Posted on Mai 1, 2016
01.05.2016 Juventus FC – Carpi FC 2:0 (1:0) / Juventus Stadium / 40.316 Zs.
Es ist der 01. Mai 2016. Tag der Arbeit. Glücklicherweise haben wir heute keine und so verlassen wir unsere Hotelbetten in Brescia tiefenentspannt, um nur kurz darauf noch einmal in den Genuss des U-Bahn-Netzes der Stadt zu kommen. Als wir den Zug am Hauptbahnhof verlassen, haben sich zwei Ticketkontrolleure an den Ausgang des Bahnhofs postiert. Wir zeigen pflichtbewusst unsere Billets, während eine Oma mit Regenschirm schnurstracks an den beiden Ragazzi vorbeizieht. Diese geben sich nur kurz Mühe, die Signora anzuhalten, ihren Fahrschein nachzuweisen, doch die Dame ohne Ticket sitzt am längeren Hebel. Ihre Schimpftiraden zünden eingangs nicht vollends, doch die nun folgende Drohgebärde unter Einsatz des Regenschirms kann die beiden Kontrolleure überzeugen, sie endgültig passieren zu lassen.
Beschwingt von diesem italienischen Moment am frühen Morgen nehmen wir gelassen zur Kenntnis, dass unser Zug nach Torino 20 Minuten Verspätung haben wird. Wir füllen das Zeitfenster abermals sinnvoll, indem wir in der Bahnhofspinte zwei Peroni à 0,66 Liter und Sandwiches, die nummerisch zu unseren Sitzplätzen passen, käuflich erwerben und zunächst in den Rucksäcken verstauen. Wir brausen zwischen Novara und Vercelli an matschigen Feldern vorbei. Erste Scherzraketen werden gezündet: Ist unser Zug entführt worden? Good Morning, Vietnam! Ein Blick in den Reiseführer verschafft dann aber schnell Klarheit. Es handelt sich tatsächlich um Reisfelder, die wir beide nicht in Italien verortet hätten. Aber gut, auf die Querverbindung hätte man kommen können, schließlich schnippelt der Italiener an sich gerne ein paar Funghi in Pampe und nennt das ganze dann Risotto, welches hier offenbar direkt aus der Suhle gefischt werden kann.
Nach nur knappen zwei Stunden Fahrt erwacht ein latenter Bierdurst innerhalb der Reisegruppe und schon hat diese im Frecciabianca folgende kniffelige Aufgabe zu lösen:
Wenn wir um 10.00 Uhr das Bier öffnen und fahrplanmäßig um 10.50 Uhr in Torino ankommen und wir in dieser Zeit je 0,66 Liter Bier zu uns nehmen müssen, in welchen Zeitabständen müsste man einen Shot trinken, um innerhalb von 50 Minuten die Gesamtmenge Bier zu tilgen? Die im Zug errechnete Antwort: Alle drei Minuten und zwölf Sekunden, so man von einem Shot mit 4 cl ausgeht. Vielleicht hätte mir Mathe damals auf diese Weise auch schon Spaß bereitet.
Und während ihr noch so nachrechnet, ob das auch nur ansatzweise stimmen kann, sitzen wir bereits im Linienbus zum Delle Alpi. Genaugenommen stehen wir im Linienbus, der ziemlich voll ist und genaugenommen geht es auch nicht zum Delle Alpi, sondern zum Nuovo Delle Alpi, welches offiziell unter dem schmuckvollen Namen Juventus Stadium firmiert. Im Bus werden wir recht bald von einem Italiener in ein Gespräch verwickelt, der aktuell im Rahmen eines Auslandssemesters in Reutlingen (!) studiert und zunächst vorgibt, einer der größten Juve-Tifosi weltweit zu sein, dann aber relativ schnell klein bei gibt, als er feststellt, dass wir in den vergangenen zwei Spielzeiten aus Deutschland kommend wesentlich mehr Spiele der alten Dame live im Stadion gesehen haben als er – und das, obwohl er lange Zeit in Italien gelebt hatte. Er verspricht uns, dass die „Stimmung heute eine Bombe“ werden wird und seine Vorfreude auf das Spiel ist nahezu mit Händen zu greifen.
Auch wir sind guter Hoffnung, heute ein besonderes Spiel erleben zu dürfen. Bereits vor Wochen kämpfte ein Software-Spezialist in einem Berliner Büro einen ganzen Vormittag lang mit der F5 Taste gegen die italienische Listicket-Plattform. Mit dem Ergebnis, am Ende des Tages zwei Tickets in zwei verschiedenen Blöcken auf zwei verschiedenen Tribünen zu stattlichen Preisen käuflich erworben zu haben. Ich lege schmale 75 Taler auf den Tisch, der Juventino gar 85. Egal. Das Stadion ist restlos ausverkauft. Ganz Torino scheint diesem Spiel entgegenzufiebern. Juventus ist seit dem vergangenen Spieltag offiziell italienischer Meister und so hoffen wir, dass das Heimpublikum seine Helden 90 Minuten lang frenetisch bejubelt und am Ende des Tages der Scudetto emporgereckt wird, inklusive KonFETTIkanonen und „We are the Champions!“ vom Band.
