973 973 FUDUTOURS International 18.04.24 19:43:37

17.04.2017 VfB Germania Halberstadt – BSG Chemie Leipzig 0:0 (0:0) / Friedensstadion / 2.003 Zs.

Glücklicherweise war das Spitzenspiel der NOFV-Oberliga-Süd am 12.02.2017 den schlechten Wetter- und Platzverhältnissen zum Opfer gefallen. Durch die Neuterminierung auf den Ostermontag trägt der nordostdeutsche Fußballverband nun dafür Sorge, dass der Auftakt in die Woche auch für Fetti zu einem echten Feiertag werden kann.

Nach einer kurzen Planungsphase über das Union-Forum stehen gleich vier Osterbrote mit unterschiedlich hoher Affinität zur BSG Chemie in Köpenick zur Abfahrt bereit, wovon mir eines persönlich unbekannt ist. Agent Orange steuert sein gleichfarbiges Gefährt kurz darauf sicher und zügig Richtung Halberstadt. Der 1.FC Union Berlin und dessen Saisonverlauf stellen während der Fahrt zunächst den monothematischen Aufhänger dar, ehe die Lümmel von der letzten Bank mit den beiden Altvorderen in ein kleines Streitgespräch über Fußballkultur und Fandasein geraten. Der Konflikt entfacht sich am Verhältnis von Teilen der Fanszene des 1.FC Union Berlin zu Fortuna Düsseldorf, welches der Beifahrer nicht verstehen kann und uns nun maßregelt, wie wir denn darauf kommen würden, den Verein mit dem Attribut „scheiß“ zu belegen, schließlich sei der Kern der Anhänger politisch sehr angenehm eingestellt. Es kommt, wie es kommen muss und flugs ist die Überleitung zu unseren „Freunden“ aus St. Pauli gelungen, die wir ebenso wenig mögen, was vorne rechts auf noch größeres Unverständnis stößt. Unsere Meinungen schlagen spätestens dann zwei verschiedene Pfade ein, als es darum geht, wie man sich auswärts zu verhalten habe. „Komplett in zivil gekleidet“ wir, „wie ein Weihnachtsbaum behangen“ er, „wer in fremden Städten so herumläuft, braucht sich nicht zu wundern, wenn er irgendwann einmal kassiert“ wir, „solche Leute mit solchen Gedanken machen den Fußball kaputt“ er.

Unser Diskussionspartner ist bedauerlicherweise nicht in der Lage, sich auf eine offene Diskussion einzulassen, im Zuge welcher man womöglich den einen oder anderen Standpunkt der Gegenseite an sich heranlassen und darüber reflektieren könnte. Nein, vielmehr haben wir es mit einem selbstgerechten Redner zu tun, der von oben herab seine absolut gesetzte Wahrheit auf uns zu übertragen gedenkt. Ich klinke mich aus dem immer anstrengender werdenden Gespräch aus und mache es mir stillschweigend auf meinem Pfad gemütlich. And that has made all the difference!

In knappen zweieinhalb Stunden ist das 200 Kilometer entfernte Halberstadt in Sachsen-Anhalt erreicht. Der Bolide wird unweit des wunderbar heruntergekommenen Kulturhauses der Harzer Kreisstadt geparkt. Angesichts der Information, dass 80% der Innenstadt durch einen Luftangriff am 08.04.1945 zerstört worden sind, verzichten wir heute auf eine Besichtigung der Innenstadt und begeben uns auf den direkten Weg ins Friedensstadion. Immerhin gibt es auf der kurzen Wegstrecke noch ein recht hübsches Bahnhofsgebäude des Haltepunkts „Spiegelsberge“ zu bewundern, welches in einer Neuverfilmung durchaus auch Pippi Langstrumpf ein zu Hause bieten könnte.

Bei strahlendem Sonnenschein haben wir schnell vier Eintrittskarten gekauft. Das Friedensstadion zu Halberstadt ist an zwei Seiten ausgebaut. Die Gäste können das Spiel stehend auf einer grünen Wiese und auf einigen Stufen auf der Gegengerade verfolgen. Die Heimzuschauer genießen den Luxus, auf einer kleinen und modernen Haupttribüne durch ein Dach vor Wind und Wetter geschützt zu werden. Neben der zweckmäßigen Tribüne befinden sich links und rechts weitere Stehplatzbereiche, ebenfalls moderner Bauart. Um einen guten Blick auf die Zuschauer der BSG Chemie Leipzig haben zu können, die heute mit gut 1.200 Schlachtenbummlern anreisen werden, entscheiden wir uns für die unüberdachten Stehplätze auf der Heimseite, welche die Hälfte der Autobesatzung selbstverständlich mit Union- und Chemieschals betritt. Ach, da komm‘ wa heute wohl nich‘ mehr zusamm‘!

