bestens aus und so kann es ihn auch nicht schocken, dass die S-Bahn heute nur bis zum Bahnhof Lichtenberg verkehrt. Schnell ist ein Plan B geschmiedet und mit einer absoluten Glaubwürdigkeit hat er selbstbewusst vorgetragen, dass die gerade einfahrende Regionalbahn nach Strausberg für uns ein absoluter Glücksfall wäre. Der Bahnhof Strausberg (nicht zu verwechseln mit Strausberg-Nord oder Strausberg-Stadt) sei ohnehin viel näher am Spielort gelegen als der ursprünglich angepeilte S-Bahnhof Petershagen Nord – und schon springt der leichtgläubige Fetti auf den Zug. Noch während der kurzen Fahrt fällt dem jungen Mann mit der ausgeprägten Selbstsicherheit trotz grenzenloser Ahnungslosigkeit auf, dass er soeben ordentlich Paste erzählt hat und nun muss dieser kleinlaut zugeben, dass der Bahnhof Strausberg stolze 4,1 Kilometer, der Bahnhof Petershagen-Nord aber lediglich 1,4 Kilometer von der Spielstätte entfernt liegt.

Fetti lässt sich hiervon jedoch nicht die Laune vermiesen, kommt er doch am Bahnhof Strausberg in den Genuss, endlich einmal wieder eine ordentliche Portion unnützes Wissen vom Stapel zu lassen, als der Zug zum Halten kommt, sich die Türen öffnen und den Ausstieg nach beiden Seiten des Gleises ermöglichen. „Wenn sich beiderseits Bahnsteige befinden, dann sprechen wir Bahnfreunde von der ‚Barcelona-Lösung’“, referiert Fetti weltmännisch geschickt, liegt hiermit aber ebenso daneben wie der ortsunkundige Kollege aus Brandenburg bezüglich der Anreiseplanung. Zwar ist damals kein Widerspruch eingelegt worden, doch die Chronistenpflicht gebietet es, auch diesen Irrtum an dieser Stelle richtig zu stellen: Es ist die „Spanische Lösung“ – die allerdings erstmals zumindest „vermeintlich“ (Quelle: Wikipedia) in den 1930er-Jahren in der Metro Barcelona zum Einsatz gekommen war. Insgesamt also alles eindeutig weniger falsch als die Sache mit dem Ausstieg in Strausberg, Kollege.

Schnell ist die eine Station retour zurückgelegt und schon die ersten Schritte durch das „Doppeldorf“ verschaffen Klarheit darüber, dass es sich bei diesem Neologismus keineswegs um eine Erfindung der Fußballabteilung handelt. Auch die Politiker, die sich auf Werbeplakaten zur Wahl der Gemeindevertretung feilbieten, wollen „das Doppeldorf im Einklang von Mensch und Natur entwickeln“ und so scheint es sich also um offiziellen Sprech zu handeln. Sozusagen Stadtmarketing im ganz Kleinen, aber der Begriff „Doppeldorf“ bleibt trotzdem charmant. Meine Stimme würde ich dennoch dem Seebären Hans-Joachim Kannekowitz geben, der nicht nur aussieht wie eine Parodie, sondern auch noch so heißt. Außerdem überzeugt sein Wahlprogramm: „Gesunder Menschenverstand!“ – kann man ja auch mal probieren.

Einige wenige Minuten später haben wir den „Waldsportplatz“ in der „Wilhelm Pieck Straße“ erreicht. Der Cheftrainer hat sein Auto vorbildlich an dem zur Verfügung stehenden Platz abgeparkt und muss heute mutmaßlich auf Unterstützung seines Co-Trainers verzichten, dessen Parkplatz 20 Minuten vor Spielbeginn noch verwaist ist. Die Gäste aus Lübben haben die 75 Kilometer lange Reise mit zwei Neunern mit Vereinsemblem hinter sich gebracht und schon kann FUDU für 5 € pro Penis den frisch aus dem Frühjahrsputz kommenden „Waldsportplatz“ betreten.

Zu bestaunen gibt es vor Anpfiff in etwa 15 Sitzschalen auf der Längsseite, die vermutlich den Ehrenmitgliedern vorbehalten sind. Der Fanshop-Container bleibt heute leider unbesetzt und auch der Schaukasten nebenan hat vermutlich schon lange auf keine Höhepunkte mehr hinweisen dürfen. Dafür punktet das liebevoll gestaltete Vereinsheim auf ganzer Ebene und für Naturfreunde ist sicherlich auch der dichte Kiefernwald (?), der das Stadion säumt, hervorzuheben. Die Tür, die bitte immer verschlossen gehalten werden muss, damit Wildschweine nicht die Sportanlage zerstören, steht sperrangelweit offen und wir können Fetti nur mit Mühe und Not im Zaum halten. Als die gefühlsduselige Hymne  mit der wunderbaren Textzeile: „Es gab mal zwei Vereine, die liebten sich so sehr, die waren wie Geschwister und noch ein bisschen mehr…“ erklingt, ist jedoch endgültig kein Halten mehr. Ach, Liebe unter Geschwistern ist auf dem (Doppel)Dorf ja mitunter so’ne Sache…

Bei soviel Romantik ist jedenfalls davon auszugehen, dass der uns unbekannte Sänger im Tonstudio wohl mehrere Höhepunkte zu verzeichnen hatte, als das Spiel in den ersten 25 Minuten. Auf dem „Waldsportplatz“ zu Petershagen-Eggersdorf ist jedenfalls so lange tote Hose, bis der Ball urplötzlich im Ball der Lübbener zappelt, doch zeigt der Linienrichter unverzüglich an, dass sich der zurückgelegte Ball bereits im Toraus befunden hätte. „Kann passieren!“ wird zum geflügelten Wort und ist in der ersten Halbzeit die meist gedroschene Phrase beider Mannschaften, die sich alle 30 Sekunden irgendeinen Fehlpass oder Stockfehler schönmotivieren müssen. Schiedsrichter Toni Bauer fällt zu allem Überfluss auch noch negativ auf, indem er jeden Pfiff mit endlos langen Monologen unterfüttert – oder, wie es in den Notizen geschrieben steht: „Schiedsrichter labert schlimm viel“. So geht eine recht ereignislose erste Hälfte auf wirklich schwachem Niveau, in der die Gäste aus Lübben leichte Feldvorteile hatten, torlos zu Ende.

In der Halbzeit vermissen wir den „Blaufuchs“ schmerzlich. Das Maskottchen des „Doppeldorfs“ ist nicht nur ein blauer Fuchs im eigentlichen Sinne, sondern womöglich auch eine Hommage an einen Sponsor. Das „Hotel Blaufuchs“ befindet sich jedenfalls in gerade einmal 750 Metern Entfernung zum „Waldsportplatz“ und ist hier auf der einen oder anderen Werbebande präsent. Nicht nur die Website versprüht in Petershagen-Eggersdorf Professionalität, sondern auch das dort vorgestellte „Sponsorenkonzept“. Die scheinen auf jeden Fall einen Mann in ihren Reihen zu haben, der Ahnung studiert hat. Kann man jetzt drüber streiten, ob man voller Bewunderung auf das „Doppeldorf“ schauen und neidlos anerkennen sollte, dass man sich auf diesem Wege gut in der Liga etablieren und eigentliche „Big Player“ aus größeren Städten, wie z.B. Stahl Brandenburg, FC Schwedt, FSV Brieske/Senftenberg oder den 1.FC Guben hinter sich lassen konnte, oder ob man es etwas bedauerlich finden mag, dass man mittlerweile wohl auch in der sechsten Liga professionelle Strukturen etablieren muss, um konkurrenzfähig sein zu können.

In der zweiten Halbzeit wechseln wir auf die Gegengerade. Hier stehen dem geneigten Stadionbesucher Gartenstühle zur Verfügung, welche dem heutigen Frühjahrsputz aber ganz offensichtlich nicht zugeführt worden sind. Etwas pikiert schaut Fetti schon drein, dass er sich mit seiner weißen Armani-Großstädterhose hier auf das verdreckte Provinzplastik hocken soll, aber gut, wenn man die Brandenburg-Liga komplettieren kann, muss man eben Opfer bringen. Der Platz erweist sich jedoch alsbald als recht unterhaltsam, weil sich Cheftrainer Sedlak nun in schöner Regelmäßigkeit ans uns wendet. „Kam der Ball wirklich vom Gegner?“, „War doch klar Seits, oder?“, „Erste Aktion war doch aber von der 3, oder wie seht ihr das?“. Was soll man machen, wenn einem der Co-Trainer fehlt…

Die „3“ des Gegners ist übrigens niemand geringeres als René Trehkopf, der immerhin 116 Spiele in der zweiten Bundesliga, 22 Drittligaeinsätze und 54 Regionalligapartien für Aue, Chemnitz, Cottbus und Dresden in den Knochen hat und gerade zarte 39 Jahre alt geworden ist. Wie alle anderen Akteure hat er mit den Platzverhältnissen zu kämpfen. Aus unserer neuen Perspektive ist doch ersichtlich, wie viel Sand auf den Rasen gekippt worden ist, um Löcher zu stopfen. Und wie alle anderen Akteure wird auch Trehkopf Augenzeuge des ersten mustergültigen Angriffs des heutigen Abends. Zwei-Drei Pässe können die „Doppeldorf“-Kicker an den Mann bringen, was Keeper Rudolph bereits zu einem euphorischen „Das ist Fußball!“-Ruf veranlasst, doch diesen hätte er sich ruhig noch wenige Augenblicke aufheben können. Der Pass nach Linksaußen ist jedenfalls perfekt angebracht, die Flanke wohl temperiert, die Direktabnahme mit der Innenseite in den rechten oberen Winkel mustergültig. Maurice Ulm lässt sich nach 60 Minuten zurecht feiern, dazu läuft der „Superperforator“ aus dem „Schuh des Manitu“ als Torjingle. Unter diesen Umständen würde uns ein 1:0 genügen.

Ein Gefallen, den uns die nun befreit aufspielenden Hausherren nicht tun wollen. Nur neun Minuten nach dem 1:0 legt Anton Feiler nach einer Flanke von der rechten Seite per Kopf zum 2:0 nach. Im Anschluss wird wieder gebolzt und gestümpert, was das Zeug hält und hätte Lübbens Verteidiger Leupold nach 89 Minuten nicht völlig unbeholfen einen „Doppeldorf“-Angreifer im Strafraum von den Beinen geholt, hätte man auch keine weiteren Worte über das Spiel verlieren müssen. So aber kommt Kapitän Resad Demann noch in den Genuss, per Strafstoß auf 3:0 zu erhöhen. Im Anschluss holen sich die Mannen um Ex-Unioner Michael Kohlmann den verdienten Applaus der 171 Zuschauer ab – Schiedsrichter Bauer, der Name ist Programm, hat das Spiel soeben nach 89 gespielten Minuten um 16.44 Uhr abgepfiffen. Den 24. Spieltag beendet Petershagen-Eggersdorf auf Rang 11, Lübben auf 12 – womit auch in etwa das fußballerische Niveau des Spiels adäquat zusammengefasst wäre. Die Tabelle lügt eben doch nicht!

Für die Rückfahrt decken wir uns im Edeka am Kreisel noch mit einem Wegbier ein. Irgendein Aushilfsronny muss beim Auffüllen der Regale gestolpert sein, anders ist es nicht zu erklären, warum unsere Biere auf dem Weg zur S-Bahn dermaßen durch die Decke gehen. Welch eine überschäumende Freude – auch über die Unwägbarkeiten der Berliner S-Bahn. Der Zug aus Petershagen-Nord kommt aufgrund einer Signalstörung bereits in Mahlsdorf zum Erliegen und die dort einsetzende S5 schafft es mit Hängen und Würgen gerade so bis Wuhletal. Hier kann man dann aber glücklicherweise in die U5 hüpfen und die letzten Meter der Reise unterirdisch antreten. Wäre ja auch gelacht, wenn im Berliner Nahverkehr irgendwann irgendetwas mal komplikationslos vonstatten gehen würde. Aber, um es mit der B-Ware FUDUs zu sagen: So lange sie uns nicht über Kolumbien schicken, wird uns schon nichts passieren… /hvg

Und jetzt alle: Es gab mal zwei Vereine, die liebten sich so sehr, die waren wie Geschwister und noch ein bisschen mehr… ♪♫♪

22.04.2019 BSV Eintracht Mahlsdorf – SC Charlottenburg 3:1 (1:1) / Sportplatz am Rosenhag / 54 Zs.

Am Montagmorgen zeigt sich der nimmermüde Fetti von den Erlanger Alkoholeskapaden gut erholt und unternehmungslustig wie eh und je. Nach einem entspannten Couchsonntag ohne Fußball sollte es heute tunlichst ein neues Abenteuer geben, möchte man meinen, wenn man sich das arme Schwein so aus der Nähe betrachtet. Wie es schon wieder aufgeregt mit dem Ringelschwänzchen wackelt, wie es rastlos durch den Flur hastet, wie es auf der Suche nach neuen Trüffeln die Schnauze in den Groundhopping-Informer bohrt. Da kann die Devise für den Menschen zwangsläufig nur lauten: Keine Erschöpfung vortäuschen, die dumme Sau will schon wieder beschäftigt werden.

