357 357 FUDUTOURS International 19.04.24 04:34:40

26.03.2017 Vicenza Calcio – Brescia Calcio 1:1 (1:1) / Stadio Romeo Menti / 8.175 Zs.

Kaum haben wir den Bahnhof von Piacenza erreicht, wird uns auch schon der erste italienische Moment des Tages geschenkt. Während wir die ersten Sonnenstrahlen auf unserem Gleis genießen, sprintet nebenan ein Mitarbeiter der Trenitalia hektisch über die Schienen hinüber zum Binario Uno, auf dem der Zug bereits zur Abfahrt bereit steht. In einer wunderbaren Parallelmontage hätte man filmisch festhalten können, wie der Zugbegleiter im Schweiße seines Angesichts auf die Plattform klettert und sich wenige Meter von ihm entfernt der Zug in Bewegung setzt. Vaffanculo, Zug verpasst, aber ohnehin sollte kein Mensch der Welt sonntags arbeiten müssen!

Kurz darauf nehmen wir tiefenentspannt Platz in unserer Bahn, die uns nach Milano kutschieren wird. Eine Stunde später kann FUDU die unsägliche Regionalbahn verlassen und endlich in ein Reisemittel umsteigen, welches sämtliche Komfortansprüche zu erfüllen versteht. Im Hochgeschwindigkeitszug „Frecciarossa“ zaubert uns dann der Wetterbericht, der über die Informationsmonitore im Abteil präsentiert wird, erste Sorgenfalten auf die Stirn. Angeblich haben wir im knapp 90 Minuten entfernten Vicenza 12 Grad und Dauerregen zu erwarten.

Je näher wir unserem Ziel kommen, desto weniger schenken wir dieser Prognose glauben. Stetiger Sonnenschein begleitet uns auf unserer Fahrt und auch als der Zug gegen 11.30 Uhr in Vicenza einrollt, hat sich an dieser Sachlage nichts geändert. Bei angenehmen 17 Grad und strahlendem Sonnenschein beginnen wir mit der Erkundung der kleinen Stadt, die in etwa 60 Kilometer von Venezia entfernt liegt.

Abermals hatte sich FUDU nicht sonderlich viele Gedanken über das Reiseziel gemacht. Dieses Mal darf man jedoch endlich einmal wieder getrost von einem Volltreffer sprechen. Bereits die erste Straße, die vom Bahnhof in Richtung Innenstadt führt, ist sehr belebt. Heute findet hier eine Art Straßenfest mit lukullischen Spezialitäten aus aller Herren Länder statt. Dem italienischen Renaissance-Architekten Andrea Palladio haben wir es kurz darauf zu verdanken, durch eine sehr attraktive Innenstadt flanieren zu dürfen. Die Stadt Vicenza hat eben jenem Palladio hingegen zu verdanken, auf der Liste der UNESCO-Weltkulturerbe geführt zu werden. Wir fühlen uns angesichts der wunderbaren Bauten und engen Gassen endlich in unserem geliebten Italien angekommen. In dem kleinen Tourismusbüro direkt neben dem Teatro Olimpico, seines Zeichens das erste freistehende nachantike Theatergebäude Europas, ist man so freundlich und nimmt uns unsere Rucksäcke zur kostenfreien Gepäckaufbewahrung ab.

Deutlich entlastet kehren wir wenig später auf der Terrasse eines kleinen Lokals ein. Zunächst einmal wird uns die Kehrseite der Medaille aufgezeigt, heute in einer sehenswerten Stadt zu Gast zu sein. Wann immer man sich in wirklich hässlichen Städten befindet, die außer Fußball nichts vorzuzeigen haben und die auf keiner spektakulären Liste geführt werden, hat man eines mit Gewissheit: seine Ruhe. Hier dauert es jedoch keine fünf Minuten, bis der Nachbartisch durch eine deutsche Rentnergruppe besetzt wird. Und, wenn man im Ausland eines nicht ertragen kann, dann sind das wohl deutsche Touristengruppen, die ihre belanglosen Themen in einer Sprache kund tun, die man versteht. Zu allem Überfluss ziehen langsam mehr und mehr Wolken auf und verdunkeln den Himmel. Immer diese scheiß Zugezogenen!

