Posted on Oktober 22, 2016
22.10.2016 FK Mladá Boleslav – FC Zbrojovka Brno 3:3 (1:1) / Městský stadion / 2.931 Zs.
Am frühen Samstagmorgen erreiche ich den Dresdner Hauptbahnhof. Gestern hatte ich den ECC Preussen Berlin im Wurmbergstadion zu Braunlage gesehen und anschließend beim armen Ritter im thüringischen Apolda übernachtet. Nun steht Danger-Mike mit seinem weißen Kleinwagengeschoss zur Weiterreise nach Tschechien bereit. Schön, wenn man nach dem ersten Absatz noch nicht genau einschätzen kann, ob es sich bei dem folgenden Text um einen Erlebnisbericht oder eine Fluchtbiographie handeln wird.
Die 200 Kilometer Fahrtstrecke nach Mladá Boleslav (oder sächsich: Jungbunzlau) sind laut googlemaps in etwa zwei Stunden zurückzulegen. Ohne den Wirtschaftsflüchtling, der einmal mehr verschlafen und daher in München seinen Flug verpasst hat, erfreuen wir uns zunächst über die entspannte Anreise auf deutschem Straßenbelag. Hinter der Grenze wird es dann auf den kleinen Landstraßen, die nach Mladá Boleslav führen, recht bald ziemlich abenteuerlich. Nachdem uns der erste tschechische Waldschrat, der mit seinem Gewehr am Straßenrand herumlungert, noch einen kurzen Schrecken einjagen kann, wird der Anblick zeitnah zur Gewohnheit. In jedem kleinen Dorf schleichen alte Männer zwischen den Bäumen und Gebüschen herum, den Blick auf die offene Wiese rechts von uns gerichtet, stets die Wumme im Anschlag. Ich weiß leider nicht, wie man in Tschechien zum fröhlichen „Halali“ bläst. Wie dem auch sei, es ist jedenfalls Treibjagd.
Die Straßenverhältnisse werden zusehends schlechter und der kleine Flitzer quält sich bei Temperaturen von knapp über drei Grad Celcius über unbefestigte Dorfstraßen und durch diverse Schlaglöcher. Akribisch gearbeitet hat die Zunft der tschechischen Straßenbauer, die immerhin eben jene Schlaglöcher, die groß genug sind, um Kinder verschwinden zu lassen, abgesichert hat. Der Tscheche an sich tut dies, indem er faustgroße Steine neonfarben ansprüht und diese um die Löcher herum drapiert. Gerne auch direkt hinter einer Spitzkehre. Sicherheit wird hier eben groß geschrieben. Ist ja auch ein Nomen.
Irgendwann sind wir dann gesund und munter in Mladá Boleslav angekommen und haben bereits jetzt festgelegt, dass wir nach dem Spiel einen anderen Weg zurückfahren werden, da wir den bunten Steinen keinen phosphoreszierenden Effekt zutrauen und den Wagen in der Abenddämmerung nicht in der Grube versenken mögen. Nachdem das Auto geparkt und der Wirtschaftsflüchtling eingesammelt ist, verschaffen wir uns erste Eindrücke der Stadt.
Wie oft hat FUDU bereits in Tschechien Station gemacht, ohne sich vorher über die bereisten Städte zu informieren? Bislang wurde immer blindlings auf den Spielplan getippt und so u.a. Reisen nach České Budějovice (Budweis), Brno (Brünn), Olomouc (Olmütz) oder Plzeň (Pilsen) initiiert. Jedes Mal war man hierbei mit dem Glück im Bunde und konnte konstatieren: wirklich schöne und sehenswerte Städte!
Mladá Boleslav ist keine dieser Städte.
Erfrischendes Plattenbaugrau dominiert das Bild der mittelböhmischen Stadt mit gerade einmal 44.000 Einwohnern und auch die Stadtteile verfügen über blumige Namen: Mladá Boleslav I, Mladá Boleslav II, Mladá Boleslav III, Mladá Boleslav IV. In irgendeinem dieser Stadtbezirke hat der Autobauer Škoda seinen Sitz und gut 50% der Einwohner Mladá Boleslavs arbeiten im größten Werk Tschechiens, welches sich ebenfalls hier vor Ort befindet. Um Gottes Willen, wir sind aus Versehen im Wolfsburg der Tschechischen Republik gelandet. Glad you came here in winter!
Auch unserem ausgeklügelten Plan, uns in einer urigen tschechischen Pinte mit Pivo und Braten über die Hässlichkeit der Stadt hinwegzutrösten, weiß Mladá Boleslav einen Riegel vorzuschieben. In Nähe des Stadions ist die Gaststättendichte erschreckend gering und die wenigen Lokale, die wir auffinden, öffnen ihre Pforten erst in den Abendstunden. So fällt die Wahl gezwungenermaßen auf den einzig geöffneten Gastronomiebetrieb. And the winner is: The American Westernsaloon.
