Posted on Dezember 28, 2015
28.12.2015 Glasgow Rangers FC – Hibernian Edinburgh FC 4:2 (2:1) / Ibrox-Park / 49.995 Zs.
Nach nur drei Tagen sind wir komplett in Glasgow akklimatisiert. So sehr, dass wir uns bereits vollkommen im „Glasgow-Effekt“ verheddert haben. Arbeitslosigkeit, soziales Elend, ungesunde Ernährung und Alkoholismus führen in einigen Bezirken der Stadt zu einer statistischen Lebenserwartung von 53 Jahren. Und wahrlich: Noch nie haben wir so viele dicke Menschen an einem Ort gesehen. Noch nie haben wir so viele dicke Frauen an einem Ort gesehen. Noch nie haben wir so viel ungesundes Essen gegessen. Wir stellen uns angesichts der auffälligen Häufung unreiner Haut und dicker Make-Up-Schichten die Huhn-Ei Frage. Wenn ihr versteht, was ich meine. Nach einigen Steak & Cheese Rolls zum Frühstück, Sausage Rolls für 70 Pence, Fish&Chips-Portionen in XXXXXL-Größe und Lasagne mit Pommes können wir immerhin mitfühlen. All das erträgt man nur, wenn man sich schon vormittags die ersten Bierchen gönnt. Der Gesundheitsminister empfiehlt derweil, nicht mehr als four Units Alkohol pro Tag zu sich zu nehmen, wobei ein Pint etwa 2,5 Units entspricht. Ob der Bauer wohl mal nachgerechnet hat?
Wie jeder Schotte haben wir die empfohlene Tagesdosis also bereits häufig mit dem Frühstück intus, haben am Ende des Tages Tennent’s-iell immer überpowert und auch einen Stamm-Pub haben wir bereits gefunden. Das „Merchants“ in der Paisley Street lädt immer wieder zum Verweilen ein. Dort gibt es Mutter und Tochter hinter dem Tresen. Dort erlebt man jeden Tag Geschichten, die man seinen Enkeln erzählen kann: Das Treffen mit Esteban, dem Pseudo-Spanier, der im Vollsuff seine Kreditkarte verliert und dem ehrlichen Finder Prügel androht und des Diebstahls bezichtigt. Der kultige Karaoke-DJ, der seine Lads aus Germany ab dem zweiten Abend per Umarmung begrüßt. Die beiden rassistisch beleidigten Anel (Dzaka) und Abder (Ramdane), die nach einer solidarischen Geste unsererseits etliche Freibier springen lassen. Und amouröse Eskapaden rund um den „Acid-Dealer“. Aber Obacht, keine Details: „What happens in the Merchants, stays in the Merchants!“
Eine Unterhaltung darf dann aber doch noch gerne nach Außen dringen. Angesprochen auf unsere Reisepläne geben wir zum Besten, dass wir nach Carlisle reisen werden. Der findige Gesprächspartner entgegnet: „No, you aren’t going to Carlisle!“ – „But why?“ – „Because it’s under water!“. Was wir zunächst für einen Scherz halten, wird im Hotelzimmer zur traurigen Gewissheit. Das Stadion des Carlisle FC gleicht einem Freibad und auch der Rest der Stadt ist unter den Fluten verschwunden. Hotelbuchung und Zugfahrkarten lassen wir verfallen, disponieren schleunigst um, buchen eine Nacht in Glasgow dazu und entscheiden uns alternativ für den Besuch der Rangers. Auch nicht die schlechteste Notlösung.
Tags darauf voller Vorfreude am Ticketoffice der Rangers angekommen, wirft uns die Verkäuferin zur Begrüßung erst einmal einen ordentlichen Knüppel zwischen die Beine. Das Spiel sei bereits seit zwei Wochen ausverkauft und wir hätten keine Chance, auf irgendeinem erdenklichen Weg an Eintrittskarten zu gelangen.
Etwas niedergeschlagen ziehen wir uns in einen Pub zurück, schmieden Schlachtpläne und knüpfen erste Kontakte. Die Maximalsumme, die wir auf dem Schwarzmarkt ausgeben würden, wird ausgelotet und beträgt 60 Pfund pro Nase. Zwei Bier später kehren Fackelmann und ich (zwei Stunden vor Anpfiff) zum Stadion zurück, drehen unsere Runden um die Spielstätte und den U-Bahnhof, um Kartenverkäufer zu erspähen, während der Wirtschaftsflüchtling weiterhin in der Kneipe ein-zwei-drei Karten aufzutreiben versucht. Nach einer Stunde Rundgang und zwei Mal pullern hinter dem Polizeipferd ist klar, dass der Schwarzmarkt ausschließlich aus Kartensuchenden besteht. Fackelmann zieht sich erschöpft in die Kneipe zurück und schlägt mit dem Wirtschaftsflüchtling ab, der mich fortan bei der Suche unterstützt. Zwei tapfere Mohikaner wollen das weiße Taschentuch noch etwas stecken lassen und weitere Kilometer abspulen. Fünfzehn Minuten vor Anpfiff klingelt mein Handy. Der Wirtschaftsflüchtling hat doch tatsächlich eine Karte auftreiben können – für zehn Pfund – wobei die preiswerteste Karte im Vorverkauf doppelt so teuer gewesen war. Der Mann ist ein Phänomen. Und ein echter Kumpel, da er mir die Karte überlässt und sich zum Fackelmann zurück in den Pub gesellt.
