Posted on Juni 18, 2017
18.06.2017 Sportfreunde Charlottenburg-Wilmersdorf – SV Berliner VB 49 11:1 (6:0) / Stadion Wilmersdorf, Nebenplatz 1 / 23 Zs.
26° in Berlin. Sonne satt und Langeweile pur. Glücklicherweise gibt es den Berliner Fußballverband, der bis Ende Juni an den Wochenenden für Entertainment sorgt. Ich entscheide mich heute aus der Vielzahl an Möglichkeiten für einen Besuch der Bezirksliga, Staffel 1. Im Stadion Wilmersdorf, das ich schon lange für einen Besuch auf der Liste habe, empfängt heute der starke Aufsteiger namens Sportfreunde Charlottenburg-Wilmersdorf den SV Berliner VB aus Lichtenberg. Gleich zwei Mal schaffte es in dieser Saison niemand geringeres als Christian Stuff in das Aufgebot der Gäste, darunter ein Einsatz in der vergangenen Woche gegen den 1.FC Lübars, bei dem „Stuffi“ sogleich als Torschütze des „Game Winning Goal“ erfolgreich in die Statistik einging.
Als ich am U-Bahnhof Heidelberger Platz aussteige, wird mir zunächst einmal bewusst, dass mir die Gegend viel vertrauter ist, als ich das bei Abreise im Friedrichshain erwartet hatte. Erst neulich war ich in unmittelbarer Nähe zu Gast im „BlackBoxx“-Theater, um FilmstudentInnen bei der Aufführung ihrer „Fluchtgedanken“ zu erleben. Und je näher ich dem Stadion komme, desto bekannter erscheint mir der Kiez, ehe ich feststelle, dass ich genau hier vor circa zehn Jahren auf meinen Sommerjob eingeschworen worden bin. Kinder, wie doch die Zeit vergeht. Minuspunkte gibt es für die gutbürgerliche Spießergegend aufgrund der mangelhaften Spätidichte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man in Berlin irgendwo verdursten kann und werde nun bedauerlicherweise eines besseren belehrt.
Kurz nachdem ich mich zunächst an der Botschaft Gabuns und dann an Westberliner Industrieromantik vorbeigekämpft und den Wilmersdorfer Sportkomplex mit Freibad und Eisstadion passiert habe, kann ich einen ersten Blick in das Stadion werfen. Ein Gedenkstein weist auf ein Viertelfinalspiel zwischen dem BSV 1892 Berlin und dem VfB Leipzig hin, welches hier am 10.05.1903 ausgetragen wurde. Die einstigen Ausmaße des Stadions kann man aufgrund der weitläufigen und mittlerweile renaturierten Tribünen (bis auf einen kleinen Ausbau auf der Geraden und der zweckmäßigen Haupttribüne) noch sehr gut erahnen und vor seinem geistigen Auge sieht man plötzlich mindestens 20.000 Herren mit Hüten dem Volkssport frönen. Da fällt dem geneigten RB-Leipzig-Fan doch glatt die Dose aus der Hand. Ja ja, so lange gibt es Fußball schon…
Heute werden bei Blick auf die Spielfläche jedoch Fußballtore schmerzlich vermisst. Stattdessen finden sich Yardlinien und Field-Goal-Gestänge auf dem satten Grün wieder und obwohl das an sich zuverlässige Fußballportal fussball.de als Austragungsort den Rasenplatz im Stadion nennt, dürfen bereits jetzt leise Zweifel angemeldet werden, ob das so stimmen kann. Nach Begutachtung des Kurvenbereichs steigt meine Laune jedoch gleich wieder ein bisschen, da in diesem Wein angebaut wird. Chapeau, kann man so machen! Und immerhin habe ich es in diesem Leben überhaupt geschafft, das Stadion zu besichtigen, wenn auch ohne Spiel. Es ist schließlich Makel genug, dass es mir misslungen ist, das Lichtenberger „BVB-Stadion“ der heutigen Gäste zu besuchen, bevor die alte Haupttribüne aus Gründen der Baufälligkeit abgerissen werden musste. Da wohnt man 10 Jahre lang in gerade einmal 5 Kilometern Entfernung und am Ende ist die Abrissbirne schneller als man selbst. Prokrastination, du bist ein Teufel!
Rege Betriebsamkeit herrscht dagegen bereits jetzt auf dem Nebenplatz, auf welchem gerade die zweite Mannschaft der Sportfreunde ihre Gegner in Grund und Boden schießt. Ein kurzer Smalltalk mit dem Mannschaftsbetreuer bestätigt dann die dunkle Vorahnung. Auch das Spiel der ersten Mannschaft wird hier im Kunstrasenkäfig stattfinden. „Football geht vor!“, so seine Aussage, die ich ungefiltert so an den Football spielenden „Schwaben“ weiterleite. Hat wenigstens einer Grund zur Freude.