Nachdem wir das solide hausgemachte und per Mikrowelle erwärmte Mittagessen verspeist haben, ist es auch bereits an der Zeit, zum örtlichen Fußballstadion aufzubrechen. Dieses liegt gerade einmal einen Kilometer von der Innenstadt entfernt und kann in wenigen Minuten per Fuß erreicht werden. Dennoch reicht die Strecke, um auch ein anderes Bild der venezianischen Stadt mit 112.000 Einwohnern zu erhalten. An der einen oder anderen Stelle bröckelt der Putz dann doch bedenklich und der Vorzeige- und Wohlfühlcharakter schwindet. Ein Umstand, den die etwas heruntergekommenen Mitglieder unserer Reisegruppe nur immer und immer wieder begrüßen können.

Vor dem Stadio Romeo Menti werden die FUDU-Jünger von einem Bild empfangen, welches man getrost mit „Take Me To The Riot“ der kanadischen Band „Stars“ hätte musikalisch unterlegen können. Im Polizeimannschaftswagen sitzt ein Carabinieri mit einer blutenden Kopfwunde und keine 60 Zentimeter neben ihm lässt sich ein Fan, ebenfalls mit einer Platzwunde im Gesicht, von einem Sanitäter behandeln. FUDU ist nun gleichermaßen elektrisiert wie wachsam und schleicht mit dieser knisternden Grundspannung fotografierend um das wunderschöne Stadion herum. Eine halbe Stadionrunde später ist nach der Feststellung, dass alle Kassenhäuschen verschlossen bzw. nur zwecks Abgabe reservierter Karten geöffnet sind, dann auch ermittelt, an welchem Ort man hier Eintrittskarten käuflich erwerben kann. Wir entern ein kleines Büro, das niedlicher und uriger wohl kaum sein könnte. Es hängen Familienfotos an den Wänden und an dem Schreibtisch aus dunklem Massivholz, dekoriert mit einer unnachahmlich schönen Spitzentischdecke, sitzt eine Großmutter und wartet auf eingehende Kartenbestellungen, während die Tochter im Hinterzimmer mit dem Drucker kämpft. Chi va piano, va sano e lontano!

Die Kommunikation mit der älteren Dame geht dann mit Hand und Fuß von statten. Auf dem Stadionplan wird schnell ersichtlich, dass Vicenza Calcio seine Preispolitik offenbar seit mehreren Jahren nicht an die sportliche Situation angepasst hat. Die Preise scheinen jedenfalls eher zur Saison 1997/98 zu passen, in der Vicenza zunächst die Coppa Italia gewinnen und dann im Europapokal der Pokalsieger bis in das Halbfinale vordringen konnte (kleiner Gruß hinüber nach Kerkrade: im Viertelfinale wurde Roda mit 4:1 und 5:0 bezwungen!), als zur heute misslichen Lage in den unteren Tabellenregionen der Serie B. Wir entscheiden uns für 30 € teure Tickets auf der Tribuna Laterale und somit für das mittlere Preissegment. Auf der Fantribüne für 15 € haben wir nichts verloren und noch einmal 15 € mehr bezahlen, nur um ein Dach über dem Kopf zu haben, ist angesichts der noch immer einigermaßen stabilen Wetterverhältnisse auch keine überzeugende Option. Im Hintergrund rattern unsere Billets aus dem Drucker und währenddessen wird Nadjuschka abermals zur Gewinnerin des Nachmittags gekürt, da sie erneut 10 € Rabatt aufgrund ihres Geschlechts erhält. Donnawetter!

Erste Durchsagen in Ohrenschmerzen verursachender Tonqualität im Stile „Bahnhofswartehalle 1974“ oder „Transistorradio 1954“ hallen blechern durch das Stadion, welches schöner kaum sein könnte. Die beiden Stehtribünen hinter den Toren, die steile, ebenfalls unüberdachte Gegengerade, die alte Haupttribüne, die Flutlichtmasten, die Nähe zum Spielfeld – könnte es wichtigere Attribute geben, um bereits jetzt von einem gelungenen Ausflug zu sprechen?

Kurz vor dem Anpfiff dreht der Stadion-DJ völlig an den Knöpfen und legt mit gefühlten 1000 Dezibel klassische Musik auf. Während wir nur etwas verwundert Notiz davon nehmen, dürfte dieses außergewöhnliche Ritual ins Besondere den Rollstuhlfahrern, welche ihren Standpunkt direkt neben einer überdimensionierten Lautsprecheranlage gefunden haben, größere Sorgen bereiten.

