Posted on Januar 28, 2018
28.01.2018 SS Monza 1912 – AS Lucchese Libertas 1:0 (1:0) / Stadio Brianteo / 1.181 Zs.
Der Tag beginnt mit einem kleinen Frühstück an einem liebevoll gedeckten Kantinentisch mit Papiertischdecke. Unser Gastgeber hat sich richtig Mühe gegeben und sich sogar darauf eingestellt, dass seine Gäste wegen des Fußballsports reisend unterwegs sind. So lässt er es sich heute nicht nehmen, den Kaffee im ausgewaschenen grauen 90er-Jahre Millwall FC Sweater zu servieren. Nebenan wartet sein Kumpel ungeduldig im Flur. Wenn die Kartoffeln endlich mit dem Frühstück fertig sind, scheint hier Feierabend zu sein – und vielleicht müssen die beiden ja heute noch nach Firenze reisen, um Hellas supporten zu können…
Aus bloßer Rücksicht auf den italienischen Feierabend (und weil wir unsere Bahn um 10.02 Uhr via Milano Centrale nach Monza erwischen wollen) verläuft das Frühstück wenig ausufernd. Im allseits geliebten „Frecciarossa“ haben wir kurz darauf dank der kostenlosen Bahnzeitschrift erfahren, wie den Bambini in Italien rechnen beigebracht wird. Schnell haben wir alle Gleichungen gelöst und stellen uns im Anschluss die Frage, ob es uns als Rassismus ausgelegt würde, würden wir diese Geschichte ungefiltert zu Hause erzählen. „In Italien müssen die Kinder Pizzen addieren und subtrahieren, um im Zahlenraum 1-10 zurechtzukommen, kannste glauben!“ Wir schließen den Themenkomplex mit der beruhigenden Erkenntnis ab, dass manche Vorurteile über Nationalitäten eben schlicht und ergreifend nur daher existent sind, weil sie stimmen – und öffnen ungeniert um 10.30 Uhr zum erweiterten Frühstück die erste Pulle Bier und essen Würstchen. Deutschlaaaaaaand, Deutschlaaaaaaand, Deutschlaaaaaaand!
Kurz vor Milano Centrale bleibt uns dann das Lachen im Halse stecken. Vor drei Tagen hatte es in Pioltello ein Zugunglück gegeben. Eine Regionalbahn, die tagtäglich mehrere hundert Berufspendler aus den Vororten Mailands in die Innenstadt befördert, war aufgrund eines Schienenbruchs entgleist. Noch wenige Tage vorher hatte ein Gleismesszug die Strecke überprüft und schon lange war die Empfehlung ausgesprochen worden, die stark frequentierten und abgefahrenen Gleise auszutauschen. Drei Menschen starben bei dem Unfall, zehn wurden schwer und etwa einhundert leicht verletzt. Die wohl schwärzeste Stunde auf der ältesten Bahnstrecke Italiens. Heute stehen die Waggons der Regionalbahn jedenfalls noch ineinander verkeilt am Wegesrand und Polizisten und Bahnmitarbeiter untersuchen die Unglücksstelle. Unser „Frecciarossa“ passiert diese im Schritttempo, sodass man sich schon arg selbst disziplinieren muss, um nicht dauerhaft auf das Szenario zu gaffen. Irgendwas stimmt mit uns Menschen nicht…
Mit 22 Minuten Verspätung erreichen wir den Hauptbahnhof und verpassen den Anschluss nach Monza denkbar knapp. Glücklicherweise liegt das Ziel nur 12 Kilometer entfernt und die Zugtaktung darf als einigermaßen dicht beschrieben werden, sodass wir nicht all zu viel Zeit in Milano verbringen müssen. Vor dem Anpfiff des Serie C Spiels um 14.30 Uhr bleibt dann sogar noch genügend Luft, um etwas durch die drittgrößte Stadt der Lombardei zu schlendern. Der Stadtspaziergang übertrifft alle Erwartungen, was häufiger geschieht, sobald man keine Erwartungen hat. Monza dürfte den allermeisten Menschen lediglich wegen seiner Formel-1-Strecke ein Begriff sein (oder wegen des Opel-Modells, welches nach eben jener Strecke benannt wurde) und so hat man es offenbar bislang versäumt, auch Loblieder auf die schönen Straßen der Innenstadt und den Dom zu singen. Historisch relevant ist der Fakt, dass König Umberto von Italien am Abend des 29.07.1900 in Monza durch einen Anarchisten ermordet wurde. Diese Information gebe ich zugegebenermaßen nur, weil ich den Namen Umberto großartig finde, an einen schäbigen Witz denken und schmunzeln muss. Und das stellt nun einmal ein wichtiges Gegengewicht zu all dem Leid und Elend in dieser Welt (und im vorausgegangenen Absatz) dar!
