Posted on Februar 18, 2017
18.02.2017 FC Mulhouse – FC Montceau Bourgogne 1:1 (1:1) / Stade de l’Ill / 400 Zs.
Als wäre die Vorfreude, Deutschland zu verlassen, nicht ohnehin bereits groß genug gewesen, tun meine Landsleute in der Warteschlange am Flughafen Schönefeld ihr übriges. Erneut wird mir bewusst, dass das Hauptproblem Berlins die Nähe zu Sachsen ist. Zum wiederholten Male gehen mir jedenfalls sächsische Casuals, die in Ermangelung eines echten Flughafens in Dresden, Leipzig oder Pirna-Copitz in Berlin abfliegen, gehörig mit ihrem Gequatsche auf die Nerven. Zu „Attaloenda“ nach „Bergamoe“ soll sie heute ihre Reise führen und noch bevor ich echten Hass auf diese ostdeutsch karierte Reisegruppe entwickeln kann, hat mir eine alle 30 Sekunden auf die Uhr glotzende Dränglerin von hinten bereits zum dritten Mal ihren Rollkoffer in die Fersen manövriert. Der Rollkoffer an sich ist überhaupt die furchtbarste Erfindung der letzten Jahrzehnte. Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Menschen ihre zwei Kilogramm Gepäck hinter sich herziehen und damit Gänge auf Flughäfen oder Bahnhöfen verstopfen. Ich verkrampfe innerlich, wenn ich beobachte, wie Menschen ihre zwei Kilogramm schweren Köfferchen mit einem Finger Treppen hinauftragen, dann aber direkt hinter der letzten Treppenstufe stehen bleiben, um das Gefährt neu justieren und wieder ziehen zu können und so rücksichtslos Stauungen verursachen. Ich hasse das Geräusch, das ein über Friedrichshainer Kopfsteinpflaster gezogener Rollkoffer verursacht. Ich stelle mir vor, wie ich nach dem Tod des Erfinders dieses gottverdammten Gepäckstücks mit dessen Sarg auf Rollen die ganze Nacht um sein Elternhaus herumlaufe. Ratter, ratter, ratter. Nehmt das, ihr Hunde…
… Aber dann reißt mich auch schon eine Ansage der sympathischen Flugbegleiterinnen aus allen misanthropischen Träumereien. Die easyjet-Maschine ist soeben pünktlich um 8.20 Uhr am EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg gelandet. Nun möchte man meinen, dass man von diesem Flughafen problemlos die Städte Basel, Mulhouse und Freiburg erreichen sollte, doch schnell stellt sich heraus, dass Namen mitunter auch nur Schall und Rauch sind. Während es nämlich direkte Busverbindungen nach Basel und Freiburg gibt, empfiehlt die Airport-Website die Anreise nach Mulhouse via St. Louis anzutreten. Keine 45 Minuten später rollt dann auch schon ein Bus mit eben diesem Reiseziel an der Haltestelle ein. Der Umstand, dass der Fahrkartenautomat defekt ist und man die Reise daher ohne gültiges Ticket bestreiten können wird, tröstet ein wenig über den eher schlechten Anschluss hinweg.
15 Minuten später hält der Bus gegenüber des Bahnhofs von St. Louis inmitten einer immensen Baustelle. Fetti wirft einen kurzen Blick auf die Pläne und kann das Bauprojekt kurz darauf nur gut heißen. Zwischen dem nördlichen Terminal des EuroAirports und dem Bahnhof von St. Louis entsteht eine sieben Kilometer lange Straßenbahnverbindung, die künftig den Transfer erleichtern soll („Oh yes, very soon!“).