Da sich meine Reiselaune jedoch noch in überschaubaren Grenzen hält, kann ich mit Fetti wenigstens einen Kompromiss aushandeln. Heute kümmern wir uns endlich einmal um die Komplettierung der Berlin-Liga, in der es sozusagen in der Nachbarschaft noch den einen oder anderen Sportplatz abzuklappern gilt, anstatt quer durch die Republik zu düsen. Nur 18 Minuten Fahrzeit müssen heute bis zum S-Bahnhof Mahlsdorf in Kauf genommen werden, um am Ostermontag ein Kreuz machen zu können. Klingt entspannt – und Fetti kommt mal wieder an die frische Luft.

Die Fahrt verläuft zunächst einmal ereignislos, jedenfalls in den ersten 23 Sekunden. Dann bleibt die Bahn auf offener Strecke zwischen Warschauer Straße und Ostkreuz stehen und eine Durchsage von „technischen Problemen“ verheißt nichts Gutes. Schlimmer noch, dass sich nur ganz kurz darauf herausgestellt hat, dass das Familiensystem auf dem Vierersitz neben mir, bestehend aus einem Satellitenelternpaar und einem Terror-Sören, hier ganz offensichtlich den größten Schaden vorzuweisen hat. Ich habe meine helle Freude damit, zu beobachten, wie der kleine Teufel durch das Abteil tobt und seinen Eltern auf der Nase herumtanzt. Ein Trauerspiel, wie die Eltern all dies über sich ergehen lassen und wie jedes Verbot als liebevoll formulierte Bitte an Klein Sören herangetragen wird. Sören denkt jedoch gar nicht daran, eine dieser Bitten auch nur in Ansätzen Folge zu leisten und anstatt nun eine Konsequenz folgen zu lassen, orientiert man sich eben an Sörens Bedürfnissen. „Oder möchtest Du doch lieber noch einmal durch den Wagen rennen?“. Ihr Kind darf sich eben frei entfalten, da muss man dann auch damit leben, dass der fünfjährige Junge zu seinem Vater „Chill mal, Alter!“ und zu seiner Mutter „Ist jetzt mal Ruhe im Karton?“ sagt. Wird sicher später mal ein wertvoller Teil der Gesellschaft, dieser Wildfang. Mit fantastisch ausgeprägten Sozialkompetenzen. Und immer in der Lage, sich in gewissen Situationen unterzuordnen und Kompromisse zu schließen, wenn es notwendig ist. Da bin ich optimistisch.

In der Zwischenzeit ist der „schadhafte Zug“ in Berlin-Lichtenberg ausgetauscht worden und ich habe mir einen Platz fernab der Sozialen Arbeit gesichert. So vergehen also auch die letzten 23 Sekunden der Fahrt ereignislos. Kurz darauf betrete ich das „Grillhaus Mahlsdorf“ und bestelle einen Döner mit Sucuk. Dies hat zur Folge, dass ich dem guten Mann erklären muss, was ich mit dieser Bestellung denn meine und er reagiert gleichermaßen überrascht wie begeistert: „Was? Sowas gibt’s auch?“. Jede Wette, dass das „Grillhaus Mahlsdorf“ schon bald auf den unaufhaltbaren Knoblauchwurstzug aufspringen wird. Noch aber kredenzt man 1500 Meter von der brandenburgischen Landesgrenze entfernt der Stadtrandbevölkerung ausschließlich Döner Kebap à la 1999. Nix mit gegrilltem Gemüse, kein Schafskäse und hau mir ab mit einem Spritzer Limette. Komm mal schön von deinem hohen Ross herunter, Innenstädter! Ich jedenfalls falle mit meinen Wünschen derart unangenehm auf, dass ich meinen Döner und das Berliner bezahlen muss, bevor ich auf der Terrasse Platz nehmen darf. Bis um 12.45 Uhr scheint mir hier die Sonne ins Gesicht und so lässt sich die kulinarische Zeitreise zurück in meine Jugend ganz gut aushalten.

Auch der Fußweg zum Rosenhag knüpft nahtlos an diese Dekade meines Lebens an und so hat die spießige Einfamilienwohnhaussiedlung durchaus das Potential, an Heiligensee, Konradshöhe und Co zu erinnern. Unschlagbar schlimm sind die Dekorationsartikel, die der gemeine Mahlsdorfer offenbar gerne in Fenster und vor Eingangstüren stellt oder an Wände hängt. „Zu Hause ist dort, wo jemand bellt, um dich zu begrüßen!“ landet letztlich auf dem ersten Platz der kitschigen Grausamkeiten, regt mich aber auch zum Nachdenken an. In meiner Wohnung fühle ich mich jedenfalls selten bis nie „zu Hause“, war bislang aber davon ausgegangen, dass dies andere Gründe haben könnte. Wenn’s jetzt wirklich an einem fehlenden Kläffer liegt, wünsche ich mir an der Stelle doch glatt, dass ich in meinem Leben nie wieder ein zu Hause haben werde…

Der Kiezspaziergang wird glücklicherweise durch die Gewerbetreibenden des Viertels aufgewertet. An den „Frisurentrends“ aus Mahlsdorf (vergesst Rom, Paris, Erkner!) kann ich noch gerade eben so vorbeigehen, doch bei 26 Jahren „Intimvitrine“ drohe ich schwach zu werden. Annerose „Röschen“ Koschinski (70) betreibt einen Sexshop in ihrer Gartenlaube in der Florastraße. Zu schön, um wahr zu sein. Mein lieber Kokoschinski, heute ist ja Ostermontag und sämtliche Geschäfte sind geschlossen, fällt es mir bald wie Schuppen von den Augen. Schade, kann das Röschen wohl nicht defloriert werden…

Kurz nachdem das erotische Momentum in die Hose gegangen ist, stehe ich auch bereits vor dem „Sportplatz am Rosenhag“. Gegen eine Eintrittszahlung in Höhe von 5 € darf man den Sportplatz ohne jegliche Ausbauten betreten. Wegen des enormen Zuschauerandrangs (alles andere wäre zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation) wird das Spiel mit einer fünfzehnminütigen Verspätung beginnen. So bleibt genügend Zeit für einen kleinen Stadionrundgang und der Mahlsdorfer Schilderwald setzt sich fort. Fahrradfahren verbieten entspricht schon mal ganz meinem Geschmack, wird aber durch ein wunderschönes hundefeindliches Meisterwerk getoppt. „Hunde sind unerwünscht“ – was zumindest diesen einen Nachbarn als potentiellen Stadionbesucher ausschließen wird. Der fasst sich sicherlich just in diesem Moment an den Kopf: Und das bei einem Heimspiel? Wie soll man sich denn da wie zu Hause fühlen?

Kaum ist der Ärger über das Aufwärmtor verflogen, welches dergestalt versetzt auf der Tartanbahn herumsteht, dass die eine oder andere optische Täuschung beim Fußballgucken entsteht und welches die Fotomotive zudem enorm abwertet, sind auch schon die ersten 20 Minuten des Spiels ereignislos ins Land gezogen. Sieht ja aus wie in der Kreisliga – auf und neben dem Rasen. Nach eben diesen 20 Minuten zieht Mahlsdorf das Tempo erstmals an und geht nach einem ersten gut vorgetragenen Angriff direkt in Führung. Borchardt tankt sich auf der rechten Außenbahn durch, spielt den Ball mustergültig in den Rücken der Abwehr, wo Christoph Zorn wieder einmal an der richtigen Stelle steht und nicht nur eiskalt einschiebt, sondern sich auch derart robust gegen Charlottenburgs Verteidiger Steinert durchsetzt, dass dieser nach dem Treffer minutenlang behandelt und schließlich ausgewechselt werden muss. Bereits das 10. Saisontor von Zorn – sein 131. Karrieretor in der Berlin-Liga. Der Mann weiß, wie man sich im Strafraum bewegt.

In Folge spiegeln sich die Kräfteverhältnisse auf dem Rasen deutlich besser wider. Der Tabellensechste aus Mahlsdorf, der der Berlin-Liga seit 2006 angehört und in schöner Regelmäßigkeit in der Spitzengruppe mitmischt, spielt den Aufsteiger aus Charlottenburg nun kurzzeitig an die Wand. Der sportliche Leiter Torsten „Dackel“ Boer hat wieder einmal eine schlagkräftige Truppe zusammengestellt, zu der in diesem Jahr auch die drei Ex-Unioner Fritsche, Mrkaljević und Antunović gehören. Der Kader ist in der Spitze also bestens aufgestellt, nur in der Breite scheint es etwas zu mangeln. Neben Ersatzkeeper Greulich ist heute Adrian Antunović der einzige Auswechselspieler, der Trainer Volbert zur Verfügung steht.

Während ich diese Beobachtungen tätige, hat Christoph Zorn zwei weitere Hochkaräter auf dem Fuß. In der 25. Minute scheitert er nahezu unbedrängt aus fünf Metern Entfernung, zwei Minuten später setzt er zu einem sehenswerten Dribbling an, schickt zwei-drei SCC-Verteidiger ins Kino und lässt auch den letzten Verteidiger mit einem Haken ins Leere laufen, platziert dann den Heber aber lediglich auf das Tordach (auf das echte Tor, nicht auf das Aufwärmtor, glaube ich). Wer solche Gelegenheiten ungenutzt lässt, wird auch in der Berlin-Liga bestraft und so kommen die Gäste aus heiterem Himmel zum Ausgleich. Eine Freistoßflanke auf den ersten Pfosten kann Barz irgendwie über die Torlinie löffeln (33.). So geht es mit einem eher schmeichelhaften Remis in die Kabinen, das im zweiten Abschnitt aber für Spannung sorgen könnte.

In der Halbzeitpause statte ich natürlich dem Imbisswagen des Sportplatzes einen Besuch ab. Das Bier für 2,50 € erhalte ich jedoch leider nicht von der Tochter der Familie, die heute offenbar besseres zu tun hat, als ihren Vater beim Verkauf zu unterstützen. Es wäre sicherlich ein schönes Wiedersehen geworden, schließlich war sie es, die auf einer Hochzeitsfeier im Sommer 2013 hinter dem Tresen stehend dafür gesorgt hat, dass ich Baumstammsägen, Strumpfbandversteigern und manch unangenehmen Gast gerade so überlebt habe. Ein unvergesslicher Abend voll der Selbstgeißelung! Klar, dass die wohl schönste Erinnerung an diese Feier daher aus der S-Bahn-Fahrt nach Hause rührt und in der die Bardame eine zentrale Rolle spielt. Unvergessen, wie der feingeistige „Schurke“, kurz nachdem sie ihr Deodorant nach Abfahrt zum Einsatz gebracht hatte, lauthals durch die Bahn blökte: „Boah, Alter. Hast Du das Ding auf Nutte eingestellt?“. Naja, trotz dieser humorigen Randanekdote ist eines gewiss – sollte ich in meinem Leben jemals wieder auf einer Hochzeit (meine eigene inkludiert) erscheinen, dann könnt ihr Euch als Einladende aber sicher sein: Euch mag ich wirklich!