Das „Stadio Brianteo“ steht am Rand der Stadt hinter einer weitläufigen Wiese und kurz vor der Schnellstraße mit Einkaufszentrum. Diese Lage lässt sich erwartungsgemäß damit begründen, dass das Stadion erst gebaut wurde, als die Stadt bereits fertig war. 1988 wurde die Anlage eröffnet und die ursprünglich geplante Leichtathletikbahn bereits während des Baus wieder entfernt. So kommt man heute in den Genuss eines reinen Fußballstadions mit 18.568 Plätzen, davon 8.327 überdacht, was für Italien keine Selbstverständlichkeit ist und daher zwingend Erwähnung finden sollte. Als besonderer optischer Leckerbissen erweisen sich zwei der vier Flutlichtmasten, die man eher Flutlichttürme nennen sollte und die die Dachkonstruktion der Haupttribüne schultern müssen. Während das Stadion einen stabilen Eindruck hinterlässt und zu Höherem berufen wäre, taumelt der SS Monza seit Jahren finanziell und sportlich durch die unteren Ligen Italiens und hat bereits mehrere Insolvenzen und Neugründungen hinter sich.
Heute erhält man für stolze 20,00 € Eintritt auf die Haupttribüne. Kurz überlegen Fetti und seine Freunde, 10,00 € mehr in die Hand zu nehmen und sich für ___ € (Was sind 20 Pizzen plus 10 Pizzen, Umberto?) ein VIP-Ticket zu gönnen, entscheiden sich aber angesichts der unklaren Speisen- und Getränkesituation in Italiens dritter Liga gegen diese Dekadenz.
Genauer: Man würde Eintritt erhalten. Wäre da nicht diese Diskussion mit dem Ordner, der zunächst moniert, dass man seine leere „San Benedetto Thè“-Flasche nicht mit in das Stadion nehmen dürfe. Ich habe jetzt keine emotionale Bindung zu dem guten Stück und versuche der Warnweste zu erklären, dass ich bislang schlicht und ergreifend keine Mülleimer in Stadionnähe gefunden habe. Auch nun schaue ich mich hilflos um und finde in näherer Umgebung des Eingangs keine Entsorgungsmöglichkeit. Der Ordner versteht kein Englisch und somit mich und mein Problem nicht und denkt gleichzeitig, dass ich nicht verstehen würde, was er sich von mir wünscht, woraufhin er das Gesagte wiederholt, nur lauter. Irgendwann werfe ich die Plastikflasche entnervt in die Gegend, darauffolgend: zufriedenes Nicken des Gegenüber. Level 1 wäre geschafft, würde da nicht noch mein „Kulturbeutel“ im Reisegepäck auf Durchsicht warten. Deo, Zahnbürste, Magentropfen. Alles schwer verbotene und todbringende Teufelsgegenstände. Glücklicherweise eilt ein Vorgesetzter zu Hilfe, weist den C-Klassen-Ordner in die Schranken und lässt die Touristen passieren. Tutto fumo senz’arrosto!
Am Ende haben gerade einmal 1.181 Menschen (412 an der Tageskasse bezahlt, 769 Dauerkarten!) den Weg in die Spielstätte gefunden. Kommen so wenige Zuschauer, weil es keinen Bus aus der Stadt hierhin gibt? Oder gibt es keinen Bus aus der Stadt, weil so wenige Zuschauer in das Stadion wollen? An dieser Fragestellung dürften die Gelehrten scheitern. Die Heimkurve ist jedenfalls nur spärlich gefüllt, ein Großteil des Publikums macht es sich unter dem Dach der Haupttribüne bequem. Eine rote Camouflagejacke scheint das liebste Erkennungsmerkmal bzw. der liebste Fanartikel der Anhänger des SS Monza zu sein. Alt und jung, groß und klein, Ultrá und Normalo – überall findet sich dieses zeitlos schöne Kleidungsstück wieder. Monza-krass!
Das Spiel beginnt. Es trifft der 6. auf den 13. und in einer Liga mit 19 Mannschaften, in der die ersten 11 Plätze am Ende zum Einzug in die Play.-Off’s in Richtung Serie B berechtigen, kann man mit sehr viel Wohlwollen heute von „Aufstiegskampf“ sprechen. Auf dem Rasen sieht es dann aber recht bald eher nach Krampf aus, was man von Italiens dritter Liga seit dem Ausflug nach Piacenza aber auch nicht großartig anders erwartet hätte. Zu allem Überfluss bleibt die erst kürzlich eröffnete Bar der Haupttribüne heute geschlossen, sodass Fetti nach einer Viertelstunde stocknüchtern die erste grobe Fehlentscheidung des Schiedsrichtergespann notieren muss. Da entscheiden die einfach fälschlicherweise auf Einwurf für Lucchese, es ist ein Skandal! Tief in der eigenen Hälfte wirft also ein Defensivspieler aus Lucca (Toscana) den Ball in das Abwehrzentrum zurück, Baroni nimmt ihn an, schiebt ihn quer – und genau in die Füße des angreifenden Andrea D’Errico, der sich nicht zwei Mal bitten lässt und den Ball über die Linie drückt. In Monza ist man erleichtert, dass D’Errico, der kurz zuvor noch vom gegnerischen Torwart ausgeknockt worden war, bereits wieder über genügend Klarheit verfügte, diesen D’Error zu antizipieren und zum strahlenden Nutznießer zu werden.
