720 720 FUDUTOURS International 23.11.24 10:40:06

31.10.2017 Charlottenburger FC Hertha 06 Berlin – Malchower SV 6:5 (1:1) / Sportplatz Sömmeringstraße / 97 Zs.

Gerade einmal 500 Jahre ist es her, dass eine sachsen-anhaltinische Thesenkraft mit Weltruf zunächst etwas in Wittenberg an die Kirchentür nagelte und kurz darauf mutmaßlich auf einer nahe gelegenen Lichtung einige scheue Waldtiere im 4-4-2 beobachtete. Jahr für Jahr feiert das kulturell ach so hochentwickelte Abendland diese Rehformation und in heimischen Gefilden ist es aufgrund des Jubiläums dieses Mal sogar den Berlinern vorbehalten, an den Feierlichkeiten mitzuwirken, von denen man bislang alljährlich ausgeschlossen worden war.

Bei FUDU kursiert an diesem arbeitsfreien Dienstag die These, dass ein freier Dienstag ohne Fußball genaugenommen ein verlorener Dienstag sei und so ist schnell der Entschluss gefasst, dem CFC Hertha 06 in der NOFV-Oberliga Nord einen Besuch abzustatten. Schnell ist der „Safety Check“ auf Facebook am frühen Morgen beantwortet und die Welt darüber informiert, dass der Autor dieses Artikels das Sturmtief Herwart gerade eben so überlebt hat, wenn auch durch das verpasste Auswärtsspiel des 1.FC Union beim MSV Duisburg etwas schwerer gezeichnet als die anderen 82,52 Millionen Überlebenden in diesem Lande. Eine Katastrophe mit drei Todesopfern. Kannste im internationalen Vergleich jetzt auch nicht unbedingt mit angeben.

Dennoch ist das subjektiv empfundene Sicherheitsgefühl einiger Mitmenschen in seinen Grundfesten erschüttert. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, warum in meiner S-Bahn nach Jungfernheide ein kleiner Junge mit Tropenhelm und Kompass ausgestattet durch den Gang tobt. Oder ob er sich auch auf dem Weg in das Abenteuer Oberliga befindet?

Mit einem Spätibier in der Hand ist dann auch das Charlottenburger Sightseeing rund um den U-Bahnhof Mierendorffplatz schnell absolviert. Der Höhepunkt dieses Unterfangens stellt sicherlich die „Sporthalle Charlottenburg“ dar, die im allgemeinen Sprachgebrauch eher als „Sömmeringhalle“ bekannt ist. Die Halle, die ich nun seit circa zehn Jahren nicht mehr von Innen gesehen habe, habe ich vom letzten Auftritt von Union Zwee im Rahmen eines Hallenfußballturniers allerdings noch in bester Erinnerung. Dazu noch schnell einen kurzen Blick in den „Österreich-Park“ und auf die Spree geworfen und schon kann man sich gedanklich dem 12. Spieltag der Oberliga zuwenden. Dort rangiert der CFC Hertha 06 mit nur vier Punkten auf der Habenseite abgeschlagen auf dem letzten Platz. Munier Raychouni hat vor einer Woche das Zepter von Kemal Halat auf dem Trainersessel übernommen und ist mit einer 0:2 Niederlage in Schwerin in das Himmelfahrtskommando gestartet, den Karren nach nunmehr acht verlorenen Partien in Folge aus dem Dreck zu ziehen und die Hertha zum Klassenerhalt zu führen.

Für gruselige 8,00 Euro wird man am Sportplatz Sömmeringstraße von einem übermotivierten Ordner begrapscht und direkt im Anschluss damit erschreckt, dass es keine Eintrittskarte für die Sammlung daheim gibt und die Zapfanlage auch noch nicht zum Ausschank bereit ist. Halloween konnte ich aus guten Gründen noch nie leiden.

Der Sportplatz ist an beiden Längsseiten mit einigen wenigen Stufen ausgebaut. Zwei Hopper mit Stadionwurst in der Hand zählen 69 Zuschauer, ich komme auf 101, am Ende werden 97 Zuschauer offiziell erfasst. Mit einem freundlichen „lasst’s Euch schmecken!“, wünscht der Linienrichter einen guten Appetit und wird auch während der Partie überaus kommunikativ bleiben und beispielsweise die Kritik der Zuschauer an einigen Abseitsentscheidungen mit einem entspannt-arroganten: „Das macht der Herr Hauptschiedsrichter schon ganz gut!“ begegnen.

Nach 20 Minuten haben die Mannen von Trainer Raychouni so ziemlich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Angefangen beim 0:1 in der dritten Spielminute durch Täge, der nach einem Pass in die Tiefe spielend leicht den Heimkeeper umkurven und einschieben konnte. Fortgesetzt in der 5. und 6. Minute, als nach einer Flanke samt Direktabnahme bzw. durch einen Kopfball nach einer Freistoßflanke das Ergebnis bereits hätte höher ausfallen können. Und ganz zu schweigen von der gelb-roten Karte für Herthas Vedat Temel nach zwei banalen Foulspielen im Mittelfeld in der 19. Spielminute.

Der Kapitän der Mecklenburger treibt seine Mannen mit norddeutschem Zungenschlag und rudernden Armen nach vorn: „Weider, weider“. Offenbar ahnt er, was auf seine Mannschaft zukommen wird, denn plötzlich geht ein Ruck durch die Charlottenburger Truppe. „Tabellenletzter, 0:1 Rückstand, nur noch zehn Mann auf dem Platz – was gibt es jetzt noch zu verlieren?“ So oder so ähnlich muss der Film in den Köpfen der grün-weiß-roten ausgesehen haben, der dazu führt, dass man nun wesentlich besser ins Spiel kommt, sich gegenseitig anstachelt und erste gelungenen Aktionen sichtlich Selbstvertrauen schaffen. Der brasilianische Sturmtank José da Silva Magalhaes ist vorne etwas auf sich allein gestellt, kann die Bälle aber gut festmachen, verstolpert sie dann jedoch ebenso unbeholfen kurz vor dem Sechzehner wieder, was einen älteren Herren aus dem Publikum den Satz „der trifft doch in hundert Jahren nicht!“ entlocken wird.