Die zweite Halbzeit beginnt ähnlich zäh wie die erste. Charlottenburg dicht gestaffelt, Mahlsdorf vorsichtig abtastend. Gut, dass der Wind da andere Pläne geschmiedet hat und nur zehn Minuten nach Wiederanpfiff eine eher harmlose Ecke unberechenbar auf den zweiten Pfosten verlängert, an dem natürlich Christoph Zorn parat steht, um das krumme Ding über die Linie zu drücken. So etwas kann einen Matchplan natürlich auch zunichte machen – der SCC hat nach diesem Schockmoment jedenfalls deutlich sichtbare Probleme, die Ordnung wiederherzustellen und Mahlsdorf drückt die folgenden 20 Minuten ordentlich auf die Tube, um hier den sprichwörtlichen Deckel drauf zu machen. Bis es jedoch so weit sein wird, wird mir erneut vor Augen geführt, dass man keine großen Hoffnungen in nachfolgende Generationen setzen sollte. Dieses Mal ist es ein kleiner Junge, der von seinem großen Bruder eine Schale Pommes mit Ketchup serviert bekommt, sogleich zu heulen und stampfen beginnt und die Mahlzeit wutentbrannt auf die Tartanbahn pfeffert. „Ich wollte ohne Ketchup!!! Geh neue holen!“. Ich als Vater würde jetzt vermutlich irgendetwas pädagogisch sinnvolles entgegnen (die Bandbreite reicht von „Bist du bescheuert, oder was?“ bishin zu „Kannst schön die Pommes ohne Soße von der Rennbahn lecken, du Leichtathlet!“), aber Parenting 2000 geht offenbar anders. Da ist man dermaßen stolz auf die Willens- und Meinungsstärke des Sprösslings, dass man selbstredend ohne jegliche Widerworte gen Imbiss trottet und eine neue Portion käuflich erwirbt, von der der kleine Teufel dann vier Pommes essen und dann satt sein wird.

Wird sicher später mal ein wertvoller Teil der Gesellschaft, dieser Wildfang. Mit fantastisch ausgeprägten Sozialkompetenzen. Und immer in der Lage, sich in gewissen Situationen unterzuordnen und Kompromisse zu schließen, wenn es notwendig ist. Da bin ich optimistisch, sagt Fetti und möchte am Liebsten wieder nach Hause. Genug Menschen, genug frische Luft für heute.

Glücklicherweise kann ich ihn jedoch überreden, noch bis zum Abpfiff auf der Sportanlage zu verweilen. So kommen wir in den Genuss einer sehenswerten Koproduktion der Ex-Unioner: Fritsche hebelt mit einem Pass die Abwehrkette des SCC aus, Mrkaljević läuft alleine auf Gästekeeper Bauer zu und verwandelt eiskalt (73.). Eine gute Viertelstunde später holen sich die lila-weißen Eintracht-Akteure dann den verdienten Applaus der 54 zahlenden Zuschauer ab, darunter auch fünf Ultras hinter einer Zaunfahne. FUDU hat genug gesehen und macht flinke Füße, um vor dem Rest des Mobs am einzigen Pissoirs der Sportanlage ankommen zu können. Das Kreuz am Rosenhag kann uns jetzt keiner mehr nehmen. Und bis „nach Hause“ sind es ja glücklicherweise auch nur 18 Minuten… /hvg

 

20.04.2019 ATSV Erlangen 1898 – SpVgg Ansbach 09 3:0 (2:0) / ATSV-Sportanlage Paul-Gossen-Straße / 140 Zs.

Irgendwann am späten Karfreitagabend sind die beiden wilden FUDU-Männer damit fertig geworden, im „Abgedreht“ den Grundstein für einen etwas getrübten Zeitzeugenbericht aus Erlangen zu legen.

Um 3.39 Uhr befindet sich neben FUDU auch halb Spanien in der S-Bahn. Feierwütiges Volk. Irgendeine völlig orientierungslose Frau ist auf der Suche nach der Schillingbrücke, warum auch immer. Noch fühlt sich FUDU angenehm überlegen, wie jedes Mal, wenn sich irgendjemand in der Nähe befindet, der noch derangierter ist, als man selbst. Dass sich an diesem Umstand zeitnah etwas ändern könnte, deutet sich eine knappe Stunde später an, als direkt nach Abfahrt des ICE in Richtung Erlangen osteuropäische Bierspezialitäten zischend zum Öffnen gebracht werden. Wo mag diese Rutsche „Żubr“ wohl schon wieder hergekommen sein? Wisent wir nicht, hat uns aber vermutlich irgendein polnischer Obdachloser vor dem Bahnhof aus bloßer Solidarität zugesteckt. Ein Gewinnspiel steigert unser Interesse an dem Bier zusätzlich. Teile der Reisegruppe zeigen sich zwar leicht überrascht, dass es in der polnischen Sprache überhaupt ein Wort für „Gewinner“ gibt, aber das soll uns nun nicht daran hindern, an selbigem teilzunehmen. Vielleicht heißt es auf der Sonnenseite des Lebens also bald: Fetti und die Złoty-Millionäre. Freut Euch drauf!

Weniger groß ist die Vorfreude auf das Frühstück, welches seit knapp zwei Stunden im Jutebeutel nachreifen durfte. Der gute „Backwerk“-Hot-Dog, der vermutlich ohnehin bereits seit Freitagabend in der Auslage gelegen hatte, hat mittlerweile die Tüte durchgefettet und eine Konsistenz angenommen, die jeden Saumagen vor eine echte Herausforderung stellt. Wie gut, dass Fetti noch etwas zum Nachspülen dabei hat, während der „Fackelmann“ bereits die Recherchemaschine glühen lässt. Zunächst begibt er sich auf die Suche nach einem Hotel in Nürnberg – allerhöchste Eisenbahn, wenn man plant, heute dort übernachten zu wollen. Ärgerlich, dass Nürnberg aktuell hoch im Kurs liegt und die Preise durch die Decke gehen. Ja, wie rechtzeitig soll man sich denn noch um sowas kümmern?, echauffiert sich „Facki“ und muss die Suche notgedrungen auf den Großraum Franken ausweiten. „Wohl dem, der um 20.57 Uhr eine Rückfahrt in der Tasche hat und schon um 0.31 Uhr wieder zurück in Berlin sein wird“, denke ich mir, als mein Gegenüber die Hotelsuche bereits wieder abgebrochen und den Fokus auf die wesentlichen Dinge des Lebens gerichtet hat: „Fürth II spielt heute gegen Nürnberg II“.

Glücklicherweise bringt diese Erkenntnis unseren Ursprungsplan, dem ATSV Erlangen einen Besuch abzustatten, aber nicht mehr ins Wanken. Das Derby der Zweitvertretungen ist gottlob parallel zum Auftritt des 1.FC Union Berlin bei der SpVgg Greuther Fürth angesetzt. Damit auf der „Sportanlage Burgfarrnbach, Konrad-Ammon-Platz“ auch wirklich gar nichts schiefgehen kann, haben die Sicherheitsbehörden sicherheitshalber – dafür sind sie ja da – für heute auch ein Spiel der ersten Herren des 1.FC Nürnberg in Leverkusen terminiert. Scheiß Krawallos…igkeit. So etwas will Fetti nicht sehen – und auch die absolute Geschmackslosigkeit, ein Fußballstadion nach einem Schweinemetzgermeister zu benennen, kann einem schon mehr als übel aufstoßen…

„Yeeeees!“, ruft der „Fackelmann“ mit geballter Becker-Faust euphorisiert ins Großraumabteil. „Mein Gott, kann dem Jungen vielleicht mal jemand das Handy wegnehmen, was hat er denn jetzt schon wieder?“ ist ein Gedankengang, der nicht lange unkommentiert bleibt. „Der ‚Schwarze Ritter‘ macht um 8.00 Uhr auf!“, lässt er als Begründung auf die Jubelarie folgen. Bei einer erwarteten Ankunftszeit von exakt 8.00 Uhr in Erlangen kann man sich natürlich schon mal freuen, dass die Kneipe, die man aus seinem Auslandssemester in Franken in guter Erinnerung hat, deckungsgleich öffnet. Doch nur kurz darauf verfinstert sich seine Miene: „Hmm, nee, Abbruch – die macht um 8 zu!“.

Trotz dieser ernüchternden Erkenntnis verlassen Fetti und seine Freunde kurz darauf planmäßig die Bahn. Für ein zweites Frühstück empfiehlt „Fackelmann“ die „Metzgerei Walk“. „Drei im Weggla“ (oder Weckla – angesichts dieser heiß diskutierten Frage wird in Franken höchstwahrscheinlich irgendwann einmal ein Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen…) kosten hier 2,55 €. Da lässt sich unsereins nicht lumpen und holt den ersten 50 € Schein aus dem ostdeutschen Reisekoffer. Die burschikose Fleischereifachverkäuferin (→ die grobe Dicke) hinter dem Tresen händigt 30 € Wechselgeld in Papierform aus und schüttet etliche Kilo Münzen hinterher. Bevor ich auch nur irgendwie reagieren kann, ist sie präventiv tätig: „Beschwern Sie si‘ ned, hädd a glänner sei könner!“.

Ob sie die Würstchen oder das Münzgeld meint, bleibt zunächst einmal offen. Wir schleichen lieber ohne Widerworte von dannen und werfen dank unseres ortskundigen Stadtführers einige Blicke auf die Sehenswürdigkeiten Erlangens. „Sagen Sie mal junger Mann, ich hätte mal ’ne Frage. Da rechts da steht doch so ’ne Kirche, wie heißt die denn?“. Nach Beantwortung all unserer Fragen zeigt man uns noch das „Markgräfliche Schloss“ samt Schlossgarten, Orangerie und Hugenottenbrunnen. „Fackel“ ist ein netter junger Mann, was der sich alles merken kann. Es gibt ja so viel Wissenswertes über Erlangen!

Plötzlich taucht „Richard Martin“ auf, also in den Notizen. Nicht auszuschließen, dass er bereits seit Berlin unter dem Tisch gelegen hatte, doch nun ist nachweislich er es, der das beeindruckende Kulturprogramm verknappt zusammenfasst: „Schön. Aber wo wird jetzt das Fass angestochen?“.

Bezug nimmt er hiermit auf das „Erlanger Frühlingsfest“, welches genau heute seine Pforten für Besucher öffnen wird. Offenbar hat sich bei seinem flüchtigen Blick auf ein Werbeplakat am Hauptbahnhof nur die Information „Bieranstich“ gesetzt, doch der Rest der Reisegruppe kann die fehlenden Koordinaten komplettieren. „Auf dem Schlossplatz, aber erst ab 10.00 Uhr! Stunde musste noch durchhalten!“.

Mit Mühe und Not gelingt es, den dritten wilden Mann im Zaum zu halten, doch irgendwann wird der Druck zu groß und der unbändige Bierdurst bahnt sich seinen Weg. Bereits um 8.50 Uhr kratzen wir daher an die noch verschlossenen Türen des „Mireo“, welches eigentlich erst in zehn Minuten öffnen wird. Der Kellner schließt etwas irritiert die Gaststätte auf und wundert sich angesichts der bereits wartenden Gäste: „Ist denn heute irgendetwas besonderes?“ – „Ja, Samstag!“, schallt es ihm aus drei durstigen Kehlen zurück. Kurz darauf steht ein drittes (?) Frühstück, drei doppelte Espressi (Sorry für soviel polyglottes Bildungsbürgertum an der Stelle!) und drei „Mönchshof“ vom Fass auf unserem sonnigen Terrassentisch, an den wir um 8.53 Uhr platziert worden sind. Puh, diese lange Durststrecke hätte übel enden können.

Eine Stunde später, wer hätte es geahnt, haben die drei tapferen FUDU-Schweine den Schlossplatz erreicht. Leider sind sämtliche Bierzelte und Fahrgeschäfte noch verschlossen, nur am Stand der „Brauerei Heller“ herrscht bereits rege Betriebsamkeit und die Tresenkraft agiert als pfeifender Schweinefänger von Erlangen. Den kleinen Stimmungsaufheller für zwischendurch bezahle ich auf Heller und Pfennig mit dem vorhin erhaltenen Wecklageld. Wäre ja auch Quatsch, all das Gold länger als nötig mit sich herumzutragen. Kurz nachdem wir die Gläser erhoben haben, erfahren wir, dass es erst heute Abend um 17.00 Uhr heißen wird: „O’Zapft is!“. Klar, dass man sich bei dieser FUDU-unfreundlichen Terminierung nicht zwei Mal bitten lässt und zur Verwunderung der Einheimischen ein knackiges „Anstichzeiten fair gestalten“ über den Schlossplatz hallen lässt.