Auf dem von irgendwelchen Schädlingen oder Bleich- und Düngemitteln schwer in Mitleidenschaft gezogenen Camouflagerasen stehen sich heute Vicenza Calcio und Brescia Calcio gegenüber. Selbige Partie konnte ich in der Saison 2015/16 bereits über Kreuz in Brescia erleben und weiß in etwa abzuschätzen, welche spielerische Qualität auf uns zukommen wird. Der Blick auf die Tabelle verspricht heute Abstiegskampf pur, da der 18. den 16. empfängt und beide deutlich um das Überleben in der zweiten Liga, welche 22 Teams führt und vier Abstiegsränge ihr eigen nennt, bangen müssen.

Das Spiel beginnt. Leichter Nieselregen setzt ein, der aber so dezent ist, dass man sich noch selbst die Taschen volllügen und von einer angenehmen Abkühlung sprechen kann. Fünfzehn Euro für das Tribünendach ist dieser Niederschlag jedenfalls bei weitem nicht wert. Ein betrunkener Fan im (mit gut 300 Mann gefüllten) Gästeblock zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, da dieser doch deutliche Schwierigkeiten hat, das Spiel souverän stehend zu erleben. Noch bevor sich der erste Höhepunkt auf dem Spielfeld ereignet, hat er sich auch schon am Rand des Gästeblocks sitzend niedergelassen, während die Gegengerade eine ansehnliche Regenschirmchoreographie vollführt, die nostalgische Gefühle an das Stadion An der Alten Försterei aufkeimen lassen.

Beide Mannschaften gehen wie die Furien aufeinander los. Das Spiel wird über die gesamte erste Halbzeit kurzweilig, athletisch, kampfbetont und rassig bleiben. Nach 25 Minuten haben beide Teams jedoch ihr Offensivpulver bereits verschossen. Zunächst geht das Gast aus Brescia nach einer Freistoßflanke von halb rechts nach gut einer Viertelstunde in Führung, wobei im Stadion nicht klar zu erkennen ist, ob Blanchard wirklich der Torschütze gewesen sein kann oder ob nicht vielmehr ein Verteidiger Vicenzas den Ball in das eigene Tor verlängert hatte. Nur zehn Minuten später sind all diese Diskussionen jedoch Makulatur, da Raffale Pucino das Spiel ausgleichen kann. Ein etwas sonderbarer „Mariachi-Torjingle“ wird dann glücklicherweise alsbald durch solide Pöbeleien von der Gegengerade gegenüber des Gästeblocks abgelöst.

In der Halbzeitpause pausiert in Vicenza nicht nur das Spiel, sondern auch alles andere. Namentlich: der Regen, Großteile des Publikums und der Stadion-DJ. So erfreuen wir uns an einer Viertelstunde beinahe absoluter Stille im Trockenen, die durch vier krakeelende Zuschauer der Gegengerade nur noch aufgewertet wird, indem sie immer mal wieder ein gastfreundliches „Bastardi“ nach Brescia rufen, welches von der Gegenseite jedoch unbeantwortet bleibt. Ist ja schließlich Pause.

Im zweiten Spielabschnitt bleibt das Spiel lebendig, doch nach den beiden letzten Großchancen Vicenzas nach 50 Minuten (ein vielversprechender Weitschuss, ein sehenswerter Fallrückzieher) beschränkt man sich fußballerisch auf zahlreiche Flanken aus dem Halbfeld, die beiderseits irgendwie zum Erfolg führen sollen. Trotz sinkender Qualität des Spiels gelingt es den Tifosi Vicenzas, das Spiel permanent akustisch zu begleiten. Einige melodische Gesänge werden in recht guter Lautstärke vorgetragen und werten das Stadionerlebnis weiter auf. In der Abwehr Vicenzas hält Cristian Zaccardo, ehemaliger Bundesligalegionär und Fußballweltmeister 2006, den Laden zusammen. Der betrunkene Fan aus Brescia hat sich in der Zwischenzeit im Gästeblock hingelegt und hält ein Nickerchen. Er verpasst, wie dem Spiel mehr und mehr die Ordnung flöten geht und die aus dem Mute der Verzweiflung getätigten Abschlussversuche aus abnormen Distanzen zunehmen.

Das Spiel steuert dem unvermeidlichen Unentschieden entgegen, als nach 80 Minuten ein Platzregen sondergleichen einsetzt. Der bei den Gästen eingewechselte Federico Bonazzoli hegt offenbar keine großen Ambitionen, hier einzuregnen und nass bis auf die Knochen die Heimreise anzutreten und so holt er sich nach einem robusten Einsteigen vier Minuten nach seiner Einwechslung die rote Karte ab.