Mein Glück noch gar nicht fassend, stehe ich plötzlich im altehrwürdigen Ibrox-Park. Was für ein wunderbares Stadion: Klinkerfassade, enge, steile Ränge ohne Abstand zum Rasen, holzvertäfelte Ehrenlogen, Katakomben, welche man dergestalt auch in Industriehallen vorfinden könnte, kein Schicki-Micki-Brimborium, kein sichtbares V.I.P-Chichi mit roten Teppichen, einfach nur ein Fußballstadion!
Das Spiel beginnt. Von meinem Platz in der letzten Reihe kann ich ausschließlich Rasen, das untere Drittel der Tribünen und die Dachkonstruktion der Haupttribüne mit dort angebrachten alten funktionslosen Röhrenfernsehern sehen. Die Herkunft des Lärms, den die Rangers-Fans teilweise erzeugen, kann ich nur erahnen. In Hochphasen zieht einem die Stimmung beinahe die Schuhe aus – leider beteiligen sich jedoch nur äußerst sporadisch alle Zuschauer, sodass es über weite Strecken des Spiels auch ziemlich leise wird. Das Spiel jedoch hätte das Zeug gehabt, über die komplette Distanz lautstark begleitet zu werden. Wirklich schnell, temporeich und sehenswert, wie hier die beiden Spitzenmannschaften der zweiten schottischen Liga um die Tabellenführung kämpfen. Der Gast aus Edinburgh geht früh mit 1:0 in Führung. Der Gästemob (knapp 1000 Mann stark) feiert den Treffer ekstatisch und der schöne Torpogo endet mit kleineren Scharmützeln mit nebenan sitzenden Rangers-Fans und den Ordnern. Richtig lautstark gesungen wird im Block der Hibs jedoch leider nur nach dem Tor, ansonsten darf wohl eher von einer enttäuschenden Performance gesprochen werden. Torschütze Jason Cummings, gerade einmal zwanzig Jahre alt, wird zum auffälligsten Spieler der Partie werden. Technisch auf einem anderen Level als alle anderen Akteure, immer mit einer guten Idee und einem guten Pass ausgestattet, dazu Agent Provocateur à la Sören Brandy, wird er dank seiner Gesamtekligkeit für den Gegner schnell dazu auserkoren, ausgepfiffen zu werden. In bislang 52 Spielen in der zweithöchsten Spielklasse gelangen ihm 31 Treffer. Da wette ich 5 Pfund
Schweinemett drauf, dass dieser Mann in zwei bis drei Jahren zum schottischen Nationalspieler reifen und nach England wechseln wird…
Die Rangers zeigen sich jedoch als Mannschaft geschlossener und besser aufgestellt als ihr Gegner und drehen die Partie noch vor der Halbzeit. In der zweiten Halbzeit legen die Rangers den schönsten Treffer des Abends nach und gehen nach einer butterweich getretenen Flanke auf den langen Pfosten mit darauf folgender Direktabnahme 3:1 in Führung. Spannung bringt jetzt nur noch der Schiedsrichter hinein, als er in der 70. Minute einen Rangers-Akteur mit glatt Rot zum Duschen schickt. Dennoch verwalten die Rangers die Führung lange Zeit souverän – so lange, bis ihr Torhüter an einer harmlosen Flanke vorbeisegelt und der eingewechselte Gästeakteur den Ball ins leere Tor stolpern kann. Erst dann entsteht eine Art Druckphase der Gäste, die aber jäh durch einen Konter und eine wunderbare Einzelleistung samt Torerfolg durch Waghorn beendet wird.
Auch bei den Rangers verlassen viele Zuschauer das Spiel bereits vor dem Abpfiff. Der Drang, im Pub ein Bier trinken zu gehen, ist offenbar zu groß. Mehr als 50% der Zuschauer verlassen das Stadion jedoch nicht, ohne der Ordnerin einen Kuss gegeben zu haben. Hier scheint man sich zu kennen.
Ich bleibe selbstverständlich bis zum Abpfiff und stelle dann ernüchtert fest, dass sich das Stadion dann innerhalb von nur 2 Minuten komplett leert. Es gibt keinen Applaus, keine Feierei, kein Ehrenrunde der Spieler, sodass auch ich mich von den Massen in Richtung Pub schieben lasse, um dort die beiden anderen Specknacken einzusammeln und von meinem Erlebnis Bericht erstatten zu können.
Als ich die Pubtür öffne, verstehe ich plötzlich die Hektik der Leute. Die letzten 1,2 Quadratzentimeter Platz nutze ich, um einen Fuß in die Kneipe zu bekommen. Der Wirtschaftsflüchtling steht in guter Position nahe der Zapfhähne und nimmt mein Gewinke wahr. Bei einem gemeinsamen Bier, das man immer dann trinkt, wenn man den Arm weit genug vom Körper bewegen kann, wird das Stadion- mit dem Fernseherlebnis abgeglichen.
Am Ende des Abends fahren wir mit der Glasgower Metro – die wohl kleinste Bahn mit den engsten Tunnelröhren und schmalsten Bahnsteigen der Welt. Der Wagon ist so niedrig, dass ich mir darin beinahe den Kopf stoße. Von den Einheimischen wird die Metro liebevoll „Clockwork Orange“ genannt. Uns kutschiert sie in die Stadtmitte, um in der Buchanan Street in einem „Wetherspoons“ einzukehren. Das opulente Gebäude, in dem früher eine Bank beherbergt war, macht optisch dermaßen viel her, dass es einem beinahe stilvoll erscheint, ein letztes Bier des Tages zu trinken und dann glücksbeseelt ins Bett zu fallen „Merchants“ weiterzuziehen… /hvg
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