Posted on Dezember 29, 2017
29.12.2017 Doncaster Rovers FC – Rochdale AFC 2:0 (2:0) / Stadium Doncaster / 7.997 Zs.
Puh, wieder ein Jahr geschafft. Endlich ist es soweit und die Jahresabschlussreise nach England steht auf dem Programm. Jahr für Jahr locken die Spieltage an den Weihnachtsfeiertagen und zwischen den Jahren unzählige Fußballfreunde auf die Insel. Einmal im Leben das „Old Trafford“ sehen, einmal den Chelsea FC oder Arsenal besuchen, einmal „You’ll Never Walk Alone“ an der „Anfield Road“ hören – davon träumen sie, die Gelegenheitshopper. Und dann gibt es da noch Menschen wie uns, die sich nichts schöneres vorstellen können, als in Manchester zu landen, um erst einmal in Sheffield ein Zweitliga-Eishockeyspiel und dann die Doncaster Rovers zu sehen. Nun denn.
Bei der Einreise am Airport Manchester mustert der Staatsbeamte meinen Personalausweis. Abwechselnd beäugt er das Dokument, dann skeptisch mein Gesicht. Drei Mal wandert sein Kopf auf und ab. In Zeitlupe. Seine Miene klart sich auf, der Scherz ist fertig: „This could be your son, mate!“. Und ja: Das Foto ist zugegebenermaßen gute 13 Jahre alt, der Ausweis auch nur noch bis Anfang 2019 gültig und die Mär vom ewig jungen Blogger hiermit wohl passé.
Weniger Freude bereitet uns kurz darauf der Umstand, dass das „Greggs“ am Flughafen uns den Plan verwehrt, unser mitgebrachtes Kleingeld vom letzten England-Ausflug gegen Kaffee einzutauschen. Eingangs verstehen wir den Grund hierfür nicht vollumfänglich, beim dritten Versuch haben aber auch wir verstanden, dass die Ein-Pfund-Münzen offenbar nicht akzeptiert werden. In der Tat ergibt eine Kurzrecherche, dass man diese bis zum 15. Oktober 2017 gegen neue Münzen hätte umtauschen müssen. Diese lösen ihren Vorgänger nach 30 Jahren ab, sind zweifarbig und zwölfeckig, haben ein Hologramm und gelten als absolut fälschungssicher. Schätzungen zu Folge waren 3,3% der alten Ein-Pfund-Münzen nicht echt. Wir haben knapp 20 von diesen über die Grenze geschmuggelt und fühlen uns zunächst unheimlich ungerecht behandelt und um unser Reisebudget geprellt.
Im 60 Kilometer entfernten Sheffield verwehren uns die ersten Banken in Ermangelung eines Kontos bei ihnen einen nachträglichen Umtausch. Erst in der dritten Bank ist eine Angestellte so freundlich und nimmt unsere Münzen privat entgegen, öffnet ihr Portemonnaie, tauscht sie gegen nun gültige ein und wird die alten dann einfach auf ihr eigenes Konto einzahlen. Sie tut dies in dem Urvertrauen, dass wir ihr hier und heute kein Falschgeld andrehen wollen. Oder sie ist mathematisch einfach unheimlich versiert und weiß genau, dass bekanntermaßen nur jede dreißigste Münze nicht echt ist. Was also soll bei 20 schon schief gehen?