Das Lichtenberger Team kommt mir derweil mit den Sporttaschen über den Schultern entgegen. Ich mustere die Spieler. Alle nicht sonderlich groß. Kein Christian Stuff dabei. Fassen wir also zusammen: es gab zwei Gründe für den Besuch dieses Spiels und beide Gründe haben sich bereits zu unerfüllten Sehnsüchten verwandelt. Gerade stelle ich etwas enttäuscht erste Planspiele an, den Rückweg anzutreten, da fällt mein Blick auf die direkt neben der Spielstätte gelegene Gaststätte „Poseidon“, von dessen Terrasse aus man sogar auf das Fußballfeld schauen kann. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen – die 26° und meine Langeweile bleiben ja trotzdem bestehen. Geistesgegenwärtig bestelle ich mir ein zünftiges Bier und eine Riesen-Currywurst mit Pommes und schon ist mein einfaches Gemüt wieder in Einklang mit dem Universum (oder eher dem Bier-Wurst-Mikrokosmos) gebracht.
Kurz vor Anpfiff verlasse ich das Lokal, welches sich freundlicherweise auf die Fußball guckende Kundschaft eingestellt hat, mit einem Bier im Plastikbecher. Nun hat der Platzwart in Diensten des Sportamtes seinen großen Auftritt, indem er allen ankommenden Zuschauern den Einlass zum Kunstrasen verwehrt und den bereits auf dem Platz befindlichen Spielern lautstark zu verstehen gibt, dass sie selbigen gefälligst zu verlassen hätten. Etwas genervt stehen kurz darauf circa 50 Menschen vor dem Einlasstor des Sportplatzes, welches vom vorsichtigen Greenkeeper nun nicht nur persönlich bewacht, sondern auch noch verschlossen wird. Sicher ist sicher.
Nachdem die Bewässerungsanlage ihren Dienst geleistet hat, kann das Spektakel mit zwölf Minuten Verzögerung beginnen und die 23 Zuschauer und Spieler fluten die Sportstätte. Ich lasse mich auf einer Parkbank in der knallenden Sonne nieder und erhalte nur wenige Augenblicke später Gesellschaft einer recht attraktiven Spielerfrau, was ich genauso lange gutheißen kann, bis ihre Freundin dazu kommt und die beiden beginnen, sich zu unterhalten. Mode, Schminke, Frisuren, Nagellack. Angesichts dieser fleischgewordenen Frauenzeitschrift kann ich mich von dieser Position nicht einmal mehr richtig über den schönen weißen Derbystar-Ball freuen, mit dem hier heute gekickt wird und entscheide mich glücklicherweise schnell entgegen aller sozialen Zwänge für einen Platzwechsel. An der Eckfahne habe ich dann meine Ruhe gefunden, kann mich meines T-Shirts entledigen und Bier trinkend den Breitensportlern beim Schwitzen zuschauen.
Stenografie der Belanglosigkeit:
– 1:0 nach einer blitzsauberen Kombination (8′)
– Die Sportfreunde scheitern mit einem Lupfer an der Querlatte (14′)
– Anflug von Egoismus bei Passana Jabang, Spitzname „Helmut“: Anstatt den Querpass in den Strafraum zu spielen, scheitert der BVB-Akteur aus viel zu spitzem Winkel kläglich (16′)
– 2:0 nach einem mustergültigen Angriff über die Flügel (18′)
– Mein Handy rutscht durch die Bank und fällt krachend zu Boden. Beim Aufheben greife ich beherzt in einen Brennnesselstrauch. Doppeltes Pech? Oder habe ich bereits das Zeug zu einem echten Idioten?
– 3:0 dank eines guten Angriffs über die rechte Seite, Pass in den Rückraum, perfekter Abschluss, so macht man das, wenn man technisch überlegen ist und eine hohe Passgenauigkeit bereits ausreicht, dem Gegner die Grenzen aufzuzeigen (25′)
– Der Schiedsrichter unterbricht das Spiel und bittet zur Trinkpause
– 4:0 durch einen schönen Heber (29′)
– 5:0 nach einer Freistoß-Segelflanke aus dem Halbfeld jubelt Nils Pötting über seinen Hattrick (39′)
– 6:0 Entstehung war keine Notiz wert (42′)
– 7:0 per technisch astrein ausgeführtem Volleyschuss nach einer langen Ecke an die Strafraumkante durch Kon-Ho Lee (48′)
– 8:0 mit dem Hinterkopf erzielt. Jetzt klappt alles (65′)
– 8:1 durch Hendrik Hüsch. Der Torwart der Sportfreunde scheint ein ehrgeiziger Kerl zu sein. Vehement beschwert er sich beim Schiedsrichter über eine vermeintliche Abseitsposition. Doch alles Diskutieren hilft nicht – das Ding zählt! (76′)
– Nach dem Anschlusstor verlasse ich gut durchgebraten den Sportplatz. Ich verpasse noch drei Tore der Gastgeber, die die Saison als Aufsteiger auf Rang 4 beenden werden und in der kommenden Saison sicherlich ein Wörtchen um den Aufstieg mitsprechen werden.
Am S-Bahnhof Heidelberger Platz entdecke ich eine Dönerbude, die laut Aushang Berliner Pilsner für 1,50 € verkauft. Da die Ringbahn aktuell ihren Dienst quittiert hat und ich mit einer gewissen Wartezeit zu rechnen habe, führt kein Weg an einem Einkauf vorbei, auch wenn das Bier drinnen plötzlich 1,70 € kosten soll. Die Begründung hierfür überzeugt vollends: „Damit ich mir irgendwann neue Preisschilder leisten kann!“. Und so geht mein Urlaubstag in Westberlin mit einer kleinen humanitären Geste zu Ende. /hvg
Neueste Kommentare