Nun entlassen wir aber erst einmal unseren Reutlinger Freund aus dem Gespräch und umkreisen die Arena auf der Suche nach dem Kassenhäuschen, an dem wir unsere Tickets entgegennehmen können. Das Juventus Stadium sieht von Außen so aus, wie ein modernes Stadion eben so aussieht, lediglich das wunderbare Alpenpanorama überzeugt. Ein Vorteil des Neubaus ist der Standort – die Arena wurde nicht irgendwo an einer Autobahn errichtet, sondern exakt an der selben Stelle des alten Stadions. Noch mehr Pluspunkte gibt es dann für die erfolgreiche Kartenübergabe. Ich sitze in Reihe 13, Platz 12 und bin in Gedanken plötzlich bei Freunden in Kreuzberg. Nächstes Jahr bin ich dann wieder mit von der Partie, Leute!
Mein Bruder und ich verabschieden uns an einem Imbissstand voneinander, den wir gleichzeitig zu unserem späteren Treffpunkt deklarieren. Ich passiere eine erste Sicherheitsschleuse, wofür das Zeigen der Eintrittskarte ausreicht. Kurz darauf folgt Kontrolle Nummer zwei: Ich habe noch immer das richtige Ticket, doch obendrein erfolgt ein oberflächliches Abtasten. Auch dieses bestehe ich erfolgreich und erreiche nun Level Drei: Oha, der Endgegner. Dieser will das Ticket sehen, mich abtasten UND in meinen Rucksack schauen. Es kommt, wie es kommen muss und Mario Montanari hat etwas zu monieren. Mit meiner bedrohlichen wurstgefüllten Tupperdose schickt er mich mit einem müden Lächeln zurück zu Sicherheitsschleuse Uno.
Hier deponiere ich die Dose mittenmang hunderter Trinkflaschen, anderer Verpflegungspakete und unzähliger Regenschirme auf offener Straße, reihe mich erneut in die Schlangen ein und lasse die dreimalige Prozedur abermals über mich ergehen. Dieses Mal erfolgreich, sodass ich wenige Minuten vor Anpfiff Platz im Stadion nehmen kann – gerade noch rechtzeitig zur großartigen und von 40.000 Menschen emotional mitgeschmetterten Juve-Hymne („Storia di un grande Amore!“)!
Das Juventus Stadium sieht von Innen so aus, wie eine moderne Arena eben so aussieht. Zwei Sitzplätze bleiben neben mir frei und so informiere ich meinen Bruder gegenüber per SMS, ob er nicht die Seite wechseln und sich dem Endgegner stellen mag. Er verzichtet jedoch dankend, nicht ohne über Listicket zu schimpfen, die mit ihrer katastrophalen Plattform abermals dafür gesorgt haben, dass das Stadion eben NICHT ausverkauft ist. Mehrere Plätze auf den Tribünen bleiben verwaist, ins Besondere im Oberrang hinter dem Tor und nahe des VIP-Bereiches klaffen deutliche Lücken. Ansehnlich gefüllt ist hingegen der Gästeblock des Carpi FC. Schön wäre es, wenn diesem italienischen Fußballmärchen (Dorfclub steigt von der 4. bis in die 1. Liga auf und nimmt einige Spieler den gesamten Weg über mit) mit dem Klassenerhalt ein letztes gelungenes Kapitel hinzugefügt werden könnte…
Das Spiel ist recht schnell zusammengefasst: Es spielt der bereits feststehende Meister gegen einen Verein, der um das Überleben in der Serie A kämpft. Die Hausherren bieten (auf dem Platz und auf den Rängen) nicht ihre allererste Garde auf und tun nur das Nötigste, während sich Carpi (auf dem Platz und auf den Rängen) mit Händen und Füßen wehrt, sich selbst einige Chancen erspielt und so zurecht lange Zeit Hoffnung auf einen Punkt haben darf. Nachdem Juve durch Hernanes in der 42. Minute per Fernschuss das 1:0 gelingt, rufen sie jedoch nach und nach ihre Qualität ab, spielen mit großer Leichtigkeit und das eine oder andere technische Schmankerl wird dem Publikum feilgeboten. Zunächst bereitet es große Freude, diesem Zirkus zuzusehen, aber mit der Zeit lässt die Begeisterung nach. Juve wirkt müde, das Publikum satt, die Stimmung im weiten Rund bewegt sich nunmehr auf dem Niveau eines Freundschaftsspiels. Einen Schreckmoment gibt es, als Pogba ohne Einwirkung des Gegenspielers plötzlich auf dem Feld zusammensackt. Der Sportmediziner in mir konstatiert: entweder ist nichts passiert – oder Kreuzbandriss. Auch ganz Frankreich hält kurz vor der EM den Atem an und glücklicherweise steht der Topstar nach wenigen Augenblicken wieder auf den Beinen. Als dann in der 60. Minute nach minutenlanger Stille „La Ola“ durch die Arena schwappt, beginnt mein Herz deutlicher für den Underdog zu schlagen. Nach 75 Minuten hätte sich Carpi den Ausgleich verdient gehabt, doch im Stile einer absoluten Spitzenmannschaft verwertet Zaza per Kopf einen wie am Reißbrett entworfenen Konter zum 2:0. Jetzt bringt nur noch der Schiedsrichter etwas Farbe ins Spiel, indem er ab der 85. Minute plötzlich wie wild mit gelben Karten um sich wirft. Da musste wohl noch irgendeine Quote erfüllt werden.