Selbstverständlich scheitere ich kurz darauf am Automaten der SCNF. Wie bereits in Nice und St. Étienne im Sommer 2015 kann dieser mit meiner Kreditkarte nichts anfangen und verweigert mir den Ausdruck meiner online erworbenen und bereits bezahlten Billets. Mit meinem Oxford-Französisch gelingt es, dem freundlichen Verkäufer am Fahrkartenschalter meine missliche Lage zu erklären. Die 2015er Abläufe sitzen derart sicher, dass ich nur kurz darauf meine Fahrkarte in den Händen halte. Darüber hinaus erwerbe ich auch die neuerliche Gewissheit, dass ich mich lieber mit Menschen als mit Maschinen auseinandersetze. Lange hält diese Gewissheit jedoch nicht an, da nur kurz darauf eine deutsche Rentnergruppe in den Verkaufsraum eindringt und den freundlichen Fahrkartenverkäufer in einer für ihn unverständlichen Sprache anspricht. Gerade überlege ich, ob ich dolmetschend zur Hilfe eilen soll, als einer der Senioren laut kund tut: „Das gibt es doch gar nicht, die müssen hier doch Deutsch sprechen!“. Nee, müssense nich, denke ich mir und verlasse schweigend die Szenerie.
Im Anschluss wartet der infrastrukturelle Endgegner auf Fetti. Denn noch gilt es, 35 weitere Kilometer bis zum Gare Centrale in Mulhouse zurückzulegen. Läppische 14 Minuten werden für diese Zugfahrt veranschlagt. Da stößt es besonders bitter auf, dass der nächste Zug, der diese Todesetappe zurücklegen wird, den Bahnhof in genau einer Stunde und zwanzig Minuten verlassen wird. Fassen wir das Desaster noch einmal kurz zusammen, bevor wir mit dem unverhofften Vorort-Sightseeing beginnen und in St. Louis den Blues kriegen können: Für 41 Kilometer vom Flughafen Mulhouse bis nach Mulhouse benötigt man also zwei Stunden und vierunddreißig Minuten. Chapeau!
Nur kurz darauf ist klar, dass St. Louis nicht sonderlich viel zu bieten hat und Fetti bricht das Besichtigungsprogramm auf der Avenue de la Marine ab, nachdem das Rathaus der Stadt optisch durchgefallen ist und auch das Gefallenendenkmal im „Square de Souvenir“ eher weniger interessant ist, als die Aussicht auf ein Bier im Bahnhofsbistro.
Kurz nachdem dieses in einem Zug geleert ist, fallen mir auch bereits der Hoollege und Nadjuschka in Mulhouse in die Arme und überreichen mir eine Stadionpostkarte aus Sochaux. Dann ist aber auch schon Schluss mit den Zärtlichkeiten unter Freunden. Es beginnt der reine Überlebenskampf, die FUDU-Mastschweine haben Hunger! In Ermangelung geöffneter französischer Restaurants mit bezahlbaren Speisen fällt die Wahl auf eine chinesische Lokalität, welche noch genau 25 Minuten lang geöffnet haben wird und uns den Zugriff auf das Buffet ermöglicht.
Wenn ich für irgendetwas bekannt bin, dann ja dafür, dass ich unheimlich schnell essen und trinken kann. Die martialische Schlacht an den nur noch rudimentär gefüllten Warmhalteplatten beginnt. Idis Amin, heute im feinen Camouflage-Samstagsausgehanzug unterwegs, schnappt mir die letzte gebackene Banane unter den Fingern weg. Zugunsten des Friedens in Zentralafrika verzichte ich auf einen Disput und schicke im Geiste Grüße an Uganda-Schorsch, der in der Zwischenzeit sicherlich Amins bodenständig gewählten Herrschaftstitel „Lord of All the Beasts of the Earth and Fishes of the Seas and Conqueror of the British Empire in Africa in General and Uganda in Particular“ übernommen haben dürfte.
Ich schweife ab. Teller und Bierglas sind dermaßen gefüllt, dass wir mit den bereits abräumenden und Geld kassierenden Gastgebern 25 Minuten zusätzliche Zeit für die Lebensmittelaufnahme heraushandeln müssen. Anschließend schleppen wir uns, ebenfalls über alle Maße gefüllt, zu unserer Herberge. Schnell haben wir die „Urban Lodge“ gefunden und mit dem liebevollen Kosenamen „Widzew Lodz“ versehen (jaja, Łódź spricht man nicht aus wie Lodge, wissen wa, wissen wa…). Die sterilen Gänge der Unterkunft lassen vermuten, dass es sich um ein ehemaliges Krankenhausgebäude handelt und auch in unserem kleinen, etwas schmutzigen und dunklen Zimmer mit einer eingeschlagenen Zwischentür fühlen sich Fetti und seine Freunde recht schnell sauwohl. Hier müssen wir für die Verwüstung wenigstens nicht auch noch selbst sorgen.