Wir erleben die letzten Spielminuten und den Abpfiff bereits ordentlich durchnässt aus den Katakomben und warten dann einige Minuten, darauf hoffend, dass die sintflutartigen Regenfälle nachlassen mögen. Viel zeitlicher Spielraum besteht jedoch nicht, da unsere Rucksäcke vor Schließung des Tourismusbüros auf Abholung warten und da das FUDU-Pärchen gedenkt, um 18.00 Uhr mit der Bahn weiter nach Padova zu reisen, um dort das Abendspiel gegen Bassano Virtus zu erleben, während ich via Bergamo die Heimreise antreten muss.

Letztlich müssen wir uns wohl oder übel im strömenden Regen auf den Rückweg begeben und nehmen völlig durchweicht unsere Rucksäcke entgegen, welche den Transport zum Bahnhof alles andere als unbeschadet überstehen werden. Ich verabschiede mich von den beiden Padovanen, die sich ihrerseits bereits jetzt triefend von dem Gedanken verabschiedet haben, heute noch ein Spiel zu besuchen und stattdessen wohl eher im warmen Hotelzimmer verweilen werden.

Was für ein Luxusproblem das ist, stellt sich für mich nur wenig später heraus, als ich auf der Bahnhofstoilette herausgefunden habe, dass sämtliche Klamotten in meinem Rucksack ebenfalls auswringbar sind und es mir nicht gelingen wird, mir für meine gut dreistündige Wartezeit am Bahnhof etwas trockenes anzuziehen. Ich komme auf die glorreiche Idee, mir wenigstens meine Schuhe und Socken unter dem Handtrockner trocken zu föhnen und so röhrt die Maschine gut eine halbe Stunde lang im 20-Sekunden-Takt, bis mich ein neongelber Bahnhofsordner zur Rede stellt. Ich vermute aufgrund des Tonfalls und der Lautstärke, dass er mich soeben nicht zum weiteren Verweilen eingeladen hat, sondern seine Ansprache vielmehr die Wörter „Idiot“, „abhauen“ und „bescheuert“ enthalten haben könnte und verlasse die Szenerie, ohne die eigentlich fällige Gebühr von 0,60 € zu entrichten, was mir einen weiteren freundlichen Gruß von hinten einbringt.

Der warme Wartesaal des Bahnhofs von Vicenza hätte sicherlich Potential gehabt, die übrigen 2,5 Stunden abzureißen, doch leider findet an diesem Ort ausgerechnet heute die Jahreshauptversammlung der Stadtstreicher statt. Man gibt mir zu verstehen, dass ich zu dieser exklusiven Veranstaltung keine Zutrittsrechte besitze und so kehre ich in Ermangelung von Optionen im zugigen Bahnhofsbistro ein. Dort vertreibe mir frierend die nächste Zeit bei zwei 0,33 Liter Peroniflaschen à 3,50 €, bis ich um 20.30 Uhr aufgrund des Feierabends auch aus diesem Etablissement geschmissen werde.

Die letzten 30 Minuten sind auf dem Bahnsteig schnell zu Ende gefroren. Mein Zug nach Verona hat neun Minuten Verspätung, doch der Zug, in den ich in Verona umsteigen muss, glücklicherweise ebenfalls acht von der Sorte. Auf Nachfrage, ob ich den Umstieg in Verona schaffen kann, beruhigt mich der Schaffner, indem er sagt: „Maybe, but please be quick!“, was angesichts der letzten Zugverbindung des heutigen Tages nach Bergamo Motivation genug ist, meine ganze Sportlichkeit auf einmal auszuschütten und mit einem beherzten Sprint den „Frecciargento“ zu erreichen.

Irgendwann gegen Mitternacht habe ich vor meinem Hotel in Bergamo den Kampf gegen den Check-In-Terminal gewonnen und erfolgreich meinen Ausweis eingescanned, mit der Kreditkarte gezahlt und alle notwendigen Nummern zitternd eingetippt. Richtig stolz über den Erfolg über die Technik verteile ich meine nassen Klamotten kurz darauf großzügig im ganzen Raum und gönne mir eine warme Dusche. In sechs Stunden sollten wenigstens die wichtigen Kleidungsstücke getrocknet sein, da die frühe Weiterreise per RyanAir nach Berlin ansteht, um pünktlich auf der Arbeitsstelle erscheinen zu können. Vaffanculo – kein Mensch der Welt sollte montags arbeiten müssen! /hvg