461 461 FUDUTOURS International 21.11.24 10:24:29

04.05.2019 FC Gießen – FSV Lohfelden 1924 2:1 (0:1) / Waldstadion Gießen / 1.173 Zs.

Um 11.34 Uhr sitzen Fetti und seine Freunde in der „Vogelsbergbahn“, die die 105,9 Kilometer entfernten Städte Fulda und Gießen direkt miteinander verbindet. Bahnnostalgiker kommen auf der eingleisigen Strecke, die illustre und dicht besiedelte Orte wie Oberbimbach (Funfact am Rande – den Ort Oberbimbach gibt es seit einer Gebietsreform in den 70er Jahren und des Zusammenschlusses der Orte Ober- und Unterbimbach zu Bimbach gar nicht mehr, nur der Bahnhof heißt noch so), Burg- und Nieder-Gemünden (zwei Orte, ein Bahnhof – manchmal muss man auch teilen können), Mücke und Göbelnrod anfährt, vollends auf ihre Kosten. Wenn man im Verlauf der Reise den einen oder anderen Bahnmitarbeiter sieht, wie dieser im Schweiße seines Angesichts manuell Weichen stellen und Bahnschranken herunterkurbeln muss, wähnt man sich kurz im wilden Osteuropa. Aber nein, wir sind hier immer noch im Lande des Innovations-Vize-Weltmeisters mit „herausragend hoher Hightech-Dichte“ unterwegs. Auch in den alten Bundesländern gibt es also abgehängte Regionen, in denen das im Alltag nicht immer unbedingt mit jeder Faser des Körpers spürbar ist…

Kurz nach diesen Beobachtungen sind wir auch schon in der Universitätsstadt Gießen angekommen und haben unserer neuen Übergangsheimat schnell einen Kosenamen verpasst. „Die Stadt der studentischen Brillengestelle“ kann eine überlaufene Fußgängerzone sein Eigen nennen und mag sicherlich die eine oder andere passable Touristenattraktion zu bieten haben (Altes Schloss, Neues Schloss, Zeughaus, Stadttheater), für deren Besichtigung wir heute allerdings nicht genügend Zeit mit im Gepäck haben. Ein digitales Werbeplakat an einer Rolltreppe weist auf das wichtige Fußballspiel des heutigen Nachmittags hin, welches auch der Grund dafür ist, dass unsere zeitlichen Ressourcen eher spärlich gesät sind. Wir konzentrieren uns daher vorerst auf die „wuchtige Fußgängerüberführung am Selterstor“, die 1968 errichtet wurde, um auch nicht-motorisierten Verkehrsteilnehmern eine Überlebensmöglichkeit einzuberaumen. Eben ein klassisches Abfallprodukt einer Städteplanung, die in den 60er und 70er Jahren ausschließlich den Autoverkehr in den Fokus nahm. Aber wenn dieses dann auch noch architektonisch derart misslungen ist, dass es zu einem regelrechten Störfaktor des Stadtbilds wird, muss man sich als Einwohner eben in Sarkasmus flüchten. So bezeichnen die Gießener das Bauwerk wegen seiner übertriebenen Größe und der drei großen kreisrunden Öffnungen oberhalb der Kreuzung als „Elefantenklo“ und schon ist für FUDU eine Sehenswürdigkeit daraus geworden.

Allgegenwärtig ist die Figur des „Schlammbeiser“. Auf Werbeplakaten für ein Bier, als Statue auf dem Kirchplatz. Der Begriff geht zurück auf das „Schlamp-Eisen“, ein Werkzeug eines Kanalreinigers („Schlamp-Eissers“), der – bevor es geschlossene Kanalisationen gab – den Müll und Schmutz der Häuser („Schlammp“) mit einer langen Eisenstange („Eisen“) holte und mit Holzkarren außerhalb des Ortes entsorgte. Zwischen den Häusern gab es oft kleine Gassen, in denen Kübel standen. In dem Freiraum über diesen Gassen hingen die Aborte der Häuser. Die Schlammbeiser zogen mit ihren langen Stangen die Kübel aus den kleinen Gassen heraus und leerten sie, sagt Wikipedia und später werden wir ein solches Bier auf dem Weg nach Darmstadt verköstigen.