So geht man jedenfalls nicht mit Gästen um. Klar, dass uns nun nichts mehr in Erlangen hält. Bereits um 11.02 Uhr nehmen wir den neunminütigen Teufelsritt nach Fürth in Angriff. Die Fahrzeit ist für eine Fürther Kutte gerade lang genug, um einem mitreisenden Unioner gleich mehrere grenzdebile Fragen zu stellen. Mit einem bedrohlichen „Eine Frage hast Du noch“ – samt erhobener Hand – beendet der Berliner das unangenehme Schauspiel. Nicht auszuhalten, wenn jemand, der Franken vermutlich noch nie verlassen hat, nach 30 Jahren Mauerfall in Erfahrung zu bringen versucht, wie der Lebensstandard im Osten denn mittlerweile so aussehen möge.

Der „Fackelmann“ erzählt uns von der Rettung des „Labieratorium“ in Cottbus und reicht eine Probierpulle für den Fußweg zum „Ronhof“. Die leere Flasche (8 Cent bares Geld!) stelle ich an einer Tankstelle an den Bordstein, was drei Fürther Senioren meckernd auf den Plan ruft und schnell die Frage im Raum steht, warum ich meinen Müll am Straßenrand stehenlassen und nicht ordnungsgemäß entsorgen würde. Ich verzichte auf eine Diskussion mit den Provinzlern und gehe ein kalkulierbares Risiko ein. Schwerer Pfandfriedensbruch – könnte später in meiner Verurteilung stehen.

Knapp zwei Stunden später hat der 1.FC Union Berlin bei den Greuthern (nimm das, Fürther Sambaultragruppe!) immerhin ein 1:1 Remis erkämpft und wir besinnen uns direkt nach Abpfiff auf das, was wir uns im Vorfeld der Reise vorgenommen hatten. Ich zitiere aus „Fackelmanns“ letzter Textnachricht: „Arbeitstitel lautet dann 15:05 mit dem Bus ab Fürth Friedhof. Oder netten Autofahrer suchen“.

Aber da haben wir die Rechnung ohne das Fürther Verkehrsaufkommen gemacht. Unklar, ob sich Ottfried Fischer auf irgendeiner Kreuzung zum Mittagsschlaf gebettet hat, der „Superstau“ ist aber nicht von der Hand zu weisen. Hier kommt kein Bus und kein freundlicher Autofahrer auch nur annähernd schnell genug voran, um den 16.00 Uhr Anpfiff in Erlangen gewährleisten zu können. So bleibt uns gar keine andere Wahl, als mit einem Wegbier in den Händen entspannt an der Blechlawine vorbei zu laufen und darauf zu hoffen, dass der Verkehr irgendwann wieder genauso flüssig laufen wird wie unser Gerstensaft und man dann in irgendein Taxi springen können wird. Wie das Schicksal so will, löst sich die Stauung  a u s g e r e c h n e t  auf der Erlanger Straße in Wohlgefallen auf und das erstbeste Taxi, das parat steht, ist nicht irgendein Taxi, sondern eines des „Taxiunternehmen Sandra Schultheiß“. Na dann: Bierkutscher, fahr uns in die Gossenstraße!

Die große fränkische Hafenrundfahrt zu dem heiß ersehnten Spiel der Bayernliga Nord kostet FUDU stolze 30 €. Unbezahlbar ist der Schreck, der einem in die Edi Glieder fährt, als ersichtlich wird, dass drei Minuten vor Anpfiff noch keinerlei Betriebsamkeit auf dem Sportplatz herrscht. Außerdem ist „Richard Martin“ plötzlich verschwunden, also aus den Notizen. Wenigstens stellt sich alsbald heraus, dass wir nicht etwa zur falschen Zeit am falschen Ort eingetroffen sind, sondern lediglich an einem Nebenplatz an der Straße gestrandet sind und sich das Hauptfeld der Sportanlage etwas im Hinterland versteckt. Angesichts dieser guten Nachrichten kann man das Verschwinden des Freundes natürlich verschmerzen.

Für 6 € erschleichen wir uns zum 16.01 Uhr ermäßigten Eintritt auf die „ATSV-Sportanlage Paul-Gossen-Straße“. Der Ball rollt zwar bereits seit einer Minute über den grünen Rasen, doch Fetti, schon längst mit Schwanklizenz und Schnapsatmung ausgestattet, muss sich erst noch ein weiteres Kaltgetränk organisieren, bevor er sich der sportlichen Komponente des Nachmittags zuwenden kann. Zwar darf pure Vernunft niemals siegen, doch irgendetwas reitet ihn nun dazu, in der Vereinsgaststätte des ATSV lieber ein Radler zu ordern. Hat er wahrscheinlich in der Suchtberatung gelernt – 0,25 Liter Limo im Bier machen bekanntlich 10 Halbe locker wieder wett.

Glücklicherweise haben Fetti und seine Freunde rechtzeitig genug auf der Haupttribüne Platz genommen, um den Doppelschlag von Ahmet Kulabas, bekannt aus Liga 3 und den Regionalligen, in Minute 18 und 24 live und in Farbe miterleben zu können. Der verwandelte Handelfmeter in Folge einer Ecke zum 1:0 darf getrost eine schnöde Randnotiz bleiben, das 2:0 nach traumhaftem Doppelpass von Forisch und Yüce, abgeschlossen mit dem Außenrist ins lange Eck, ist dagegen wesentlich sehenswerter. Klar, dass bei einer derartigen Steigerung auch die Tormusik in nichts nachstehen darf und so dröhnen nach dem zweiten Treffer ballermanneske Klänge über den Sportplatz. Feiern ohne Ende – 138 Franken und zwei FUDU-Schweine in Ekstase!

Auch in Folge wird der ATSV spielbestimmend bleiben. Zwei-drei weitere gute Gelegenheiten lassen die Hausherren jedoch ungenutzt, während die Gäste mit einer hochnotpeinlichen Schwalbe nach 37 Minuten für den letzten Aufreger der ersten Hälfte sorgen. Doch Schiedsrichter Ziegler ist zu souverän, als dass er auf eine solch plumpe Täuschung hätte hereinfallen können und auch das fachkundige Publikum erteilt dem Ansbacher eine Absage: „In Oberbayern wird sowas net gpfiffen!“. Word.

In der Halbzeitpause bauen die emsigen Helfer des ATSV bereits den Grill ab und schieben so Fettis Pläne, es im Kampf gegen die Promille nach einem Radler nun auch noch mit Nahrungsaufnahme zu versuchen, einen Riegel vor. Die zweite Hälfte wird lümmelnd auf dem Gegengerade-Grashügel verfolgt. Klar, dass sich Narkoleptiker „Fackelmann“ da nicht mehr lange auf den Beinen halten kann und zu einem gepflegten Nickerchen übergeht. Fetti, das Wiener Schnitzel, sieht sich angesichts seiner dösenden Hopperfreunde skeptischen Blicken der Einheimischen ausgesetzt, fasst aber mit viel Schmäh souverän zusammen: „Joa mei, so ist’s halt in der Gossen!“.

Das Spiel ist in der Zwischenzeit ohne weitere Aufreger (bis auf die Einwechslung von Max Störzenhofecker und einer gelb-roten Karte für Johannes Meyer) in der Nachspielzeit angekommen und just in dem Moment, in dem „Fackelmann“ auch das zweite Auge öffnet, zappelt der Ball ein drittes Mal im Tornetz der Ansbacher. Ein wunderschöner Fernschuss von Lucas Markert aus gut zwanzig Metern ist soeben samt Pfosten- und Lattenberührung im Kreuzeck eingeschlagen und setzt der Partie die Krone auf.

FUDU ist nun pünktlich zum Abpfiff wieder hellwach und der Nachmittag klingt im Biergarten mit „Steinbach Bräu“ aus. „Fackelmann“ verschwindet kurz darauf aus den Notizen und taucht einen Tag später in Aschaffenburg wieder auf. Aber da bin ich bereits längst wieder in Berlin (…wohl dem, der die 20.57 Uhr Verbindung in der Tasche hatte!) angekommen, erhole mich von den Reisestrapazen und bereite mich auf den Ostermontag in Mahlsdorf vor. Kann man ja nur hoffen, dass man da vielleicht ohne Radler über die Runden kommen wird… /hvg

19.04.2019 SV Tasmania Berlin – Berliner SC 1:0 (0:0) / Werner-Seelenbinder-Sportpark / 185 Zs.

Alle Jahre wieder, stirbt das Jesuskind. Man verzeihe mir diesen gotteslästerlichen Einstieg, aber mit religiösen Feiertagen kann unsereins nun einmal einfach nichts anfangen. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Da gibt es schon andere Gründe, die man sich konstruieren muss, um sich auf Karfreitag, Ostermontag und Co zu freuen. Angefangen damit, dass sich gut 80% der zugezogenen Provinzler plötzlich daran erinnern, dass progressives Großstadtleben nicht immer erfüllend ist und sich diese dann genötigt fühlen, für einige Tage Karriere gegen Familien- und Kirchenbesuch in der Heimat einzutauschen. Für mich besteht die Freude an Feiertagen dieser Art in erster Linie schlicht und ergreifend darin, nicht arbeiten zu müssen und dass in Berlin dieser christliche Quatsch das Leben derjenigen, die eben auch dann nicht in die Kirche gehen wollen, wenn es im Kalender steht, nicht komplett zum Erliegen bringt. So habe ich am Karfreitag meinen Spaß damit, dass der gottlose Berliner Fußballverband den Mut aufbringt, einige Spiele in der Verbandsliga anzusetzen. Auch Fetti ist hellauf begeistert, verknüpft die Tradition mit der Moderne und ruft die für heute gültige Parole aus: Egal ob FUDU-Ferkel oder Jesus, niemand sollte groundlos sterben!

Trotz des Feiertages öffnet mir gleich der erste Späti auf dem Weg zum Ostkreuz die Pforten. Halleluja. An der Stelle, an der sonst die „Berliner Pilsner“ stehen, herrscht heute aber gähnende Leere im Kühlschrank. Offenbar habe ich es hier mit einem Integrationsprojekt zu tun, anders kann ich es mir nicht erklären, warum mich der freundliche Muselmann hinter der Theke derart perfide an die Karwoche gemahnt. In dieser soll sich der gemeine Christ schließlich an das Leid, Sterben und den Tod Jesu Christi erinnern und der Karfreitag ist nun einmal ein gebotener Fasten- und Abstinenztag, möchte er mir vielleicht noch erklären, aber da hat Fetti längst seine Auferstehung gefeiert und zum 30 Cent teureren „Schultheiss“ gegriffen. Soll ja keiner länger leiden, als nötig.

Der „Boxi“ ist an diesem sonnigen Freitag deutlich leerer als sonst, was die oben genannte Theorie der temporären Rückzüge auf angenehme Art und Weise untermauert. Weniger schön ist die zweite Validierung dieser Hypothese, die Fetti angesichts des anstehenden Auswärtsspiels in Fürth am morgigen Karsamstag zu spüren bekommen hatte. Wenn sich zu viele Menschen auf einmal in die selbe Richtung bewegen, kann das bei „Die Bahn“ (!) schon einmal die Preise versauen. Eines ist schon jetzt klar: Wenn Fetti morgen um 4.28 Uhr in den einzig finanzierbaren Fernzug des Samstags steigen wird, wird er jeden einzelnen Südwestaffen, der von Berlin in Richtung Dorfkirche aufbricht, in Gedanken ans Kreuz nageln…

Plötzlich weckt mich eine übermotivierte Studentin aus meinen misanthropischen Träumen, indem sie mir mit einem Klemmbrett vor der Nase herumfuchtelt. Ich habe den Bahnhof Ostkreuz bereits in Sichtweite und muss mir jetzt so knapp vor dem unbehelligten Erreichen meines Ziels irgendetwas Besorgnis erregendes über die Bebauung der Rummelsburger Bucht anhören. Als ich meine Unterschrift verweigere, versucht sie, mich „emotional zu catchen“, wie sie es in ihrem „irgendwas-mit-Medien“-Studiengang womöglich unlängst gelernt hat. Geschickt stellt sie die tollkühne These: „Aber Du lebst doch sicherlich auch gerne hier!“ in den Raum, welche ich allerdings wahrheitsgemäß mit „Naja, geht so!“ beantworten und mit dieser grundsoliden Ehrlichkeit sämtliche weitere Bemühungen ihrerseits niederschmettern kann.