In dem menschenleeren Kellerlokal riecht es nach feuchter Wand und auch der Gesichtsausdruck der Dame hinter dem Tresen lässt nicht darauf schließen, dass Gäste an diesem Ort besonders herzlich Willkommen wären. Mit zwei-drei Brocken tschechisch hat Danger-Mike das Eis jedoch schnell gebrochen und die Reisegruppe erhält immerhin leckeres Pivo vom Hahn, verzichtet jedoch angesichts der belanglosen Speisekarte auf Nahrungsaufnahme.
Diese wird dann nur unwesentlich später auf der anderen Straßenseite vorgenommen. Direkt nach dem Eintrittskartenkauf steuert FUDU zielstrebig die Klobásabude des Stadion Městský an. Jetzt nur nicht negativ auffallen, denkt sich Fetti und bezahlt die 25-Kronen-Wurst zur Freude der Kassiererin mit einem 1000-CZK-Schein. Die Wurst wird dann liebevoll mit einer Scheibe Brot UND auf einem Teller gereicht. Mehr Dekadenz geht nicht.
Das Spiel beginnt. Das kalte Bier kühlt die ohnehin kalten Finger zusätzlich durch. Das Stadion besticht durch sein hellblaues Plastikdach in Wellblechoptik und den so entstehenden Schrebergartencharme. Die unbebaute Seite zu unserer linken vermag es, das Erlebnis Mladá Boleslav optisch zu subsumieren: Škoda und Plattenbau. Glücklicherweise bieten die Akteure in diesem trostlosen Ambiente auf dem grünen Rasen ein erwärmendes Spektakel mit unzähligen Angriffen und Torabschlüssen.
Der Tabellenführer aus Mladá Boleslav tut sich mit den frech aufspielenden Gästen aus dem unteren Tabellenmittelfeld überraschend schwer. In der Tat reiben sich einige der 2.931 Zuschauer verwundert die Augen, als der Außenseiter nach 18 Minuten in Führung geht. Auch die ältere Dame neben mir schimpft nun wie ein Rohrspatz. Sehr schade übrigens, dass es rechtlich nicht möglich ist, Großmütter zu adoptieren. Wie gerne hätte ich eine Oma, die sich Samstagabend bei drei Grad mit Sneakern ins Stadion setzt und effektvoll ihre Umbro-Socken präsentiert. Grannys, die den Swag aufdrehen! Andererseits: Vielleicht ist das hier gar keine Oma, sondern einfach bloß eine 35-jährige Einwohnerin Mladá Boleslavs nach 17 Jahren Schicht im Škoda-Werk.
Nach einer guten halben Stunde gelingt den blau-weißen Hausherren der Ausgleich. Jeden-Jeden! Mit einem gerechten Remis gehen beide Mannschaften in die Katakomben, wobei der FC Zbrojovka Brno von seinen 70 mitgereisten Anhängern bereits jetzt lautstark gefeiert wird.
In der zweiten Halbzeit bleibt das Spiel überaus kurzweilig. Nach einer Stunde bringt Douglas da Silva etwas brasilianisches Flair auf den Platz und seine Farben in Führung. Nun scheint der Favorit aus Mladá Boleslav in Führung liegend das Heft des Handelns etwas kontrollierter in die Hand nehmen zu können, ehe dem hölzernen Außenverteidiger mit dem großartigen Namen Fleišman zehn Minuten später wie aus dem Nichts heraus ein Eigentor unterläuft. Dva-Dva!
Bei den Gästen versucht der aus den deutschen Ligen wohlbekannte Jan Polák, der am Ende seiner Karriere noch einmal die Schuhe für seinen Heimatverein schnürt, den Laden im Mittelfeld zusammenzuhalten, doch der Tabellenführer drängt nun mit aller Macht auf die Führung. Nach 79 Minuten gelingt dem nun deutlich überlegenen Favoriten genau das, doch der tapfere Außenseiter aus Brno gibt sich nicht geschlagen und nimmt weiterhin erfrischend offensiv am Spiel teil. Der FKMB tut alles, was in seiner Macht steht, wechselt sogar Stanislav Klobása ein, um das Ergebnis über die Zeit zu bringen. Mit dem letzten Angriff der Partie erzielt Michal Škoda („ausgerechnet Škoda“, werden sie im tschechischen TV sagen…) dann aber doch noch den viel umjubelten und letztlich verdienten Ausgleich. Tři-Tři!
Halb erfroren, aber doch bestens unterhalten, machen wir uns auf den Rückweg nach Sachsen. In Petrovice kehren wir im „Restaurace U Jelena“ (Restaurant zum Hirschen) ein und holen endlich das nach, was uns in Mladá Boleslav verwehrt geblieben war. Ach, es geht doch nichts über eine schöne Völlerei am späten Abend…
Gut gesättigt brausen wir im Anschluss weiter durch den Abend. Kaum habe mich gedanklich damit auseinandergesetzt, morgen in Aue im wunderschönen Erzgebirge Station zu machen, überfällt mich ein Ohrwurm. „Das Leben auf der Flucht is‘ auch manchmal schön, man muss gewisse Orte nur einmal sehn“. Haste schön gesagt, Rainald. /hvg
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