Posted on Juli 2, 2017
02.07.2017 Breesener SV Guben Nord – 1.FC Union Berlin 0:7 (0:2) / Sportanlage an der Baumschule / 1.500 Zs.
Es läuft die Saisonvorbereitung. Die Profis aller Bundesligaclubs schaffen die Grundlagen für eine kräftezehrende Saison. Wald-, Treppen- und Steigerungsläufe bestimmen das Bild der ersten Wochen, um sich einen Konditionsvorrat zu schaffen, auf den man irgendwann im Spätherbst zurückgreifen können wird. Und auch die Fans werden in diesem Jahr früh in die Pflicht genommen und an die Grenzen des Erträglichen getrieben.
Um 4.44 Uhr hilft mir eine polnische Schmerztablette der Marke „APAP“ einen Strich unter den Sachsen-Anhalt-Samstag zu ziehen. Als nur wenige Stunden später der Wecker schellt, bin ich kurz irritiert. Arbeiten muss ich heute gar nicht und Fußball war doch schon. Ach ja. Der BSV Guben Nord bittet zum Tanz. Zwei Auswärtsfahrten innerhalb von zwei Tagen. Das ist nichts für Amateure. Ich quäle mich aus dem Bett, rieche nach Schnaps, schlüpfe in meine stilvolle ellesse-Jogginghose (für Brandenburg wird es schon reichen) und kann in diesem Outfit kurz darauf erstmals unbehelligt Geld vom Sparkassenautomaten entgegennehmen. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass die Gruppe osteuropäischer Obdachloser, die mich sonst immer nach Geld fragt, mir heute eher einen Schlafplatz in ihrer Runde anbieten will. Bevor sich das Gespräch entwickeln kann, muss ich aber bereits schleunigst in Richtung Ostbahnhof eilen, an dem bereits mehrere FUDU-Schweine mit zwei Brandenburg-Tickets ausgestattet vorfreudig erregt am Bahnsteig herumlungern.
Am Bahnhof Friedrichstraße stößt der Wirtschaftsflüchtling mit zur Reisegruppe. Von oben herab betrachtet er mich argwöhnisch und zitiert (völlig zurecht) den großen Karl Lagerfeld: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren!“. Verdammt, darauf war ich nicht eingestellt. Urlaub in Brandenburg bedeutet eben auch, dass man zunächst einmal durch Berlins Innenstadt fahren muss und dort vor sozialer Verachtung nicht gefeit ist.
In Cottbus angekommen, hat sich dieses negative Gefühl aber gänzlich verflüchtigt und ich fühle mich mit meiner sportlichen Eleganz nun adäquat gekleidet. Fackelmann und der Spreewaldschurke komplettieren dort die Reisegruppe, die bereits jetzt unüberschaubar groß geworden ist. Der Schurke, soeben aus seinem Norwegen-Urlaub zurückgekehrt, nutzt die Gunst der Stunde und referiert geschickt, warum man bei Reisen auf die Mitnahme von Frauen verzichten sollte. Nebenbei weist er als Brandenburgspezialist der Reisegruppe auf die Sehenswürdigkeiten hin, die wir auf der Überfahrt von Chóśebuz nach Guben aus den Regionalbahnfenstern bestaunen können: Die Fernwärmerohre aus dem Kraftwerk Jänschwalde, die während einer Sanierung einst dafür sorgten, dass 30.000 Cottbuser nur über Kaltwasser verfügten und der sagenumwobene Erlebnispark Peitz mit Sommerrodelbahn und Aussichtsturm.
Und dann sind wir in Guben.