Schnell haben die FUDU-Traditionalisten auch den beiden anderen Lieblingsketten vergangener Urlaube einen Besuch abgestattet. Im „Tesco“ trifft man jedoch auf gähnend leere Regale und auch im „Wetherspoon“ ist das Essen der Wahl leider bereits ausverkauft. Vielleicht sollte man doch noch einmal überlegen, ob man wirklich alle Handelsbrücken nach Festlandeuropa kappen sollte? Als Selbstversorger scheinen schwere Zeiten auf die Insulaner hereinzubrechen…
So begeben wir uns also rechtzeitig mit der gelben Straßenbahnlinie, die sich in Sheffield den Luxus gönnt, Zugbegleiterinnen mit an Bord zu haben, hinaus in den Norden der Stadt. Ziel der Reise stellt der „Arena/Olympic Legacy Park“ dar, in dessen unmittelbarer Nähe sich das „iceSheffield“ befindet. Das Eisstadion fasst 1.500 Besucher und wurde im Jahr 2003 eröffnet. Neben den erstklassigen Steelers, die in der großen „Sheffield Arena“ spielen, haben hier die unterklassigen Sheffield Steeldogs in der Stadt ein zu Hause gefunden. Am 27.12. gesellen sich der Fackelmann und ich unter die 300 Zuschauer und wohnen dem Spektakel gegen die Hull Pirates bei, die in denkwürdig hässlichen bräunlich-gelben Nickis in „Fluch der Karibik“-Optik auf das Eis gehen müssen. Das Spiel darf man getrost mit: „Wie eine Kneipenschlägerei. Nur mit Schlittschuhen“ kurz zusammenfassen, wobei der stocknüchterne Kommentar des vereinseigenen youtube-Kanals darauf schließen lässt, dass dies in dieser Liga eher die Regel als die Ausnahme ist („Now the season of goodwill is officially over – they decided to have a little disagreement as well and letting a few bombs fly!“). Rein sportlich schwinge ich mich zu einem echten Eishockeyexperten auf und sage das Endergebnis von 2:3 bei einem Spielstand von 2:1 in der zweiten Drittelpause korrekt vorher, während wir auf der gastronomischen Ebene dank Stadionbier und -wurst, welche wir im Stehen in der Eishalle konsumieren dürfen, weil sich die Britcat-Ordnerin einen Scheiß dafür interessiert, beide gleichermaßen als Gewinner in die Geschichte eingehen.
In den nächsten Tagen erkunden wir Sheffield und versehen die Industriestadt mit über 500.000 Einwohnern mit dem Attribut „sehenswert“. Jedenfalls für englische Verhältnisse. Wir schlendern durch Kelhalm Island und werfen einen Blick auf die Siedlung „Park Hill“, die in den 1960er Jahren fertiggestellt wurde und mit ihren knapp 1000 Wohneinheiten heute als der größte denkmalgeschützte Gebäudekomplex Europas gilt. Wer die Architektur von Le Corbusier mag, wird „Park Hill“ lieben. Oder man hält es mit den Kritikern, die den Komplex, der nach einigen Jahren des Leerstands und Niedergangs erst kürzlich saniert wurde, lieber abgerissen hätten und ihn noch heute als Schandfleck der Stadt bezeichnen. Während der Besichtigung der „Victoria Quays“ am Sheffield Canal Basin streikt plötzlich die Speicherkarte meiner Kamera und nicht alle Bilder der Stadtbesichtigung werden im weiteren Verlauf des Tages korrekt abgespeichert. So gehen beispielsweise die Aufnahmen des „Cholera Monuments“ verloren, das nach kräftezehrendem Aufstieg allerdings aufgrund seiner (nicht vorhandenen) Größe ohnehin eher eine touristische Enttäuschung darstellt. Es darf getrost davon ausgegangen werden, dass der Architekt noch während des Baus verstorben ist. Vermutlich an Cholera.
Am Tag des Fußballspiels gilt es, zunächst eine neue SD-Karte käuflich zu erwerben. Für gerade einmal 16,99£ rüste ich meine genau vor einem Jahr in Birmingham gekaufte Kamera nach. Im Anschluss kehren wir im „Old Queen’s Head“ ein. Ein Pub, der nicht nur dadurch überzeugt, dass er sich in dem ältesten Gebäude der Stadt befindet (1475), sondern auch durch seine Speisekarte mit tschechischen Gerichten. In dieser Kombination darf man dann ruhigen Gewissens von einem feuchten Traum sprechen. Ahoj!