Beschwingt von diesem Dialog ist die Vorfreude auf das heutige Spiel in der Berlin-Liga bereits ins Unermessliche gewachsen, als ich am S-Bahnhof Hermannstraße die Ringbahn bereits wieder verlasse. In der Emser Straße zeigt sich Fetti nur kurz durch die markige Losung „Mopped fahrn und wichsen!“ irritiert, findet dann aber auch zu Fuß den Weg in den „Werner-Seelenbinder-Sportpark“, ohne öffentliches Ärgernis zu erregen.

Am 27. Spieltag empfängt der SV Tasmania Berlin als aktueller Tabellenzweiter den nur um zwei Rängen schlechter platzierten Berliner SC zum Spitzenspiel. Für 7,00 € Eintritt erhält man eine formschöne Eintrittskarte und das Stadionmagazin „Tas Spiegel“. Auf den Schokoladenosterhasen, den man bei sonnigen 21 Grad Celsius im Turnbeutel schmelzen lassen könnte, verzichtet Fetti dankend und organisiert sich anstatt dessen lieber ein schmackhaftes Hacksteak für zwei Euro und ein erstes Stadionbier.

Der „Werner-Seelenbinder-Sportpark“ ist für Fetti kein Neuland. In einem Testspiel vor gut 13 Jahren errang der glorreiche 1.FC Union Berlin an Ort und Stelle an einem Mittwochabend ein überzeugendes 1:1. Heute sind exakt 20 Zuschauer mehr erschienen, als an diesem unvergesslichen Tag im August 2006. Klar, dass der Gastgeber bei diesem Andrang auch Sicherheitsgedanken nicht gänzlichen außen vor lassen darf und so teilt man heute die beiden mit Stehstufen und einigen Sitzschalen ausgestatteten Tribünen auf den Längsseiten in „Heim“ (links) und „Gast“ (rechts) auf.

Auf der Heimseite beziehen die Fanclubs „Tasmanische Teufel“ und die „Tasmaniacs“ Stellung. Unterstützt werden die aktiven Supporter der Neuköllner heute von einigen Freunden von Tennis Borussia und Fetti, noch nachhaltig traumatisiert vom Wasserballspiel vor gut einer Woche, zieht es umgehend in den Gästeblock. Hier füllen sich die Traversen zusehends, obwohl nur wenige Zuschauer wahrhaftig mit dem Berliner SC sympathisieren. Vielmehr ist es die Sonneneinstrahlung, die für den steigenden Beliebtheitsgrad des Gästeblocks sorgt, während TeBe also einmal mehr auf der Schattenseite des Lebens steht.

Der Stadion-Animateur spielt noch eben schnell die komplette Bandbreite öffentlich-rechtlicher WM- und EM-Popgülle aus der Event-Hölle des Weltfußballs ab und schon kann er „least but not last“ Referee Marcel Richter begrüßen, der kurz darauf die Begegnung anpfeift und die Zuschauer von allen erlittenen akustischen Qualen erlöst.

Es folgen optische Qualen. Zwar darf man den Auftakt der Gäste in die Partie durchaus gelungen nennen, doch nachdem sich Tasmania nach gut 15 Minuten endlich gefunden und Struktur in das eigene Spiel gebracht hat, ist Schluss mit der Herrlichkeit des Berliner SC. Wohlwollend mag man ab diesem Zeitpunkt vielleicht von einem ausgeglichenen Spiel im Mittelfeld sprechen, etwas weniger gönnerhaft darf getrost von einem ziemlich dürftigen Berlin-Liga-Gerumpel gesprochen werden. Schön sind da nur die „Ra-Ra-Ra Tasmania“ und „Tasmania Fantastica“ Gesänge aus dem Heimbereich, während die Wärme nach 26 Minuten bereits zwei Akteure zu längeren Verletzungspausen in die Knie gezwungen hat. Tieftraurig stimmt Fetti, dass beim Berliner SC Trainerlegende Wolfgang Sandhowe schmerzlich vermisst wird. Nach 43 Minuten stehen genau zwei mittelmäßige Torschüsse der Heimmannschaft auf dem Notizzettel, bei den Gästen ist nach den euphorischen Anfangsminuten in der Offensive rein gar nichts mehr passiert. Einen einzigen echten Aufreger hat die Partie kurz vor dem Pausenpfiff dann aber doch noch zu bieten, allerdings verwehrt der Schieds Richter den Gästen den Elfmeterpfiff, der zumindest im Rahmen des Möglichen gewesen wäre. So geht die erste enttäuschende Hälfte des vermeintlichen Spitzenspiels torlos zu Ende.

In der Halbzeit kann man sich nun endlich dem „Tas Spiegel“ zuwenden. Hier erfährt man, dass sich der SV Tasmania Berlin, der 1973 neu gegründet wurde, durchaus mit Stolz auf seinen Vorgängerverein SC Tasmania 1900 bezieht. In dem Heft wird die Bundesligasaison 1965/66 jedenfalls lang und breit thematisiert. 81.524 Zuschauer waren damals zum ersten Heimspiel gegen den KSC gekommen, um einen 2:0 Sieg erleben zu können. Wie die Saison sportlich endete, dürfte jedem Fußballfreund in Deutschland bekannt sein. Am Ende der Saison hatte sich der Zuschauerschnitt übrigens auf 19.400 eingependelt. Der damalige Negativrekord (827 gegen Borussia Mönchengladbach) stellt in der Neuzeit wohl eher eine Orientierungsmarke für die kommende Oberligasaison dar, sollte der Aufstieg aus der Berlin-Liga gelingen: 827 Zuschauer im Schnitt im Seelenbinder-Sportpark – das würde in diesem kleinen und engen Stadion schon Freude bereiten…

Der „Tas Spiegel“ erklärt heute darüber hinaus die Gründe für das sportliche Desaster und hat auch ein humoriges Interview mit dem damaligen Mannschaftskapitän Hans-Günter „Atze“ Becker zu bieten. Trainer Fritz Mauruschat habe damals in seiner Nachbarschaft gewohnt und ihn einst gefragt, ob er einen „anständigen Menschen mit zum Training nehmen könne“, woraufhin „Atze“ geantwortet haben soll: „Ja, kennen Sie denn einen?“. Außerdem lernen wir, dass „Atze“ nach dem Abstieg ein Angebot von Eintracht Braunschweig ausschlug, um seine Arbeitsstelle beim Eichamt Berlin nicht zu verlieren. Schon neigen sich die fünfzehn Pausenminuten, die deutlich unterhaltsamer waren als das Spiel, dem Ende entgegen und Fetti lässt sich von der Atze vom Eichamt das Kaltgetränk für den zweiten Spielabschnitt bis über den Strich füllen.

Gerade einmal sieben Minuten sind gespielt, als Gästestürmer Max-Fabian Woelker aus fünf Metern kläglich versemmelt. „Solche Chancen kommen nicht wieder“, hört man aus der Altherrenriege, die es mit dem Berliner SC hält. Irren ist menschlich und so vergehen wieder nur sieben Minuten, ehe Woelker urplötzlich erneut alleine vor Keeper Schelenz auftaucht, doch auch der zweite Versuch aus gleicher Distanz endet ohne Torerfolg. Tasmania-Verteidiger Mehmet Okan Kirli, der – vorsichtig formuliert – nicht ganz austrainiert wirkt, war zwei Mal nicht hinterher gekommen. Der freundliche Herr mit Sparta-Lichtenberg-Jacke hat genug gesehen und verlässt den Sportpark. Aktuell weisen die Lichtenberger zwar lediglich einen Punkt Vorsprung auf „Tas“ auf, dennoch scheint man sich aufgrund des Gesehenen seiner Sache an der Fischerstraße nun sicher zu sein. Von diesen Tasmanen dürfte keine echte Gefahr ausgehen…

Der Gast bleibt in Folge die gefährlichere Mannschaft. Nach 67 Minuten wird auf Heimseite endlich Nicola Thiele eingewechselt, der in seinen bisherigen von FUDU begleiteten Auftritten (08.04.2018 , 16.06.2018) stets überzeugen konnte. Thiele findet schnell ins Spiel und so dauert es auch nicht mehr lange, bis er maßgeblich am ersten gelungenen Angriff der Heimmannschaft beteiligt ist. Jetzt kommt noch mal Leben auf das Spielfeld und auch auf den Rängen tut sich etwas. Zur 75. Minute hat FUDU noch einmal Zuwachs bekommen – man kann den beiden sicherlich vieles vorwerfen, nicht aber, dass sie kein Gefühl für Timing hätten. Während unsereins 75 beschwerliche Minuten lang mit Rumpelfußball gequält wurde, kommt manch einer eben lieber kurz vor knapp und greift im Vorbeigehen die Rosinen ab.

In der 81. Minute vergibt Gästestürmer Önal die nächste und letzte einhundertprozentige Torchance für den BSC. Kurz darauf schlägt die große Stunde der Tasmanen. Eine völlig verunglückte Flanke sorgt zwar zunächst für einen Wutausbruch eines Seniors, der abwinkt und mit sich mit dem Begleitkommentar „Man, man, man, was für ein Niveau hier“ anschickt, den Sportplatz zu verlassen, doch noch beim Herausgehen wirft er einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück auf den Rasen. Tatsächlich gelingt es Thiele, den vermurksten Ball irgendwie in die Gefahrenzone zu verlängern, in der Romario Hartwig völlig frei steht und den Ball geistesgegenwärtig in das Tor schieben kann. „Tas“ feiert seine mehr als schmeichelhafte Führung selbstkritisch halbherzig.

Natürlich reichen den Nachzöglingen die bescheidenen 15 Minuten Anwesenheit auch, um beide Ex-Unioner spielen sehen zu können. Erst wird auf Seiten des Berliner SC Kiyan Soltanpour eingewechselt, einige Minuten später folgt in den Neuköllner Farben Kiminu Mayoungou. Mehr gibt es heute zwar nicht mehr zu sehen, dennoch hält auch der effiziente Flügel FUDUs die letzten vier belanglosen Spielminuten aus und verschwendet seine Zeit mit mir, ehe Richter das Spiel für beendet erklärt.

Die After-Show-Party steigt heute in zwei Etappen. Zunächst wird kieznah im „Schiller’s“ angestoßen, später am Abend gesellt sich der „Fackelmann“ voller Fürth-Vorfreude dazu. Im „Abgedreht“ verköstigt man einige Getränke, darunter auch ein unfiltriertes mit dem vielversprechenden Namen „Wilder Mann“. „Der spritzige helle Sachse“ weiß zu gefallen und so vergehen die Stunden bis zur Abfahrt gen Franken aufgrund des Tanzverbots am Karfreitag eben im Sitzen und nach der Feier des höchsten Fests der Christenheit wird man dann ja auch endlich wieder die Gläser erheben und sich ein köstliches, ausgiebiges Mahl gönnen können… /hvg

13.04.2019 Ludwigsfelder FC – BSG Chemie Leipzig 1:1 (1:0) / Waldstadion Ludwigsfelde / 783 Zs.

Gestern habe ich das Heimspiel des 1.FC Union Berlin gegen den SSV Jahn Regensburg verpasst. Knapp 25 Kilometer Wegstrecke zwischen Arbeitsstelle und Fußballstadion waren in 30 Minuten einfach nicht zu realisieren – erst recht nicht, wenn die S-Bahn sich mit Schienenersatzverkehr auf der Ringbahn versucht. Noch etwas gezeichnet von dieser Schmach des freiwilligen Verzichts, treffe ich am Samstag auf den anderen FUDU-Pädagogen, der für meine bildungsfernen Plattenbauzöglinge demnächst Wildcards für ein Pankower Gymnasium organisieren kann. Endlich einmal eine wirklich sinnvolle und nachhaltige Kooperation! Doch genug der Arbeitsthemen, es soll hier schließlich darum gehen, schnellstmöglich ein gänzlich fußballfreies Wochenende zu verhindern. Da kommt es uns zupass, dass in der NOFV-Oberliga heute niemand geringeres als die BSG Chemie Leipzig ihre Visitenkarte im „Waldstadion“ zu Ludwigsfelde abgeben wird.