Dinge, die das hiesige Stadtmarketing verschweigen würde: 1999 wurde hier von Neonazis eine Hetzjagd auf drei Ausländer veranstaltet, im Zuge derer ein Algerier zu Tode kam. Ist lange her. 2015 attackierten Neonazis in Guben eine Wohnung afrikanischer Flüchtlinge und warfen Steine auf ein Haus syrischer Asylbewerber. Das ist noch nicht so lange her. Und vor wenigen Wochen wurde hier ein afghanisches Vater-Sohn-Duo bei einem Angriff verletzt. Man, hat sich ja in den letzten 20 Jahren eine Menge getan in Kackeland. Nun könnte man die Frage in den Raum stellen, warum die Politik hierauf offenbar nicht nachhaltig genug reagiert. Nun ja, für Guben fällt die Antwort auf diese aktuell wieder aufkommende Frage etwas außergewöhnlich aus: Der Bürgermeister darf das Rathaus nicht betreten! Klaus-Dieter Hübner, von lokalen Medien mit dem ehrenwerten Spitznamen „Berlusconi von der Neiße“ bedacht, wurde erstmals im Jahr 2001 zum Bürgermeister gewählt. Obwohl er in seiner zweiten Amtszeit wegen einer Bestechungsaffäre zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde, hinderte dies die BürgerInnen Gubens nicht daran, ihn im Jahre 2016 noch ein drittes Mal wiederzuwählen. Nun ist der gute Mann aufgrund eines laufenden Disziplinarverfahrens des Landkreises Spree-Neiße mit einem Hausverbot für das Rathaus ausgestattet. Das hätte es in der Wilhelm-Pieck-Stadt Guben nicht gegeben!
Im Jahre 1990 hat die Stadt diesen schmückenden Beinamen übrigens abgelegt, doch würde der einstige Präsident der Deutschen Demokratischen Republik als Untoter zurück auf Erden geschickt werden, er würde seine Heimatstadt gewiss wieder erkennen. So würde er beispielsweise den Postzeitungsvertriebskiosk (PZV) am Bahnhof in unveränderter Form vorfinden und auch der VEB Gubener Wolle weiß sich wenige Meter später am Flussufer imposant in Szene zu setzen.
Wir entscheiden uns aufgrund der Tristesse auf bundesdeutscher Seite die Neiße zu überqueren und im polnischen Teil der Stadt zwecks Nahrungsaufnahme in einem angemessenen Restaurant einzukehren. Unsere Wahl fällt auf das „Tercet“, welches sich im historischen Gewölbekeller des Rathauses der Stadt Gubin angesiedelt hat und sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu der imposanten Ruine der Stadt- und Hauptkirche befindet, welche im zweiten Weltkrieg zerstört worden ist. Ich bestelle ein mit polnischem Blauschimmelkäse gefülltes Schnitzel und versuche bei einem schnellen Pivo zu verdrängen, dass ich mich aktuell mit einer Jogginghose in einer gehobenen Gastronomie befinde. Der Wirtschaftsflüchtling präsentiert derweil einen neuerlichen Geldschein-Dachbodenfund. Eine 100-Złoty-Note mit der nostalgisch anmutenden Aufschrift „Proletaryat“ weckt dann doch die Skepsis innerhalb der Reisegruppe, ob diese Banknote noch Gültigkeit besitzt. Wir erinnern uns an eine Szene im November 2015, als sich der Flüchtling während eines Heimspiels von Slavoj Vyšehrad mit einem 50-Kronen-Schein in der Wurstbude drei Freundinnen gemacht hat, die angesichts dieses prähistorischen Geldscheins mutmaßlich noch immer vor Lachen auf dem Boden vor dem Klobasa-Grill herumrollen. Die polnische Kellnerin bestätigt heute jedenfalls kichernd unsere Annahme: Der Proletenhunni ist in etwa schon so lange nicht mehr gültig wie der Tschechenfuffi. Im Anschluss läuft der Nachmittag bei weiteren preiswerten Bierchen in etwa so schnell aus dem Ruder wie diese eine Situation neulich im Fahrstuhl, als mich die Frau mit den schönen Brüsten gebeten hat, die 2 zu drücken…
Nachdem wir die Lokalität deutlich angeschlagen verlassen haben, verspüren wir plötzlich einen unheimlichen Zeitdruck. Zwar hatte der Hoollege schon vor Wochen darauf hingewiesen, dass sich die Spielstätte des BSV Guben Nord in 3,7 Kilometern Entfernung zum Bahnhof befindet, da das B im Vereinsnamen für Breesen steht und damit genaugenommen bereits angedeutet wird, dass das Spiel in einem Nachbarort Gubens stattfinden wird, aber so richtig ernst genommen hatte diese Anmerkung bislang niemand. Nun verliert sich die große Reisegruppe aus den Augen und kämpft den Kampf gegen die Uhrzeit nun mit hochgekrempelten Egotrip-Ärmeln. Ich sitze plötzlich in einem Taxi, in welchem naturgemäß niemals alle 12 Mitreisenden Platz gefunden haben können. Die Taxifahrerin hat heute bereits mehrere Unioner zum Sportplatz hinausgefahren und schimpft wie ein Rohrspatz, dass es der Verein nicht geschafft hat, Shuttlebusse oder ähnliches für die ankommenden Fanmassen aus Berlin zu organisieren. Arbeit nervt!