Nach 25 Minuten zieht eben jener da Silva einen Freistoß. Die Flanke segelt auf den Kopf von Nemanja Samardzic und findet den Weg in den Kasten der Malchower. Jetzt geht die Post so richtig ab und die von der Überzahl gelähmten Mecklenburger werden nun von Hertha in Grund und Boden gelaufen. Jeder Zweikampf wird erbittert geführt, jeder noch so kleine Raum zugelaufen und der Team-Spirit trieft bis zum Halbzeitpfiff aus jeder Charlottenburger Pore. Der letzte rhetorische Höhepunkt des ersten Abschnitts gebührt jedoch wieder Gäste-Kapitän Schumski, der nach einem eigentlich gelungenen direkt getretenen Freistoß seines Mitspielers unzufrieden ist, weil er nicht in die Aktion mit eingebunden wurde: „Ich dachte, Du steckst durch, Diggi!“

In der zweiten Halbzeit ist dann auch der Bierstand soweit und kann die Wünsche der durstigen Feiertagsmeute befriedigen. Die Spieler kehren über eine formschöne Siebzigerjahre-Brücke, die die Kabinen in der Sömmeringhalle mit dem Fußballfeld verbindet, auf den Rasen zurück. Fußballspielende Kinder räumen das Feld für Malchower, denen die Sorge über den weiteren Verlauf des Spiels in die Gesichter geschrieben steht und für Herthaner, die so heiß sind, dass die Kabinenansprache und das sich gegenseitige Anfeuern aus dem Nachbargebäude akustisch auf den Sportplatz durchgedrungen war. Nach 47 Minuten hat Ali Ayvaz seine Farben mit 2:1 in Führung gebracht und eine Viertelstunde später trifft da Silva zum 3:1 nach einem Eckstoß. So schnell können also 100 Jahre ins Land gehen. Nur noch 400, dann hat auch Berlin wieder einen zusätzlichen Feiertag…

„Die Partie mit nur noch zehn Mann auf dem Platz gedreht, alles gelingt, wir sind unbesiegbar!“ So oder so ähnlich muss der Film in den Köpfen der grün-weiß-roten ausgesehen haben, der dazu führt, dass man nun kräftig überdreht, die eigene Defensive vernachlässigt und vergisst, die eigenen Kräfte zu dosieren. Es fällt nun deutlich schwerer, mit den Gästen Schritt zu halten und weiterhin die nötigen Räume zuzulaufen. Die logische Konsequenz: Malchow hat Platz und erspielt sich reihenweise Gelegenheiten. Das 3:2 gelingt erneut Täge nach einer wirklich sehenswerten Kombination bereits in der 62. Minute. Hier ist noch eine Menge Zeit auf der Uhr und der Hertha schlottern plötzlich wieder die Knie. Ach, Sportpsychologie ist schon etwas feines und wer weiß, wie es weiter gegangen wäre, wäre Malchow nur wenige Minuten später der Ausgleich per Kopf gelungen.

So schaufelt sich die Hertha nach und nach wieder etwas frei und kann sich bietende Räume nun immer wieder zu Kontern nutzen. Der 19-jährige Nico Donner erzielt nach einer Flanke ein Kopfballtor, für welches es beinahe einen Videobeweis gebraucht hätte, da der Ball die Torlinie nur für wenige Zentimeter überschritten haben kann. Da aber auch Proteste des Torwarts Buschke ausbleiben, der den Ball abgewehrt hatte, darf getrost von einem regulären Treffer ausgegangen werden. Zum großen Held der nächsten 15 Minuten avanciert dann José da Silva Magalhaes, der in der 75. und 80. Minute zwei Treffer zum nun gültigen Zwischenstand von 6:2 beitragen kann. Und schwupps, waren es nur noch 200 Jahre…

Die letzten zehn Minuten der Partie kann man nicht beschreiben, ohne um die Begrifflichkeiten „Halli Galli“, „Freakspiel“ oder „Wahnsinn“ herumzukommen. So ein 6:2 Rückstand ist für die Sportfreunde aus dem Norden nämlich noch längst kein Grund, die Köpfe in den Sand zu stecken und so kommen sie durch Pretzer (86. Minute) und Täge zum Dritten (88.) plötzlich wieder in gefährlich nahe Schlagdistanz. Nur wenige Sekunden nach dem Anschlusstreffer zum 4:6 lassen die Malchower eine glasklare Chance liegen, dann schießen die Herthaner einen Freistoß an die Querlatte, ehe die Gäste in der 90. per Strafstoß durch Schult dann doch noch auf 5:6 herankommen. Glücklicherweise hat Schiedsrichter Savoly kurz darauf ein Erbarmen, beendet die Partie und neun Charlottenburger sacken erleichtert auf dem Rasen zusammen, während sich in da Silva Magalhaes der Mann des Spiels mit stolzgeschwellter Heldenbrust zum Interview begibt.

Alles in allem kann man durchaus von einem gelungenen Feiertag sprechen. Nach dem spannenden und nervenaufreibenden Spiel werden nun sicherlich ein-zwei Bier auf dem Nachhauseweg bei der schnellen Rehhabilitation vor dem morgigen Arbeitstag helfen. Wie würde Martin Luther sagen? Steile These! /hvg