Jetzt aber haben wir noch gerade genügend Zeit, um in die Falle zu tappen, in die uns ein Werbeplakat am Hauptbahnhof gelockt hatte. „Pitta Gyros bietet Ihnen schon seit 1982 hausgemachte griechische Spezialitäten in frischer Top-Qualität“ – na, dann mal nichts wie hin. Das „Gyros to go“ kostet dann zwar 7 € statt der versprochenen 4,50 € und ist unterwegs in etwa so bequem zu essen wie Erbsensuppe aus der hohlen Faust, schmeckt aber fantastisch und wirft wieder einmal die Frage auf, warum es in Berlin nicht eine einzige griechische Imbissbude gibt. Auf diese Marktlücke muss doch irgendwann mal jemand stoßen…

Nach einem knapp 30 minütigem Spaziergang haben wir das „Waldstadion Gießen“ einigermaßen unbekleckert erreicht. Der Andrang am Kassenhäuschen hält sich eine halbe Stunde vor Anpfiff noch in Grenzen und so haben wir die Stadiontore für 7 € schnell passiert und können einen ersten Blick in die Spielstätte werfen. Die Sonne scheint, es gibt wunderbare Stehränge auf der Geraden, eine kleine überdachte Haupttribüne mit 645 Schalensitzen und weitere Stehplätze links und rechts neben dieser, eine weitläufige Rasenfläche hinter dem einen Tor und viel Wald drumherum – kurzum: ein schöner Ort, um Fußball zu spielen. Seit der Saison 2018/19 trägt der ambitionierte FC Gießen (Zusammenschluss aus VfB Gießen 1900 und SC Teutonia Watzenborn-Steinberg, Gründung 2018) seine Heimspiele im Herzen Gießens aus, wodurch sich die Stadt nun die Chance verspricht, „das Waldstadion den aktuellen Anforderungen für höherklassigen Fußball anzupassen.“ – bedeutet übersetzt also, dass das Stadion nicht mehr all zu lange so schön anzusehen sein wird. Als erster Vorbote auf das, was noch so kommen dürfte, darf der Jahrmarkt gedeutet werden, den der FC Gießen heute zum Entertainment seiner Gäste hinter dem anderen Tor aufgebaut hat. Folgen werden wohl Zäune vor der Geraden, Blocktrennung, Stahlrohrtribünen zur Kapazitätserhöhung und weitere furchtbare Dinge, über die ich jetzt gar nicht weiter nachdenken mag.

Pünktlich um 15.00 Uhr eröffnet Schiedsrichter Christoffer Reimund die Partie. Hier ist heute kein Rahmen für jedwede Verzögerungen im Betriebsablauf, schließlich überträgt der „Hessische Rundfunk“ die Partie live und in Farbe auf „Hessenschau online“. Da kann man dann auch keine Rücksicht mehr drauf nehmen, dass noch technisches Equipment auf Höhe der Eckfahne auf dem Rasen herumsteht, während der Ball bereits rollt. Irgendwann ist aber auch die Anmoderation endlich im Kasten und die Herren des Senders bequemen sich, ihre sieben Sachen zusammen zu sammeln.