Als angehende Hobbysoziologin berichtet sie uns davon, dass die Eingemeindung aufgrund der Bevölkerungsabwanderung bitter nötig gewesen sei, um die Einwohnerzahl stabil zu halten. Allerdings seien seit der Eingemeindung Breesens im Jahr 1950 keine Mischehen entstanden, da die beiden Ortsteile Gubens schlicht und ergreifend durch keinen regulären ÖPNV miteinander verbunden sind und die Menschen vergessen, sich rechtzeitig telefonisch bei den „Ruf-Bussen“ anzumelden. 10,50 € später verlassen wir das Taxi an der Sportanlage an der Baumschule, zahlen 9 € Eintritt und sind aufgrund dieser horrenden Ausgaben froh darüber, eben so günstig gegessen und gesoffen zu haben. Irgendwann und irgendwie erreichen dann auch die anderen Truppenteile FUDUs den Sportplatz, noch bevor der Ball über den grünen Rasen des Brandenburgligisten zu rollen beginnt.
Dort finden wir einen eigentlich recht angenehmen Stehplatz auf der Längsseite, welcher durch die kreischende Dorfweiblichkeit allerdings exorbitant abgewertet wird. Die Gubener „Woo-Girls“ peitschen ihre Männer nach vorne, während es der 1.FC Union Berlin so richtig scheppern lässt und alleine in der ersten Halbzeit gleich vier Aluminiumtreffer zu verzeichnen hat. Taz und Hedlund zielen noch ein wenig genauer als die Kollegen und bringen die Köpenicker mit 2:0 zur Pause in Front.
Im zweiten Spielabschnitt kehrt sich das Verhältnis von Stangerlschüssen zu Torerfolgen um und so wandern nur noch zwei Lattentreffer, dafür aber fünf weitere Tore auf den Notizzettel. Schön, dass in Cihan Kahraman auch ein zweiter Nachwuchsspieler über einen Treffer im Herrenbereich jubeln darf. Und dann dürfen wir auch schon wieder zu Fuß zum Bahnhof zurückkehren und gen Heimat entschwinden.
[Die Gnade des verspätet geschriebenen Blog-Berichts macht’s möglich: Nach unserem Weggang startet Guben medial so richtig durch. Marko Geidel spielt hierbei eine Hauptrolle. Nachdem er bei der Wahl zur Apfelkönigin des Jahres 2017 leider denkbar knapp durch die Dorfschönste Antonia ausgestochen worden war, witterte er den großen Wahlbetrug und klagte sich seitdem so lange erfolglos durch alle Instanzen, bis der weltbewegende Fall(-obst) tatsächlich den Bundesgerichtshof erreicht hat. Im Dezember 2017 verstirbt indes der „Berlusconi von der Neiße“. Recht bald kann Guben also einen neuen Bürgermeister wählen, der dann sogar das Rathaus betreten darf.]
Als am Montag die Schülerpraktikantin fragt, wie mein Wochenende so war, kann ich leider nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Schnaps in der Regionalbahn verkaufen, in Polen mit Jogginghose essen gehen und sich in Brandenburg besoffen vornehmen, Apfelkönig und Bürgermeister in Personalunion zu werden, hinterlässt keinen Eindruck. Und so eignet sich lediglich die Aussage: „Ich habe hart trainiert!“, um das Kapitel Barleben und Guben ein für allemal zu schließen. /hvg
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