Das Spiel wird abgepfiffen, das Stadion leert sich. Nichts mit Konfettikanonen, nichts mit Scudetto-Übergabe.
Etwas enttäuscht schleiche ich aus dem Stadion und finde an der ersten Einlassschleuse zu meiner Überraschung meine Tupperdose samt Inhalt wieder. Ein Lächeln kehrt auf mein Gesicht zurück – endlich deutsche Wurst, endlich Piemontkirschen für Fetti! Weiter geht’s zum Imbissstand, an dem mein Bruder, ebenfalls etwas enttäuscht ob der Darbietungen im Stadion, bereits auf mich wartet. Bei ein-zwei Bierchen und Salsiccia-Snack ist das Spiel schnell ausgewertet.
Am Bahnhof Torino Porta Susa steht bereits unser Bus nach Milano-Malpensa zur Abfahrt bereit. Der Busfahrer ist nicht fingerfertig genug, um unsere Fahrkarten an der gestrichelten Kante per Abriss zu entwerten. Nachdem er erfahren hat, dass wir aus Berlin kommen, stellt er Querverbindungen zu Osteuropa her und stammelt wirres Zeug auf russisch und erzählt etwas über Warszawa. Freunde, wenn ihr mich fragt: Der ist betrunken. Aber das hier heute Abend eben leider auch unsere einzige Möglichkeit, noch zum Flughafen zu gelangen. Glücklicherweise liegt mein Testament bereits vollständig ausgefüllt im Safe meines rumänischen Kassenwarts.
Im Bus verschaffe ich mir zunächst einen Überblick. Es gibt keine Toilette und wir haben knappe zwei Stunden Busfahrt vor der Brust. Psychoterror. Kalter Schweiß. Zitterige Hände. Ich fange an, an den Nägeln zu knabbern. Und es kommt, wie es kommen muss: Nur 25 Minuten nach Abfahrt drücken die zwei Bier dermaßen auf die Blase, dass ich ausschließlich an Flushing Meadows denken kann. Wenigstens ist der gesamte hintere Teil des Busses menschenleer und ich male mir bereits aus, wie es mir gelingen kann, meine Notdurft zu entrichten, ohne dass der betrunkene Fahrer es merkt – als dieser plötzlich auf der Autobahn in zweiter Spur hält und wortlos den Bus verlässt. Aus dem Fenster sehe ich ihn noch mit einer Rolle Toilettenpapier in einer Unterführung verschwinden und jubiliere. Jawohl, wir Sprittis halten eben zusammen! Ich eile aus dem Bus, nutze den außerplanmäßigen Stopp ebenfalls und kehre hochgradig erleichtert auf meinen Platz zurück. Die restlichen 1h35min gehen leicht von der Hand…
… der Fußweg vom Flughafen in unser Flughafenhotel dann eher nicht so. Zwischenzeitlich sind wir uns nicht mehr in Gänze sicher, ob wir uns noch auf Wegen befinden, die man betreten darf, oder ob wir Gefahr laufen, von der italienischen Luftwaffe mit Risotto attackiert zu werden. Irgendwann kurz vor Mitternacht erreichen wir unsere Billigabsteige, die dann aber mit einem Concierge aufwartet, der offenbar in einem früheren Leben in einem fünf-Sterne-Ressort arbeitete und uns nun auf Wunsch Tramezzini zubereitet und uns für den kommenden Morgen einen Shuttle zum Flughafen organisiert, telefonischer Weckservice inklusive. Da kann man nicht meckern.
Wir genießen unser Toastbrot im Schein einer Lampenattrappe. Die Nacht ist kurz, aber erholsam. Die Taxifahrt am nächsten Morgen ebenfalls, da uns unser Fahrer wortlos in der Lobby empfängt, unser Gepäck wortlos in seinem Auto verstaut, uns wortlos 10 Minuten zum Flughafen fährt und uns dort wortlos aus seinem Auto entlässt. Über seinem Gehirnbehälter schwebt eine Sprechblase: Am Montag um 4.30 Uhr zum Flughafen? Muss das denn sein, ihr Assis?
Ja, muss sein. Irgendwann muss FUDU schließlich auch mal Geld verdienen. Beispielsweise am 02.05.2016. Tag der Arbeit eben. /hvg
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