Auf dem Platz scheinen sich auch die Hausherren zunächst etwas sammeln zu müssen. Obwohl man die Oberliga Hessen souverän anführt und erfahrene Spieler wie Frederic Löhe, Kevin Nennhuber und allen voran Michael Fink mit seinen 37 Jahren und stolzen 137 Bundesligaspielen, 73 Zweitligaeinsätzen und 66 Schlachten in der „Süper Lig“ auf dem Buckel, in seinen Reihen weiß, ist heute eine gewisse Nervosität nicht zu leugnen. Nach Kassels Ausrutscher am gestrigen Freitag in Fulda (FUDUTOURS berichtete) kann der FC Gießen am 31. Spieltag historisches schaffen: Bereits mit einem Remis wäre der Aufstieg in die Regionalliga Südwest nach Menschengedenken gesichert (aufgrund einer wesentlich besseren Tordifferenz gegenüber der „Verfolger“ aus Kassel und Alzenau). Bei einem Heimsieg wäre den neugegründeten Gießenern die Meisterschaft auch rechnerisch nicht mehr zu nehmen. Einer Ehrung mit der Meisterschale und einer großen Aufstiegsfeier würde hier nichts mehr im Wege stehen. FUDU hofft auf Freibier und drückt dem FC die Daumen.

Nach gerade einmal zehn Minuten hat sich auch Löhe von der Nervosität seiner Vorderleute anstecken lassen. Eine furchtbar verunglückte Rückpass-Bogenlampe von Nennhuber verspringt ihm bei der Annahme, den daraus resultierenden ersten Abschlussversuch der Lohfelder kann Löhe noch gerade ebenso abwehren, doch gegen den zweiten Versuch von Nasuf Zukorlic, den Ball ins mehr oder minder leere Tor zu schieben, ist der ehemalige Drittligakeeper aus Sandhausen und Babelsberg machtlos. Na, das geht ja gar nicht gut los.

Passend zur Laune der immerhin 1.173 Zuschauer verfinstert sich nun auch das Wetter. Dunkle Wolken sind über das „Waldstadion“ gezogen, während sich die Atmosphäre im Stadion trotz Aufstiegskampf nun in etwa auf Dorfplatzniveau einpendelt. Auch der grundsympathische Kaffee- und Kuchenverkauf vor den Kabinen erinnert eher an Kreisliga, denn an Regionalliga, dennoch (oder gerade deswegen) tun wir den Kuchenmuttis nach 25 Minuten den Gefallen und bestellen im Kampf gegen den auffrischenden Wind etwas Erwärmendes. Die Einnahmen werden nicht etwa zur Aufstellung des Regionalligaetats benötigt, sondern für den Bau von Schulen in Sierra Leone. Für solch edle Spendenaktionen trinkt dann auch Fetti Leone gerne mal einen Stadionkaffee.

Auf dem Rasen hat der FC Gießen so langsam ins Spiel gefunden, während das Wetter immer noch fleißig hin- und herflippert. In klassischer Aprilwetter-Manier geben sich Sonne, Wind, Wolken, Regen und Sonne quasi im Fünfminutentakt die Klinke in die Hand und gerade ist wieder einmal eine vielversprechende Flanke von Alban Lekaj verpufft. Offensiv nun etwas agiler, lässt der FC Gießen in der Defensive aber jegliche Ordnung vermissen. Nach einer guten halben Stunde reicht ein öffnender Pass aus der Tiefe, um Zehner Zukorlic glänzend in Position zu bringen, doch jagt dieser den Ball völlig unbedrängt weit über das Tor und hinein in den Stadtwald. Keine zwei Minuten später hätten sich die Gäste für einen wunderbar vorgetragenen Angriff über die linke Seite belohnen müssen. Dieses Mal ist es Stoßstürmer Tjarde Bandowski, der in aussichtsreicher Position nur die Latte trifft. Die letzte Viertelstunde der Partie verstreicht ereignisreich und mit einem beinahe schmeichelhaften 0:1 rettet sich der Titelanwärter in die Kabinen.