Nach und nach kehren der Wirtschaftsflüchtling, der Sorben-Renegade und sein dickster Kumpel aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen kommend in der Kneipe ein. Schnell werden Anreisepläne nach Doncaster geschmiedet. Der harte Kern von FUDU entscheidet sich für eine entspannte Überfahrt im Zug, während die beiden NOFV-Hopper sich für einen Kleinwagen der Marke VW und eine abenteuerliche Fahrt durch englische Nebelschwaden entscheiden. Berechtigterweise stellen sie bereits jetzt die Frage, warum wir uns überhaupt dazu entschieden haben, ausgerechnet nach Doncaster zu fahren.
In Doncaster angekommen, stellen auch wir uns schnell diese Frage. Der Fußweg in Richtung Stadion führt uns an den Stadtrand, nicht ohne diverse triste Gewerbegebiete passieren zu müssen. Schon lange haben wir kein Wohnhaus und keine Kneipe mehr gesehen, ehe der ins Niemandsland geklöppelte „Stadium Way“ wie aus dem Nichts auftaucht und schnurstracks in Richtung Stadion weist, das in Lage und Baustil an solche Stadionperlen wie Paderborn und Ingolstadt erinnert. Etwas ernüchtert fallen wir in der Stadionkneipe ein, die zynischerweise nach der altehrwürdigen und mittlerweile abgerissenen Traditionsspielstätte der Rovers (1922-2006) benannt ist. In der „Belle-Vue-Bar“ fließen dann schnell tröstende Bierchen inmitten eines Publikums, das in jedem Lexikon den Begriff „Prekariat“ bebildern könnte. Freunde. Vergesst Rot-Weiß Essen. Vergesst Waldhof Mannheim. Vergesst die Kickers aus Offenbach. Vergesst den 1.FC Saarbrücken. Im Vergleich mit den Fans der Doncaster Rovers wirken die genannten Vereine mit ihrer Anhängerschar beinahe wie das literarische Quartett…
Nachdem Familie Luise Koschinsky den Nachbartisch vollends verwüstet hat, nehmen wir unsere Plätze in der 32-Millionen-Neubau-Arena ein, die selbstredend über einen Sponsorennamen verfügt und eine in Doncaster ansässige Wohnungsbaugesellschaft in den Fokus der Öffentlichkeit rückt. Der aktuelle Clubbesitzer heißt John Ryan, ist plastischer Chirurg und hat seinen Heimatverein mit knapp 4,5 Millionen £ vor dem Exodus bewahrt. Ich hoffe innerlich auf ein Treffen im VIP-Raum und hege leise Hoffnungen, dass der gute Mann mit zwei-drei Schnitten im Vorbeigehen dafür sorgen kann, dass ich mich optisch meinem Ausweisfoto wieder etwas annähern kann. Noch mehr Charme hatte dagegen der ehemalige Clubeigentürmer Ken Richardson, der einst im Pferderennsport betrog, um dann etwas später das Stadion des Clubs, das eigentlich der Stadt gehörte, landesweit zum Verkauf anzubieten und darüber hinaus auch noch zu einem Brandanschlag auf das Stadion anstiftete, um eine Versicherung über das Ohr zu hauen. Der gute Mann darf sich hiermit ab sofort offiziell FUDU-Ehrenpräsident nennen!