Um 11.36 Uhr tuckert die S-Bahn auf dem funktionierenden Teil der Ringbahnstrecke mit uns an Bord in Richtung Berlin-Südkreuz. Kaum eingestiegen, hat auch bereits der erste „motz“-Verkäufer vorgesprochen und einen kleinen Groschen von mir erhalten. Wenige Augenblicke später steigt ein Straßenmusiker zu, der mit dem „Hartz-IV-Song“ der „Monsters Of Liedermaching“ den gesamten Waggon begeistern kann und auch FUDUs Budget spielerisch um weitere Taler erleichtert. Kann ja eine richtig teure Tour werden, wenn das Tempo der unkalkulierbaren Nebenkosten im weiteren Verlauf der Anreise in dieser Form bestehen bleibt. Macht mal lieber ’n bisschen Adagio, sonst muss auch ich mir am Ende noch ein Bier mit meinem Kumpel teilen…

Glücklicherweise fallen keine weitere Zusatzabgaben im Berliner Nahverkehr an und auch auf der gerade einmal dreizehnminütigen Regionalbahnreise nach Brandenburg bleiben wir unbehelligt. Ob sich die 3,60€ + X bereits ihm Rahmen eines Ludwigsfelde-Sigthseeings amortisieren werden, darf zwar vage bezweifelt werden, dennoch ist unsere Freude groß, dass der „Sprengmeister“ bereits am Parkplatz bereit steht, um uns seine Heimatstadt zeigen zu können. „Ludwigsfelde bewegt!“ lautet der offizielle Slogan der Stadt, den man aber auch getrost gegen „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen!“ austauschen könnte. Wer sich nicht für Automobilproduktion (der „IFA W50“ wurde hier zwischen 1965 und 1990 gebaut, heute gehören die Werke zur Daimler-AG) oder Luft- und Raumfahrttechnik interessiert, bekommt hier wahrlich nicht viel geboten. Einen kurzen Blick auf die „Theodor-Fontane-Grundschule“ kann unser Stadtführer aber immerhin mit einer interessanten Randanekdote versehen. Vor ihm habe niemand geringeres als „Gentleman“ Henry Maske diese Schule besucht. Hier muss also ganz offensichtlich gewaltfrei erzogen worden sein.

Kurz darauf haben wir das „Waldstadion“ erreicht. Mein letzter Besuch der Spielstätte liegt bereits knappe 14 Jahre zurück. Kaum zu glauben, dass der 1.FC Union Berlin hier am 22.10.2005 um Punkte spielen musste und welche Entwicklung der Verein in den letzten Jahren genommen hat. Gerne erinnere ich mich aber an die Oberliga-Saison 05/06 zurück, in der man die eine oder andere Stadionperle in der Provinz besuchen dufte. Gefrorene Würstchen im Schneegestöber, matschige Gästeblock-Grashügel, 8:0, 10 € Eintritt im „Jahnsportpark“ auswärts gegen Türkiyem (Sitzplatz!), ein 0:0 bei Falkensee/Finkenkrug und der „Texas“-Hattrick in Ludwigsfelde. Freunde, das war ’ne Saison…!

14 Jahre später hat sich das „Waldstadion“ baulich ein wenig verändert. Das ohnehin bereits recht schicke Stadion ist 2010 um eine moderne Haupttribüne mit 368 überdachten Sitzplätzen erweitert worden und könnte nunmehr 7.868 der insgesamt 27.000 Ludwigsfelder in Empfang nehmen. Der Verein, der Ende der 80’er Jahre als BSG Motor einige Spielzeiten in der zweiten Liga der DDR verbracht hat, dümpelte zwischenzeitlich nur noch in der siebtklassigen Landesliga herum, hat in den letzten Jahren aber wieder den Weg nach oben gefunden und spielt nun seit dieser Saison wieder in der Oberliga. Während man in den Spielzeiten 04/05 bis 10/11 jedoch im Norden eingegliedert war, darf oder muss man sein Glück in dieser Saison in der Südstaffel versuchen. Die attraktiven Spiele gegen die BSG Chemie Leipzig und das Derby gegen den FSV Luckenwalde dürften über die ansonsten recht weiten Fahrtwege bis hinaus nach Gera, Plauen und Co hinwegtrösten.

Wir nehmen zunächst Platz auf der neuen Tribüne, um festzustellen, dass man es hier dank mobiler Lautsprecherboxen nicht aushalten kann. Die Durchsagen des Stadionsprechers werden dem gemeinen Fußballfreund jedenfalls in einer Lautstärke in das Trommelfell gehämmert, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Als dann auch noch minderjährige Cheerleaderinnen zu utopisch lauter Plastikmusik unter Beweis stellen dürfen, was die dürren Kinderbeinchen so hergeben, zieht es uns zur Abwendung von Fremdscham an den Getränkeausschank. Hier beobachten wir kleine und große Menschen, die sich vergnügt mit dem Maskottchen des LFC fotografieren lassen. „Ludwig“ scheint hier sehr beliebt zu sein, obwohl er ein bisschen so aussieht wie ein Tier, das es nicht schnell genug über die Autobahn geschafft hat. Taufen wir das Ungetüm mit den leeren Augenhöhlen einfach auf den Namen „Krüppelteddy“ und fangen uns den nächsten Shitstorm ein. Hoch die Gläser!

Im Anschluss setzen wir unseren Stadionrundgang fort und stellen wohlwollend fest, dass sich die alte Gegengerade mit den Stehstufen und den weißen Plastikbänken in den letzten 14 Jahren kein Stück verändert hat. Auch hier trifft man unverabredet auf bekannte Gesichter, die mit der BSG Chemie sympathisieren und kommt so in den Genuss weiterer gepflegter Smalltalks, sodass die verbleibenden Minuten bis zum Anpfiff nahezu verfliegen, obwohl einem die Cheerleaderinnen mit ihrer Performance parallel noch immer auf die Nerven gehen. Die Zeit reicht vor Anpfiff noch gerade eben so für ein gepflegtes wildes Urinieren im Kurvenbereich, wobei man gestehen muss, dass es schon einmal unverfänglichere Situationen gegeben hat, um auf einen kleinen Jungen zu treffen, der auf der Suche nach Schnecken ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, verzichten wir auf das verlockende Angebot, uns seine Sammlung en Detail anzuschauen und eilen zurück auf unsere muckeligen Sitzschalen unter dem Tribünendach.

Das Spiel beginnt. Heute haben gut 400 Chemiker die 137 Kilometer Anreise aus Leipzig auf sich genommen, um ihre Farben gewohnt sangesfreudig unterstützen zu können. Dazu gesellen sich einige neutrale Fußballfreunde und ein Lokist. Die Resonanz auf der Heimseite ist etwas enttäuschend, sodass am Ende die erhoffte Marke von 1000 Zuschauern deutlich verfehlt wird und auch das Spiel kann den hohen Erwartungen zu keiner Zeit gerecht werden. Schnell sind 25 ereignislose Minuten verstrichen, die so ereignislos sind, dass wir uns mit unseren Gedanken bereits beim Abendprogramm befinden. FUDU ist schließlich eine derartige Eliteeinheit, dass es dann und wann schon etwas gehobeneres braucht als Oberligafußball. Champions League ist da schon eher unsere Kragenweite und so freuen wir uns bereits jetzt auf die Partie zwischen Spandau (bei Berlin) und Ολυμπιακός aus Piräus um 19.00 Uhr. Okay, zwar nur Champions League im Wasserball, aber Champions League bleibt Champions League!

Neben uns werden dann übrigens auch unsere Wasserfreunde von Tennis Borussia anwesend sein, die gerade durch Berlin tingeln, um singend darauf aufmerksam zu machen, dass ihnen irgendein windiger Geschäftsmann den Fußballverein entrissen hat. Na, dann weiß man wenigstens schon, von welchen queerschnittsgelähmten der Krüppelteddy-Shitstorm kommen wird…

Gerade, als wir uns die Frage stellen, ob man sich vor Betreten der Schwimmhalle wohl abduschen muss und ob es im Fanshop der Wasserfreunde Bademantel und -latschen käuflich zu erwerben geben wird, weckt uns die Heimmannschaft mit einer Doppelchance. 27 Minuten sind bereits ins Land gegangen, als Romanovski aus spitzem Winkel und Lemke mit dem anschließenden Schuss aus zweiter Reihe scheitern. Bei der bis hierhin pomadig auftretenden BSG bleibt Ex-Unioner Kai Druschky der auffälligste Spieler (nicht nur wegen seiner furchtbaren Frisur), doch auch seine zweite Halbchance nach gut 30 Spielminuten kann Keeper Lindner am kurzen Pfosten mit einem guten Reflex vereiteln.

Nach 42 Minuten gehen die Hausherren, die wesentlich spritziger und agiler als ihre Gegner wirken, verdient in Führung. Nach einem Einwurf können die Ludwigsfelder den Ball gut behaupten und über 3-4 Stationen in den eigenen Reihen laufen lassen. An der Strafraumkante schüttelt Sturmspitze Paul van Humbeeck einen Verteidiger mit einer einfachen Körpertäuschung ab, dringt in den Strafraum ein und schließt beherzt in das lange Eck ab.

In der Halbzeitpause begrüßt der Stadionsprecher den ältesten Fan im Stadion, doch leider weigert sich der „Sachse“ etwas beschämt, aufzustehen und in die Runde zu winken. Am Getränkestand erhalten 2/3 der Reisegruppe ein komplettes Bier vom Hahn, während sich der Kaffeetrinker mit einem halben Becher des Heißgetränks zufrieden stellen muss. Offensichtlich hat der LFC nicht genügend Thermoskannen abgefüllt und so wandert die letzte Pfütze Kaffee immerhin als Geschenk in die Reihen FUDUs.

Den zweiten Spielabschnitt erleben wir von der Gegengerade. Gerade einmal sieben Minuten sind gespielt, als LFC-Akteur Goede im Spielaufbau ein verheerender Schnitzer unterläuft. Seinen Fehlpass kann Böttger im Mittelfeld aufnehmen und mit Tempo auf das gegnerische Tor zulaufen. Sein Querpass zu Alexander Bury durch den Sechzehner sitzt und der schnelle Ausgleich nach Wiederanpfiff für die BSG ist gefallen. Direkt im Gegenzug scheitert Lemke mit einer Direktabnahme aus fünf Metern nach Romanovsky-Flanke an Keeper Latendresse und spätestens nach einer Stunde hätte sich der LFC die erneute Führung verdient gehabt. Allerdings kann Lemke auch die zweite mustergültige Flanke seines ukrainischen Mitspielers nicht im Tor unterbringen – dieses Mal verhindert die Querlatte den Einschlag.

In den letzten 30 Minuten verflacht die Partie. Der BSG merkt man den Kräfteverschleiß der vergangenen Wochen, in denen sie eine Vielzahl an Spielen zu absolvieren hatte, deutlich an. Auch auf den Rängen bieten die „Diablos“ heute bestenfalls Durchschnitt und tun es ihrer Mannschaft gleich, die nun komplett in einen Verwaltungsmodus schaltet. Insgesamt hat man heute zu wenig Elan und Esprit, um das Spiel aktiv zu gestalten und in dieser durchaus enttäuschenden Gesamtkonstellation hofft man auf ein baldiges Ende des Spiels. Letztlich gelingt es Chemie mit diesem biederen Beamtenfußball einen Punkt aus dem „Waldstadion“ zu entführen und für uns endet der erste Teil des sportlichen Samstags.

Nach Abpfiff zieht es uns vorbei am wunderschönen Rathaus Ludwigsfelde in die „Gaststätte Landlord“, wo sich das verschnörkelte „S“ im Logo des hier ausgeschenkten Bieres bei genauerem Hinsehen leider als „H“ entpuppt. Geschenkt, jetzt haben wir schon „zwei Sauff-Bräu“ und eine deftige Grundlage für den Abend in der Königsklasse bestellt. Glücklicherweise trennen uns vom Bahnhof nur noch fünf Meter Fußweg, sodass im Anschluss der Nahrungsaufnahme einer zweiten Runde „Sauff“ nichts mehr im Wege steht. Nicht nur in Jena weiß man: „Saufen schmeckt gut!“

Um 18.00 Uhr haben wir wieder Berliner Boden unter den Füßen und nun noch exakt eine Stunde Zeit, vom Bahnhof Südkreuz in die Schwimmhalle zu gelangen. Für den 1,3 Kilometer langen Teufelsmarsch decken wir uns glücklicherweise noch mit einem Wegbier ein, welches nach 15 Minuten zum Stehbier wird. Wir haben die „Sport- und Lehrschwimmhalle Schöneberg“ bereits vor der Nase und nun genügend Ruhe und Muße, die als TeBe-Fans verkleideteten Wasserballfreunde zu beobachten. Diesen Auftritt darf man schon jetzt getrost als hochnotpeinlich bezeichnen, als plötzlich der „Sachse“ vom gleichnamigen Damm winkt. Da hat wohl heute jemand die gleichen Samstagspläne…

Für den Eintritt in die „Sport- und Lehrschwimmhalle“ verlangen die Spandauer von Vollzahlern stolze 10 €, was mich dazu animiert, mir eine ermäßigte Karte zu ergaunern. Als Ermäßigungsgrund gebe ich im Dialog mit der Kassiererin einfach ‚Nichtschwimmer‘ an, was sie glücklicherweise amüsant findet, mit einem Lächeln quittiert und mich gegen eine Zahlung von nun nur noch 5 € und ohne Dusche passieren lässt.