Auf dem Weg zum Stade l’Ill („die Arena mit den vier Strichen“) haben wir ausreichend Gelegenheit, die elsässische Stadt zu erkunden. Das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert ist ein erster Blickfang und wird heute durch eine fröhlich singende und tanzende Hochzeitsgesellschaft zusätzlich aufgewertet. An der Seitenwand des Rathauses befindet sich als besonderes Schmankerl ein „Klapperstein“, der einst „Klatschmäulern und Verleumdern umgehängt wurde, wenn man sie an Markttagen durch die Straßen trieb“, wie das Portal „Reisetipps Elsass“ aus Dessau-Roßlau zu berichten weiß. Das Schlendern durch die nicht all zu vollen Gassen der Stadt ist sehr angenehm, wobei einem die über alles thronende Kirchturmspitze des Temple Saint-Étienne jederzeit sicher auf den richtigen Pfad zurückführt. Etwas weniger spektakulär ist dann das letzte erhaltene Teilstück der mittelalterlichen Stadtmauer und der „Tour de l’Europe“, seines Zeichens höchster Wolkenkratzer des Elsasses mit geschlossener Dachterrasse im 29. Stock. Abschließend werfen wir einen Blick auf den Teufelsturm, der als Überrest der Stadtbefestigung erhalten geblieben ist.
Die für FUDU schönste Sehenswürdigkeit tut sich dann unweit des Flüsschens Ill in Form des Stadions auf. Offiziell finden 11.303 Menschen Platz in der herrlich nostalgischen Anlage, die mit zwei großen Ausbauten auf den Längsseiten besticht. Die große Haupttribüne wirkt mit ihren roten und gelben Sitzschalen im Vergleich zu der Gegengeraden regelrecht modern. Auf der zweigeschossigen Gegentribüne finden sich im Unterrang wunderbare Stehplätze wieder, während im Oberrang durchgängige Plastikbänke zum sitzenden Verweilen einladen. Der Rest des Stadions besteht aus weitläufigen Kurvenbereichen, in denen man ebenfalls offiziell stehen könnte.
In wenigen Minuten wird hier und heute der Abstiegskrimi zwischen dem FC Mulhouse und dem FC Montceau Bourgogne in der Ligue National 2, Groupe C (vierthöchste Spielklasse) angepfiffen werden. Der Tabellenvorletzte der 16er-Liga empfängt den 13., wobei der Tabellenletzte aus Evian offenbar zurückgezogen hat und bereits als erster der drei Absteiger feststeht. Als Gewinnerin steht inzwischen Nadjuschka fest, die dank ihres biologischen Geschlechts freien Eintritt erhält. Die zahlenden Männer werden in ihrer Rage ob dieser Ungerechtigkeit gezügelt, indem kurz hinter dem Einlass wunderschöne Aufnäher verschenkt werden, die offenbar auf die „Mission Klassenerhalt“ einschwören sollen.
Vor handgezählten 166 Zuschauern gibt der Schiedsrichter die Partie frei. Mehr als 200 Dauerkartenbesitzer müssen heute also spontan zu Hause geblieben sein, schenkt man der offiziellen Zuschauerzahl von 400, die in der Tagespresse veröffentlicht werden wird, Glauben. Die überdimensionale alte LED-Anzeigetafel ist leider nicht mehr im Betrieb und bietet in einer neuen Funktion einer Fast-Food-Kette nun eine große Werbefläche.
Das Spiel ist in der ersten Halbzeit recht lebhaft und besonders die Heimmannschaft wirkt überzeugt, heute einen Sieg landen zu können. Mit einigen schönen Offensivaktionen lassen sie schnell aufhorchen. Auch die beiden Trainer wirken überaus engagiert. So beschwert sich der Übungsleiter der Hausherren über die Qualität des Spielballs, während der Gästecoach nach der x-ten Diskussion mit dem Schiedsrichter nach nicht einmal 30 Minuten auf die Tribüne verwiesen wird. Kurz darauf scheppert ein Akteur des FCM den Ball an die Unterkante der Latte und die oft geführte Diskussion, ob der Ball jetzt nun hinter, auf oder vor der Torlinie aufschlug, macht auch im Stade de l’Ill die Runde. Sie ist jedoch Makulatur, da der Schiedsrichter ganz klar sehen oder zumindest mit vollem Umfang erahnen konnte, dass der Ball NICHT im Tor war und eben selbiges entscheidet.