Heute treffen die Rovers am 25. Spieltag der dritthöchsten englischen Spielklasse (League One) auf den Rochdale AFC. Während sich Doncaster im gesicherten Mittelfeld der Tabelle befindet, trudeln die Gäste als Tabellenvorletzter langsam aber sich dem Abstieg entgegen. Von den 15.231 Sitzschalen bleiben heute knappe 50% verwaist, doch auch die 7.997 anwesenden Zuschauer hält es nicht lange in den Sitzen, da nach nur vier Spielminuten ein Schuss von der Strafraumkante, abgegeben von Ben Whiteman, sehenswert in den Maschen des Rochdale AFC einschlägt. Auch in der Folge bleibt die Heimmannschaft überlegen und legt sich die überforderten Gäste zurecht, ohne jedoch zu nennenswerten Abschlussgelegenheiten zu kommen. In der 22. und 26. Minute haben dann die Gäste ihrerseits urplötzlich gute Torchancen kreiert und melden Ambitionen an, hier am Spiel teilzunehmen. Leider verlieren sie hierbei jedoch das Gespür für die eigene Verteidigung und fangen sich in der 27. Minute den zweiten Gegentreffer. Alfie May, der später zum Spieler des Spiels gewählt werden wird, kommt in halbrechter Position im Strafraum zum Abschluss und der abgefälschte Schuss segelt am verdutzten Keeper vorbei. Gästecoach Hill ist stocksauer und nimmt seinen Sechser Keane nach einer halben Stunde vom Feld, weil dieser seine Rolle ganz offenbar viel zu offensiv interpretiert und den Laden hinten nicht dicht gehalten hatte.
In der zweiten Spielhälfte wird Rochdale vom Mute der Verzweiflung nach Vorne getrieben. Kleinere Torgelegenheiten ergeben sich nach gut einer Stunde und nach 75 Minuten. Ansonsten gelingt es den Hausherren in spielerischer Leichtigkeit, das Ergebnis zu verwalten und unter dem Strich steht, dass es einfach zu dünne ist, was Rochdale in die Waagschale werfen kann. So bleibt genügend Zeit, um sich den kleinen Nebensächlichkeiten des Spiels und des Stadionerlebnisses zuzuwenden. Doncasters irischer Torwart Ian Lawlor hat bei der Ausführung seiner Abschläge vom Boden eine besondere Eigenheit entwickelt und überzeugt mit formschönen Pirouetten, die er während des Anlaufs dreht. Fetti hat ein Herz für zwangsgestörte Menschen und nachdem wir vor einigen Tagen im Fernsehprogramm eines Pubs auf die Krankheit „Dartitis“ (diese psychische Belastung erschwert es ungelogen, den Pfeil im richtigen Moment des Abwurfs loszulassen) aufmerksam gemacht worden sind, muss man hier womöglich von „Abstoßtitis“ sprechen. Sei es wie es sei. FUDU vergibt für diese Macke in Vollendung jedenfalls die maximale Punktzahl. Die Werbebanden sind übersät mit Angeboten einer Billigfluglinie, die der alte Mann vor uns argwöhnisch durch seine dicken Brillengläser beäugt. Gibt in Doncaster offensichtlich nichts attraktiveres, als möglichst schnell möglichst weit weg zu kommen. Nach Abpfiff steht der alte Mann auf, vergisst seinen Krückstock und beginnt, die Treppen hinab zu schreiten. Halleluja. Er kann wieder gehen! Oder: Wer braucht schon einen Schönheitschirurgen, wenn Fetti der Wunderheiler in der Nähe ist?
Nachdem wir im „Wetherspoons“ noch einen Absacker genommen haben und darüber aufgeklärt worden sind, dass die Europäische Union britische Fische stiehlt und der Eigner der Supermarktkette „Sainsbury’s“ so eine Art Volksverräter ist, sprinten wir zum Bahnhof, um unseren 23.25 Uhr Zug zurück nach Sheffield zu erwischen. Im Zug gibt es betrunkene Männer, Schmetterlingstattoos auf welken Oberarmen, meterweite Zahnlücken, Cider aus Dosen und nicht eine einzige Frau mit vernünftigen Augenbrauen. Und plötzlich ist allen klar, womit man als Schönheitschirurg in Großbritannien wohl das meiste Geld verdienen könnte: Komplett Gesichtsentfernung. Necessity begets ingenuity! /hvg
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