In Folge hat Monza den Spiel und den Gegner fest im Griff. In den Reihen der Gäste fällt der vollkommen verunsicherte Baroni immer wieder mit groben Fehlern im Aufbauspiel auf, welche seine Kollegen mit übermäßiger Härte wett machen. Der Herr Schiedsrichter fällt hingegen durch absolute Gleichgültigkeit auf und winkt eine grobe Grätsche nach der anderen ungesühnt durch.
In der Halbzeitpause wird Baroni erlöst und gegen Russu ausgetauscht. Leider kommt es auch zu einem Wechsel auf der Stadion-DJ-Position, anders ist nicht zu erklären, warum nun plötzlich statt angenehmen Rockklassikern à la AC/DC belangloser Popblödsinn über den Äther geschickt wird.
Im zweiten Spielabschnitt bäumt sich Lucchese, angefeuert von 50 weitgereisten Tifosi, auf und stemmt sich gegen die drohende Niederlage. Es darf nicht verschwiegen werden, dass Monza nichtsdestotrotz in der 51. Minute beinahe einen Deckel auf die Partie gesetzt hätte, doch der Abschlussversuch endet am Torpfosten. Im Anschluss gibt Monza das Heft des Handelns allerdings vollends aus der Hand und der Gast kommt zu mehreren guten Gelegenheiten. Längst hätte Lucchese das Remis verdient gehabt, als sich Heimcoach Marco Zaffaroni in der 80. Minute den Unmut des Publikums auf sich zieht, indem er auch noch den zweiten Stürmer austauscht und einen weiteren Abwehrspieler zur Verteidigung des schmalen Vorsprungs auf das Feld bringt und somit die letzte Chance auf etwas Entlastung nach Vorne zusammenstreicht. Immer wieder bricht die eingeschnürte Defensive von Krämpfen geplagt zusammen und so ist es eine große Erlösung, als Schiedsrichter Alberto Santoro die Partie nach 93 Minuten für beendet erklärt.
Nach dem Spiel werden wir noch kurz in Versuchung geführt, der Frauenvolleyballmannschaft „Saugella Monza“ in der „Candy Arena“ im Rahmen eines Serie-A-Spiels gegen Conegliano zuzuschauen, entscheiden uns angesichts der Eintrittspreisgestaltung (14,00 €, das sind ja sechs Pizzen weniger als bei einem drittklassigen Fußballspiel – mal ehrlich, wer soll das bezahlen?) und aufgrund einsetzenden Hungers dagegen. Gegen „Igor Gorgonzola Novara“, die ebenfalls hochklassiges Frauenvolleyball spielen, wäre die Entscheidung sicherlich anders ausgefallen!
Wir kehren kurz darauf im „Ristorante Amadeus“ ein, welches mit künstlerisch wertvollen Nacktbildern attraktiver Damen in Fleischerschürzen in Form von Kettenhemden aufwartet und kurz darauf auch mit hausgemachten Trofie mit Entenragout restlos überzeugt. Im Hintergrund dudelt lieblos irgendein Radiosender und zerstört mit Werbung, belanglosen Nachrichten und Britney Spears das Ambiente. Nachdem das wirklich vorzügliche Essen verspeist ist, ist in Monza dichter Nebel aufgezogen und wir kämpfen uns durch die Schwaden zurück zum Bahnhof.
Die Wegstrecken Monza-Milano und Milano-Bergamo sind altbekannt beziehungsweise alles Aldehyde, wie der Chemiker sagt. Spektakulär wird es nur noch, als sich eine ältere Dame auf dem Bahnhof von Bergamo in Tuch hüllt und zwanglos auf das Gleisbett uriniert. Ja ja, so ist das im ach so hochentwickelten Norditalien. Da kann der Neapolitaner in uns nur müde lächeln und gerade noch mittels Pizzastücken errechnen, wie viel Stunden Schlaf bis zur Montagmorgen-Rückreise zum Arbeitsplatz auf der Uhr verbleiben. In vier Tagen steht ja dann auch schon die Weiterreise nach Südfrankreich auf dem Programm: Ob man da dann wohl mit Baguette operiert? /hvg
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