Das Gemurmel auf den Rängen ist noch nicht vollends verebbt, als F. Essomba die Geräuschkulisse modifiziert. Mit einem herrlichen Fallrückzieher (→ un ciseau retourné) sorgt er in der 36. Minute dafür, dass die vorherige Szene in Vergessenheit gerät und ein leichter Jubelsturm durch das weite Rund weht. Dieser flaut dann jedoch nur wenige Minuten später leider zu schnell wieder ab, da D. Diarra mit einer sehenswerten Einzelaktion den Außenverteidiger Mühlhausens alt aussehen lässt, nach innen zieht und mit einem sehenswerten Schlenzer in der Nachspielzeit der ersten Hälfte den Ausgleich erzielen kann.
Die zweite Halbzeit kann die hohen Erwartungen FUDUs leider nicht erfüllen. Während das Spiel im ersten Abschnitt besonders dank der überragenden Tore sein Eintrittsgeld (unseres, nicht ihres) wert war, gibt es nun rein gar nichts mehr zu sehen und folgerichtig auch nichts zu berichten. Wir wechseln von der Haupttribüne auf die Gegengerade und können somit wenigstens eine neue Perspektive auf den Ground erschließen. Einzig ein kleiner Balljunge mit roter Wollmütze, auf der die Buchstabenreihung „ERN“ für uns ersichtlich wird, zieht bei weiter sinkender Spielqualität unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der hat doch nicht etwa eine Union-Mütze auf? Klar, da steht doch Eisern drauf. Muss ja. Ich wüsste jetzt auch keinen anderen Verein, der auf „ERN“ endet, ist sich FUDU seiner Sache sicher und kann den Moment, in dem sich der kleine Junge umdreht, kaum erwarten. Irgendwann wird ein Ball so vom Rasen geschossen, dass der Balljunge tätig werden muss. Er steht auf, dreht sich und… FC BAYERN. So fühlt es sich dann an, wenn ein Höhenflug jäh beendet wird. Und während wir noch ein wenig warten müssen, bis Union (irgendwann, irgendwann einmal) international spielen wird, pfeift der Herr Schiedsrichter das Viertligagebolze beim Stand von 1:1 ab.
Den Abend lassen wir dann in der Widzew Lodz vor dem Fernseher ausklingen. Beim Zappen glauben wir unseren Augen kaum zu trauen, als wir Union-Kapitän Felix auf einer Couch sitzen sehen. Neben ihm sitzt offenbar sein Bruder, was die optische Ähnlichkeit vermuten lässt. Ob der wohl auch so gut Fußball spielt? Kai Pflaume führt währenddessen gewohnt schleimig grinsend durch den Abend seines Formats, welches getrost auch „Wetten, dass…?!? (Version 2.0)“ hätte heißen können, offiziell aber unter dem Namen „Klein gegen Kroos“ firmiert. Wir haben nichts besseres zu tun und schauen bei feinem französischen Dosenbier irgendwelchen sozialkompetenzfernen inselbegabten Eigenbrödlerkindern beim Kopfrechnen zu. Mein Gott, die werden aus ihrem Leben doch eh nichts machen. Irgendwann schlägt die Uhr die elfte Stunde und das zdf-Sportstudio erlöst uns von den Qualen deutscher Samstagabendunterhaltung.
Kurz darauf entlässt uns Carlo Ancelotti mit erhobenem Mittelfinger in die Nacht. Morgen früh werden wir unsere Reise mit dem Flixbus via Strasbourg nach Karlsruhe fortsetzen. Und so bleibt gerade noch genügend Zeit für einen letzten Gruß an Mulhouse, Metropole des Départements Haut-Rhin: Haut rein! /hvg
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