Die Schwimmhalle ist auf einer Seite mit einer großen Tribüne ausgestattet und auf ungefähr 32 Grad aufgeheizt worden. Das nächste Bier fühlt sich angesichts der Temperatur und des rinnenden Kondenswassers an den Wänden ein wenig wie Alkoholmissbrauch in der Herrensauna an und schon betreten die durchtrainierten Athleten den Innenraum.

Einige von Euch kennen vielleicht den einen oder anderen legendären youtube-Clip großer Fanszenen südosteuropäischer Fußballvereine (z.B. Roter Stern, Partizan, Galatasaray, Panathinaikos o.ä.) in ungewohnten Umgebungen. Viele Fanszenen begleiten nachweislich auch gerne mal die anderen Abteilungen ihrer Clubs akustisch. Mit Fahnen, Trommeln, Gesängen, Nebeltöpfen und Bengalos werten sie so gelegentlich den einen oder anderen Hallensport auf. Immer wieder ein Genuss, 200-300 Ultras dabei zuzusehen, wie man beim Basket-, Wasser- oder Volleyball mit geschlossenen Auftritten regelrecht die Hallendächer abreißen kann. Heute erwartet FUDU mindestens 300 heißblütige Griechen, die das Wasser der „Sport- und Lehrschwimmhalle“ zum Kochen bringen.

Um Punkt 19.00 Uhr wird das Spiel der Champions League (Vorrunde, Gruppe B) eröffnet. Die 300 Griechen stehen leider noch im Stau, stattdessen nerven die TeBe-Trottel mit Gesängen. Der Hallensprecher weist darauf hin, dass man heute extra Trommeln an die Reling gehangen hätte und bittet die Zuschauer, diese nun auch zu benutzen. Knapp 250 Menschen haben sich immerhin auf der Tribüne versammelt, während die Spandauer dem amtierenden Champion aus Piräus im ersten Viertel Paroli bieten können. Nach den ersten acht Minuten steht es 2:2, doch bereits zur Pause liegen die Wasserfreunde mit 2:6 im Hintertreffen und die Wasserball-Regularien bitten Fetti nach lediglich 16 effektiven Spielminuten schon wieder zum nächsten Bier. Die enthusiastischen Griechen haben die Halle in der Zwischenzeit leider noch immer nicht erreicht. Vielleicht versehentlich ins „Stadtbad Schöneberg“ gefahren – Anfängerfehler.

Am Ende werden sie ein 11:3 ihrer Helden verpassen und der durchgeschwitzte Fetti wird auch beim Verlassen der Halle nicht abgeduscht. Nicht einmal mit Champagner. Dann am nächsten Wochenende doch lieber wieder unterklassiger Fußball statt Champions League in der Herrensauna! /hvg

06.04.2019 FK Litoměřicko – SK Benešov 2:4 (1:3) / Fotbalový stadion Litoměřice / 150 Zs.

Anfang April herrscht helle Aufregung. Ein echter Weltmeister ist in der Stadt! Selbstverständlich, dass ich mich da am Freitagabend nicht lange bitten lasse und nach Feierabend schnellstmöglich quer durch die Walachei düse, um diesen treffen zu können. Wenn sich Günter Hermann schon einmal die Ehre gibt, den weiten Weg nach Berlin auf sich zu nehmen, dann hat man gefälligst parat zu stehen, wenn dieser Hoppinggelüste verspürt. Schnell ist die Wahl auf das „Karl-Liebknecht-Stadion“ in Potsdam-Babelsberg gefallen. Das Spiel gegen den FC Viktoria von 1889 könnte man sich beinahe als „Derby“ schönreden und sicherlich wären auch die ausklappbaren Flutlichtmasten des SV Babelsberg 03 einen Abstecher nach Brandenburg wert gewesen, aber der Konjunktiv bleibt eben das Stilmittel der Gescheiterten. All dies hätte nämlich geklappt, wären die Halbstarken am S-Bahnhof Charlottenburg nicht auf die geniale Idee gekommen, ihre Turnstunde im Gleisbett abzuhalten. So wird der Zugverkehr in Richtung Südwesten bedauerlicherweise so lange ausgesetzt, bis wir keine Chance mehr haben, es pünktlich zum Anpfiff hinaus nach Babelsberg zu schaffen. Kurz nachdem uns klar geworden ist, dass wir nahezu die gesamte erste Halbzeit verpassen werden, rollt endlich ein Zug ein. Etwas trotzig steigen wir zu. Wenn wir hier jetzt schon so lange gewartet haben, dann fahren wir auf jeden Fall nach Potsdam!!! – um dann unterwegs festzustellen, dass das ganz schöner Quatsch wäre. Am S-Bahnhof Wannsee endet unser Fußballausflug folgerichtig und wird flugs gegen eine Einkehr in „Lorettas Almhütte“ mit Seeblick ausgetauscht. A Mordsgaudi.

Um 3.36 Uhr sitze ich dann auch schon in der M10 zum Berliner Hauptbahnhof. In der Hand halte ich eine Fahrkarte, die der „Generation Y“ die Freudentränen in die Augen treiben würde und an der die tschechischen Spielplan-Pavels eine gewisse Mitschuld tragen. Berlin-Dresden-Praha-Brno lautet die auf dem Billet aufgedruckte Bandbreite an Möglichkeiten. Sich für 24,90 € einfach mal alle Türen offen halten, so die Devise bei Kauf vor wenigen Wochen. In der Zwischenzeit hat mir der tschechische Fußballverband jedoch alle Türen vor der Nase zugeschlagen und sowohl die Partie der Bohemians als auch die von Zbrojovka Brno auf Sonntag terminiert. Leute, ein bisschen mitdenken, bitte. Da hat Fetti doch einen Termin in Dresden.

Nur gut, dass auch das endgültige Ziel der Reise auf dieser Multifunktionsfahrkarte vermerkt ist. So komme ich also in den zweifelhaften Genuss, bereits einen Tag vor Beginn des Auswärtsspiels in Dresden um 4.28 Uhr nach Sachsen aufbrechen zu dürfen. Die Laune ist ohnehin bereits morgenmuffelig genug, als am Abfahrtsgleis die Lautsprecherdurchsage erschallt, dass sich die Abfahrt des „Eurocity“ nach Praha hlavní nádraží heute um 30 Minuten verzögern wird. Wie sagt man so schön? Das frühe Schwein fängt sich gleich eine!

Um 7.40 Uhr (+33) ist die Notlösung Dresden mit latenter Müdigkeit in den Knochen erreicht. Während des Konsums einer angemessenen Menge Kaffee fällt Fetti auf, dass er wegen der Verspätung in Praha seinen Anschlusszug nach Brno verpassen und 90 Minuten verspätet am Zielort eintreffen wird. Es ist doch zum Mäusemelken! Da ist es nur als ’schlüssig‘ zu bezeichnen, dass man schon jetzt damit liebäugelt, wieder einmal ein Mäusemelkformular auszufüllen und sich wenigstens 25% des Fahrkartenpreises zurück zu ergaunern. Schon ist es um die Laune etwas besser bestellt, was aber auch daran liegen könnte, dass nach den gescheiterten Plänen A und B der ohnehin viel bessere Plan Č FL greifen wird: Anstatt in Dresden gelangweilt 30 Stunden auf den morgigen Anpfiff zu warten, folgt Fetti den Verlockungen des tschechischen Drittligafußballs.

Glücklicherweise ist es gelungen, für den Ausflug in die Drittklassigkeit einen erstklassigen Mitreisenden zu akquirieren. „Danger-Mike“ fährt um 8.30 Uhr helldunkelwach mit seinem wie immer auf Hochglanz polierten weißen Tschechenboliden vor und schon kann die wilde Fahrt in das 93 Kilometer entfernte Litoměřice beginnen. Die Frontscheibe weist zwar einen erheblichen Steinschlag auf, doch mit einer Bierruhe versichert der Fahrer, dass diese die gut einstündige Tour locker überstehen wird. Wer eine Kindheit im Erzgebirge überlebt hat, fürchtet sich nicht vor Autobahnfahrten ohne Scheibe, nehme ich an und bin trotzdem beruhigt, dass „Danger-Mike“ bereits ein Konzept zur Wiederherstellung entwickelt hat. Das „Autoskloteam“ ist schließlich Sponsor seines Lieblingseishockeyvereins aus Usti und wirbt seit Wochen am Videowürfel der Eishalle mit einem Cartoon, in dem tschechische Randalierer einen Schulbus mit Bierflaschen bewerfen. Geschichten, die das Leben schreibt. Der tschechische Alltag ist eben rau, aber so ist wenigstens gewährleistet, dass man problemlos an jeder Ecke Kontakte zu Menschen herstellen kann, die Glas reparieren können…

Um kurz vorm Wachwerden haben wir das Auto mit noch immer bestehender Windschutzscheibe am besten Platz der Stadt abgestellt. Wir werfen einen ersten flüchtigen Blick über die schönen Bauten des Marktplatzes und werden nach Abpfiff sicherlich genügend Zeit haben, um der Stadt eines genaueren Blickes zu würdigen. Zur Spielstätte des ortsansässigen FK Litoměřice, welche navigationsgerätefreundlich mit der Adresse „U Stadionu“ aufwartet, sind fußläufig nur noch 1,5 Kilometer zurückzulegen und bis zum „familienfreundlichen“ Anpfiff um 10.30 Uhr verbleiben noch gut 40 Minuten auf der Uhr.

Gut, dass sich in der Nähe des Stadions ein „Kaufland“ auftut. Ich nutze die Gelegenheit, um mir etwas Bargeld zu ziehen und „Danger-Mike“ imitiert einen Sonntagseinkauf, um seinen 1000 Kč Schein ein wenig zu verkleinern, damit es an der Stadionkasse angesichts des Wertpapiers in Ermangelung von Wechselgeld gleich keine Nervenzusammenbrüche oder Panikattacken gibt. Fünf Minuten später erscheint „Danger-Mike“, wer hätte es ahnen können, mit zwei Flaschen Bier in der Hand auf dem Parkplatz des Supermarktes. Hatten wahrscheinlich nichts anderes.
Nur noch 20 Minuten bis zum Anpfiff. Und jetzt? Naja, auf den nächsten Schulbus können wa lange warten, also müssen wir es wohl austrinken…

An der Stadionkasse müssen wir humane 50 Kč berappen, um das Spiel gegen Benešov erleben zu dürfen. Die Gäste haben für dieses Drittligaspiel exakt 108 Kilometer zurückzulegen – und damit 15 mehr als wir aus Dresden – dennoch geht dieses Spiel für „Danger-Mike“ heute als „Derby“ durch, wie er mehrfach betont und damit eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass auch er die hohe Kunst des Schönredens beherrscht. Ich prügele die letzte Pfütze Pivo in den Schluckdarm und kann mich dann kurz vor Anpfiff noch gerade eben rechtzeitig mit einer herrlichen Frühstücks-Klobása und einem frisch Gezapften eindecken. Ein Senior, der mit seinen Freunden auf Bierbänken vor der Tribünen-Kneipe sitzt, bietet mir einen Flachmann mit „Becherovka“ an. Ich lehne dankend ab und frage mich so langsam aber sicher, was daran jetzt so „familienfreundlich“ sein soll, wenn Vati um 12.30 Uhr besoffen zum Mittag nach Hause kommt. Aber vielleicht ist auch das einfach nur ein stinknormaler Teil des rauen tschechischen Alltags.

Das schöne städtische Stadion hat seine besten Tage längst hinter sich. Die alte Haupttribüne hat die Zeiten jedoch überdauert und glänzt mit überragend schönen Klappbänken aus blau und rot lackiertem Metall, die man quietschend aus der Verankerung lösen muss, damit diese dann krachend herab scheppern. Neben der Tribüne sind Teile der alten Kurven in rudimentären Fragmenten erhalten geblieben, während der Rest des Stadions ohne Ausbauten auskommen muss. 150 Zuschauer sind erschienen und würde es die akustische Untermalung der Sitzgelegenheiten nicht geben, man würde hier die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören.