Im Stadionumfeld werden Halberstädter Wurstspezialitäten feilgeboten. Im Vorfeld der Reise hatte sich Fetti häufig dabei ertappt, dieses youtube-Video in Endlosschleife zu schauen. Viel erotischer kann man Artgenossen aber auch wirklich nicht in Szene setzen und musikalisch begleiten! Dennoch zieht es ihn und seine Freunde heute zunächst zum Getränkestand. Dort liest der Verkäufer meine Gedanken, noch bevor ich mir vollumfänglich einen Überblick über das Elend verschaffen kann. „Ein Bier?“, fragt er, ich bestätige nickend und sehe erst dann, dass mehrere halb gefüllte Bierbecher in der Gegend herumstehen und nun von dem Harzer Barkeeper beherzt in einen größeren Becher zusammengeschüttet werden. Schaumparty in Halberstadt!

In einem nun etwas angenehmeren Gespräch lernen wir den Beifahrer etwas näher kennen. Es stellt sich heraus, dass ich seinen Bruder kenne, der im selben Stadtbezirk arbeitet. Die Welt der Sozialarbeiter ist klein! Kurz darauf erzählt er von seiner Arbeit an einer Berliner Schule und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und das Wort, das ich vorhin suchte, um seine Diskussionskultur zu umschreiben, wäre „oberlehrerhaft“ gewesen. Danke dafür!

Im Stadion begrüßt der Stadionsprecher mit einem anheimelnden „Willkommen allen, die Fußball arbeiten und nicht nur kaufen!“ seine Gäste. Die Hymne versetzt uns hingegen nicht vollends in Verzückung, was womöglich auch in der besungenen Kombination der Wörter „Germania“ und der Vereinsfarben „schwarz, weiß und rot“ begründet liegt. Umso schöner ist dafür das Backsteinuhrentürmchen zu unserer rechten, auf dessen Dach eine kleine elektronische Anzeige den Spielstand verkündet. Null:Null. Hoffentlich wird sich hieran im Verlauf der nächsten 90 Minuten etwas ändern…

Pünktlich zum Anpfiff setzt Regen ein, der im Verlauf der Partie immer mal wieder aufhören und wieder einsetzen wird. Dazu wechseln sonnige Episoden, wolkenverhangener Himmel und kalter Wind im Minutentakt und lassen die Reisegruppe in absoluter Unklarheit darüber, ob das heute ein schöner Tag sein kann oder nicht. Weniger abwechslungsreich stellt sich das Spiel auf dem grünen Rasen dar. Beide Mannschaften egalisieren sich im Mittelfeld und es erweckt doch ein wenig den Anschein, dass eine gewisse Vorsicht Angriffsbemühungen beider im Keim erstickt. Es könnte heute eine leichte Vorentscheidung im Aufstiegsrennen fallen und dieser Druck hemmt die Akteure sichtlich, die mit angezogener Handbremse agieren. Bei den Harzern ist die Trikotnummer 4 nicht vergeben und mir geht ein großartiger Wortwitz zur Aufwertung des Blogs flöten. Dafür starten die Germanen körperlich sehr robust ins Spiel und haben nach 13 gespielten Minuten bereits zwei gelbe Karten auf der Habenseite. Na dann verwursten wir halt diesen Halberstädter Flachwitz: Harz aber herzlich!