Die Pause nutzt Trainer Daniyel Cimen für einen Doppelwechsel. Wohl dem, der in der Oberliga auf solch einen Kader zurückgreifen kann, dass man so einen Mann wie Markus Müller von der Bank bringen kann. Der Eberswalder steht immerhin bereits bei 13 Saisontreffern und hat in seiner Vita u.a. 31 Regionalligatore für Offenbach und 16 Drittligatreffer für Babelsberg stehen. So einer wird fünftklassig sicherlich noch einmal für Furore sorgen können…

Zunächst einmal ist es jedoch Löhe, der noch einmal Harakiri spielt und ein weiterer katastrophaler Fehlpass im Spielaufbau bringt Lohfelden in Stellung. Die Gäste sind aber längst nicht mehr so zielstrebig wie im ersten Spielabschnitt und die Hausherren übernehmen nach und nach das Kommando. Stimmungsmäßig tut der Stadionsprecher selbiges, der den trägen Gießener Haufen nach Verkündigung der Zuschauerzahl zu animieren versucht, hiermit zunächst aber scheitert.

Nach gut einer Stunde ist der Bann endlich gebrochen und eine der vielzähligen guten Flanken von Alban Lekaj findet in Damjan Marceta endlich einmal einen Abnehmer, der den Ball aus Nahdistanz einnicken kann. Nun wechselt Lohfelden doppelt, bringt hierdurch aber eher weitere Unruhe in das eigene Spiel und Gießen drückt auf das Tempo und das 2:1: Antonaci scheitert an Gästekeeper Zunker (62.) und Marceta trifft im Nachschuss etwas überhastet nur das Außennetz, nachdem er im ersten Anlauf per Kopf gescheitert war (65.). Der Stadionsprecher versucht weiterhin Aufstiegsstimmung zu generieren, die geschriene Frage „Gießen, wo seid ihr?“ hat durchaus ihre Daseinsberechtigung, aber keinen spürbaren Effekt.

Gießen bringt die eigene Spielidee mit neuem Personal und veränderter Grundformation deutlich besser auf den Platz und schnürt seinen Gegner weiter hinten ein. In der 77. Minute scheitert Fink, der den Ball nach etwas Ping-Pong im Strafraum urplötzlich auf dem Fuß hatte, aus der Drehung am glänzend aufgelegten Zunker. Vier Minuten später vergibt Müller die nächste große Gelegenheit – sein Abschluss rauscht nur knapp am langen Pfosten vorbei. Auch der Stadionsprecher wird nun energischer und bringt es auf den Punkt: „Gießen, Ihr seid zu leise!“. Nur noch neun Minuten zu spielen, die Gäste haben ordentlich Beton angerührt und Fetti, der bereits etwas traurig durch das Programmheft blättert, sieht seine Freibierchancen schwinden.

Dann aber fasst sich Johannes Hofmann ein Herz und nagelt den Ball in der 88. Minute aus gut 20 Metern in den Knick. Näher an das Tor wäre der FC Gießen heute auch nicht mehr herangekommen. Endlich brandet Jubel im weiten Rund auf, der aber schnell wieder verebbt.

Bereits die Aufstiegsfeier im direkten Anschluss darf emotional als halbgar beschrieben werden, obwohl der Hessische Fußballverband eine recht ansehnliche Schale überreicht und die Übergabe professionell vorbereitet wirkt. Verbandspräsident Reuß freut sich in seiner Rede diebisch, dass „das Konstrukt in Gießen so gut angenommen wurde“ und meint dies als aufrichtiges Lob und als solches wird es vom Publikum auch aufgefasst. Soweit ist es mit Fußballdeutschland im Jahre 2019 also schon gekommen – das Wort Konstrukt auch einfach mal positiv besetzen! Klar, dass man von so einem Verein dann auch nicht mehr zu erwarten hat, als einen Jahrmarkt hinter dem Tor, einen schreienden Stadionsprecher und eine Aufstiegsfeier mit 20 Mann auf dem Platz.

Immerhin schreit der Schreihals nur noch einmal und das was er schreit, ist wie Musik für FUDUs Ohren. Es gibt 200 Liter Freiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiibiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiier! Klar, dass wir da noch ein wenig im Stadion verweilen, um mit den 50 Fans, die nicht sofort nach Hause eilen, den Aufstieg begießen zu können. In der Regionalliga Südwest starten in der kommenden Saison wirklich viele Traditionsvereine. Und der FC Gießen. In einem noch schönen Stadion. /hvg