Die aufgetakelte „Präsidentengattin“ flaniert mit Minirock, Schnürstiefeln (von der Stange) und einem Schoßhündchen an der Leine um den Platz und erntet lüsterne Blicke der alten Männer vor der Kneipe. Wohl dem, der im Alter an Kurzsichtigkeit leidet. Uns bleibt die gegerbte Lederhaut der Mittfünfzigerin jedoch keineswegs verborgen. Der Fluch der Kabelkaribik ist dann aber auch recht schnell überstanden und nach nur drei Runden hat Fiffi glücklicherweise auch genug, sodass sich Dame und Hund außerhalb unseres Sichtfeldes auf der Tribüne niederlassen.

Währenddessen hat Schiedsrichter Severýn die Partie längst eröffnet. In der „Česka Fotbalova Liga“, die 18 Vereine umfasst, trifft heute der 13. auf den 9. und der erste Höhepunkt lässt gerade einmal 12 Minuten auf sich warten. Gästespieler Michael Azilinon trifft nach einem mustergültigen Querpass völlig freistehend aus vier Metern vor dem mehr oder weniger leeren Tor nur die Latte und erntet hämisches Lachen aus dem Publikum – welches den Anhängern der Heimmannschaft aber wenige Sekunden später im Halse stecken bleibt. Der Ball verlässt den Strafraum nicht, ein Verteidiger Litoměřices stellt sich im Zweikampf überaus stümperhaft an und Vojtěch Engelmann, der beherzt nachgesetzt hatte, befördert den Ball mit dem linken Fuß an den Innenpfosten und ins Netz.

Nur sechs Minuten später entscheidet Severýn zurecht auf Foulelfmeter für die Hausherren. Marek Hanuš schnappt sich den Ball und verwandelt eiskalt, doch die Freude über den schnellen Ausgleich währt nicht lange. Die Defensive Litoměřices ist heute nämlich in etwa so ausgeschlafen wie Fetti und seine Freunde und so endet nur drei Minuten später eine eigentlich sehr harmlose Situation im Strafraum mit einem erneuten Elfmeterpfiff. Die gesamte Abwehrriege hatte tatenlos mit angesehen, wie der Ball wie ein Flummi durch den eigenen Sechzehner gehüpft war. Besonders enttäuscht sind wir vom Argentinier Paulo Ippolito, den Litoměřice sicherlich für viel Geld aus einem Steakhouse verpflichtet hat und der hier auch keine Anstalten macht, zum Spielgerät zu gehen. Erst, als der Ball im Zentrum angekommen ist, setzt Miroslav Verner dem Schauspiel mit einem beherzten Tritt gegen den heran eilenden Stürmer ein Ende. Hätte man eleganter lösen können. Kapitän Vrňák sagt „Děkuji!“, hat bei der Verwandlung des Strafstoßes aber das Glück auf seiner Seite, denn beinahe hätte Keeper Ordelt das Ding über die Latte gelenkt.

Im Anschluss beruhigt sich die Partie ein wenig, das Niveau verflacht und Aufregung gibt es immer nur dann, wenn die Defensive des FK Litoměřicko neue Böcke schießt. Nach 33 Minuten kann Gästespieler Hampl das erste Fehlpass-Geschenk noch nicht annehmen, aber keine 10 Minuten später spielt Šimkovský einen weiteren verunglückten Rückpass noch ein wenig genauer in die Füße des Gegners, so dass Lauricella plötzlich frei vor Ordelt auftaucht. Der Angreifer bleibt cool und legt zurück an den Elfmeterpunkt, von dem Engelmann den Ball ins leere Tor schieben kann.

So also geht es mit 1:3 in die Kabinen und Heimcoach Zdeněk Hašek wird hinterher zu Protokoll geben: „Naše individuální chyby zavinily dnešní prohru. Bohužel naše lajdáckost v řešení defenzivy nás sráží!“. Eines muss man ihm lassen – der Mann hat Sachverstand!

Litoměřice startet beherzt und mutig in den zweiten Spielabschnitt. Es dauert keine fünf Minuten und schon hat sich Gästeschlussmann Rotbauer von Novák schön einen durch die Hosenträger knödeln lassen. Das 2:3 gibt deutlich sichtbaren Rückenwind und so drängt der FKL bis zur 70. Minute auf den Ausgleich, bleibt aber nur in Ansätzen gefährlich und kann zu wenig klare Torchancen kreieren. Etwas unbeholfen löst man viel zu früh sämtliche taktische Fesseln und der Gast aus Benešov ist clever genug, um auf den richtigen Moment zu warten. In der 73. Minute sitzt dann auch der erste Angriff nach 25 Minuten Defensivarbeit: Flanke von links, Kopfball Engelmann, 2:4! Gut eine Viertelstunde später bilden die Gästespieler, die das Ergebnis souverän über die Ziellinie gebracht haben, eine Jubeltraube auf dem Rasen. Torwart Rotbauer verpasst dem dreifachen Torschützen Vojtěch Engelmann den Spitznamen „Hattrick-Man“ und uns zieht es nach einem ansehnlichen Fußballspiel in einem schönen Stadion (und einem schnellen Einkauf von Käse und Klobása im Supermarkt für den häuslichen Eigengebrauch) schnellstmöglich zurück in die Stadtmitte.

Auch in Tschechien grassiert offenbar mittlerweile der todbringende Latte-Macchiato-Cocktailbar-Healthy-Food-Lounge-Virus. Man muss sich zumindest deutlich häufiger im Kreis drehen, um eine altböhmische Bierstube zu finden, als dies einst der Fall war. Ach, diese Generation wird uns noch alle umbringen! Wir enden jedenfalls in einem recht steril eingerichteten Pub namens „Budvarka“, in dem es aber immerhin diverse tschechische Biere vom Fass und Essen mit lokalem Einschlag zu bestellen gibt. Neben uns nervt eine sächsische Herrengruppe von Bahnfreunden, die nicht nur von irgendwelchen großdeutschen Schienennetzen erzählen, sondern sich gegenüber der armen tschechischen Kellnerin auch noch benehmen wie Kaiser Wilhelm beim Kolonialisieren. Wir haben das Mensa-Ambiente mit Kartoffelquark vom Nachbartisch jedenfalls recht bald satt und entscheiden einstimmig, lieber noch einen kleinen Stadtbummel vor der neunzigminütigen Rückfahrt auf die Tagesordnung zu schreiben.

Litoměřice hat immerhin 24.000 + 1 Einwohner (Stand: Januar 2019) und kann einen durchaus attraktiven Stadtmittelpunkt vorweisen. Das historische Zentrum rund um den Marktplatz (Mírové náměstí) zählt nicht völlig zu unrecht zur „Liste der städtischen Denkmalreservate in Tschechien“, auf der die 40 schönsten Altstadtkerne der Republik geführt sind. Wer einmal das Vergnügen hat, in Litoměřice Station zu machen, der sollte es nicht verpassen, entlang der gotischen Wälle entlang zu flanieren, die das Denkmalschutzgebiet eingrenzen. Von der Zwingertreppe (Máchovy schody) gibt es dann auch den einen oder anderen schönen Blick auf das „alte“ Litoměřice zu erhaschen, bevor der Tschechenbolide wieder angeschmissen und uns von Leitmeritz nach Drážďany befördern wird.

Auf der Rücktour machen wir Halt in einem „Border Shop“ in Petrovice, um unsere übrig gebliebenen Kronen unters Volk zu bringen. Die Reisegruppe interessiert sich für „Zigretten“ und Schnaps und wird schnell fündig. Nach diversen gescheiterten Anläufen in verschiedensten tschechischen Supermärkten steht sie nun endlich vor mir und funkelt goldgelb in der Mittagssonne: Eine Flasche „Praděd“. Klar, dass das flüssige Gold umgehend in den Einkaufswagen wandert. Die letzten Runden dieses edlen Gesöffs hatte der Weltmeister (…der übrigens zu seinem Bedauern auch das heutige Spiel von Lichtenberg 47 gegen Greifswald verpasst hat. Da kommt man nichtsahnend nach Berlin zum Familienbesuch – und dann will einen die Familie auch noch sehen!) im November in der „Prager Hopfenstube“ in der Karl-Marx-Allee vor einem „IDLES“-Konzert spendiert. Die nächste Runde geht dann wohl auf den „Alkvater“!

Völlig euphorisiert von diesem Fund, packe ich im Vorbeigehen noch einen finnischen Schnaps in den Warenkorb. „Haltitunturi“. Na, da wird der „verrückte Tischfinne“ aber Augen machen, wenn ich ihm den morgen rund um das Spiel im „Rudolf-Harbig-Stadion“ anbieten werde…

Um 16.00 Uhr haben wir die Autobahnausfahrt Dresden-Südvorstadt erreicht. „Nur, damit Du Dich nicht wunderst, meine Große lässt sich jetzt auch von Fremden streicheln“, lässt mich „Danger-Mike“ wissen. Etwas später wird sich herausstellen, dass er leider wieder nur von seiner Katze gesprochen hat, während mein Böhmen-Jetlag unerbittlich zuschlägt. Wach seit Freitagmorgen, ein Arbeitstag, ein Abendprogramm, eine Reise und ein Fußballspiel in den Knochen, fühlt es sich aktuell eher nach Schlafenszeit als nach Halli-Galli in Dresden an. Gut, dass auch „Danger-Mike“ und der „Sprengmeister“, den wir kurz darauf in Empfang nehmen, an diesem Abend nicht mehr im Schilde führen, als auf der Couch zu versacken und Fußball zu schauen. Merke: Auf das medial ausgeschlachtete schwachsinnige „Deutsche Clásico“ zwischen reich und reicher kann derjenige getrost verzichten, der auch die österreichische Bundesliga in der Konferenz empfängt.

Nach einer geruhsamen Nacht in Wismut-Aue-Fleecedecke geht es im „Rudolf-Harbig-Stadion“ schon um 13.30 Uhr wieder zur Sache. „Familienfreundliche Anstoßzeit“ sagt die DFL, der gemeine Tscheche ist da vom Sportplatz bereits längst wieder besoffen in die Häuslichkeit zurückgekehrt und kann nur müde lächeln. Der 1.FC Union Berlin erkämpft sich in einem an Höhepunkten armen Spiel ein 0:0 und nimmt einen Punkt mit nach Hause. Im „Augustiner an der Frauenkirche“ trudeln „Danger-Mike“, der „Sprengmeister“ und der „verrückte Tischfinne“ ab 15.30 Uhr nach und nach aus allen Himmelsrichtungen ein. Ich bestelle Schweinebraten und Bier und bekomme immerhin Bier und zeige dem Finnen, der gleich zurück nach Helsinki fliegen wird, noch eben schnell voller Stolz den erbeuteten „ Haltitunturi“. „Hat nix mit Finnland zu tun, außer finnisch Name“, so seine nüchterne Reaktion. Ich mustere die schöne Glasflasche mit eingefasstem „Helsinki“-Schriftzug nun etwas genauer. Steht doch da tatsächlich „Helsinkigroup.cz“. Ach herrje. Wenn der waschechte Cateringverlierer da mal nicht auf die international agierende tschechische Schnapsfälscherbande hereingefallen ist…

Auf der Rückfahrt nach Berlin lerne ich im Coupé des „Eurocity“ eine junge Tschechin namens Clara kennen, die am Wochenende an einer Veranstaltung des deutsch-tschechischen Jugendforums in der deutschen Botschaft in Prag teilgenommen hat. Das überaus charmante Gespräch rundet die Reise ab, da kann ich es auch verschmerzen, dass ich meinen Käse und die Klobása im Dresdner Kühlschrank vergessen habe. Mittlerweile sind auch die Ergebnisse der beiden ersten tschechischen Fußballligen bei mir eingetrudelt: Bohemians 1905 – Mladá Boleslav 0:0, Zbrojovka Brno – Ústí nad Labem 0:0 und so wertet die Torarmut in den oberen Spielklassen den ohnehin gelungenen Tagesausflug nach Litoměřice noch einmal nachträglich auf.

Eines ist gewiss, irgendwann werden wir das wiederholen, möglicherweise sogar mit reparierter Windschutzscheibe. Und wer weiß, vielleicht lässt sich bis dahin dann sogar seine Kleine von Fremden streicheln… /hvg