Der gastgebende VfB Germania könnte den Gästen mit einem Sieg die Tabellenführung entreißen und so sind eher sie es, die in der Rolle stecken, heute gewinnen zu müssen. Nach 20 Minuten haben sie sich eine erste Torgelegenheit gegen die gut verteidigenden und ebenfalls körperbetont spielenden Gäste erarbeitet. Aber auch die BSG Chemie, die 2008/09 nach einer Neugründung durch die eigenen Fans erstmals wieder am Herrenspielbetrieb teilnahm und seitdem von der dritten Kreisklasse bis in die Oberliga aufsteigen konnte, setzt dann und wann Nadelstiche. So ist es Bunge, der nach gut einer halben Stunde die grün-weißen Farben beinahe mit 0:1 in Führung bringen kann. Kurz vor der Halbzeitpause sorgen die beiden erfahrensten Halberstadt-Akteure Benjamin Boltze (ehemals CFC, Halle, FCM) und Adli Lachheb (ehemals Aue, Duisburg, Halle) in Kooperation für den größten Aufreger des ersten Spielabschnitts. Einen Eckball von Boltze kann Lachheb allerdings nicht im Tor unterbringen, sondern per Kopf lediglich an den Pfosten bugsieren.

In der zweiten Halbzeit plätschert das Spiel etwas dahin. Die Leipziger machen es den Gastgebern schwer, das dicht gestaffelte Mittelfeld zu überspielen. Ein Unentschieden würde ihnen reichen, um in einer erfolgversprechenden Ausgangssituation in den Schlussspurt um den Aufstieg in die viertklassige Regionalliga Nordost gehen zu können. Nur noch zwei Mal wird es den Halberstädter Würstchen gelingen, Torchancen zu kreieren: In der 48. Minute sitzt in aussichtsreicher Position der entscheidende Pass des Ex-Unioners Pascal Wedemann auf den völlig freistehenden Messing nicht und nach 76 Minuten zieht eben jener Messing den Ball denkbar knapp am langen Pfosten vorbei. Erst in den letzten fünf Minuten baut Germania etwas mehr Druck auf, nachdem ihr Trainer Andreas Petersen, Vater von Freiburgs Stürmer Nils, offenbar grünes Licht für die Brechstange gegeben hat.

Mit Mann und Maus verteidigen Dietmar Demuths Jungs aufopferungsvoll. Etwas überraschend beendet Schiedsrichter Köppen aus Rathenow das Spiel nach genau neunzig Minuten und siebenunddreißig Sekunden. Während die Halberstädter ob der geringen Nachspielzeit protestieren, reißen die Chemiker die Arme jubelnd in die Höhe. Dieses Unentschieden kann einen Meilenstein in der Vereinsgeschichte darstellen und ausgelassen feiern die abgekämpften Recken mit ihrem Anhang das 0:0 so, als hätte man soeben einen Sieg eingefahren.

Auf dem Rückweg wird die heutige Unterstützung der BSG Chemie Thema im Auto werden. Während die Hinterbänkler der Ultraszene Wertschätzung zu Teil kommen lassen, moniert der vordere Bereich, dass es nicht gelungen sei, alle Mitreisenden in den Support mit einzubeziehen. Und wahrlich, über die gesamte Dauer des Spiels hat es aus dem breit gezogenen Gästeblock zwar durchgängige und melodische Gesänge gegeben, aber brachiale Lautstärke konnte selten erzeugt werden. Nun stellt sich allerdings die Frage, warum eine zahlenmäßig derart große Szene, die den Verein neu gegründet und durch die Niederungen des Ligasystems begleitet hat, nun ihren Stil ändern sollte, nur um alle Kutten, die nun nach und nach „ihre“ BSG wiederentdecken, mit ins Boot zu holen. Und es stellt sich die Frage, warum die zahlenmäßig ebenso starke Fanbasis außerhalb der Ultraszene nicht in der Lage ist, manchen Momenten des Spiels ihren Stempel aufzudrücken. Es hindert sie doch niemand daran, den sogenannten „spielbezogenenen Support“ dann und wann auch einfach mal vorzubringen. Als dann von vorne rechts eine Bemerkung fällt, die die Ultrabewegung als Ganzes diffamiert, klinke ich mich abermals aus dem Gespräch aus und widme mich meinem Berliner Pilsner.

Gelingt der BSG der Aufstieg, wird in der kommenden Saison womöglich das eine oder andere Spiel in Berlin und Umgebung besucht werden können. Nicht auszuschließen, dass Agent Orange seine Fahrdienste zwecks Besuchs des Alfred-Kunze-Sportparks anbieten wird und ich dankend annehmen werde. Fest steht nur: Privat habe ich unheimlich gerne meine Ruhe. Und nächstes Jahr feiere ich Ostern wieder im Stadion. /hvg