610 610 FUDUTOURS International 23.04.24 16:41:45

15.04.2018 Weißenseer FC – BSC Rehberge 1945 2:2 (1:1) / Stadion Buschallee, Nebenplatz / 150 Zs.

Heute halte ich es mit Ilse Aichinger und genieße zum Frühstück eine Aufführung des Friedrichshainer Fenstertheaters. Mit dem Unterschied, dass zu meinem Amüsement keine Hanswurstiade eines älteren Herren beiträgt, sondern zwei leichtbekleidete junge Damen gegenüber. Das muss also dieses „wohnen in bester Lage“ sein, von dem in Berlin jetzt ständig die Rede ist. Bei allerschönstem Sonnenschein fühle ich mich jedoch nur kurz privilegiert, kremple dann die Ärmel hoch und schwöre mich auf das ein, was heute kommen wird: Abstiegskampf in der Landesliga, Staffel 2.

Um 12.00 Uhr wende ich mich von der ansprechenden Präsentation ab, noch bevor die beiden Protagonistinnen zum Finale Furioso ansetzen können. Beschwingt durch das gute Wetter und den gestrigen 1:0 Auswärtssieg beim FC St. Pauli ist der Plan in mir gereift, die knapp sieben Kilometer bis zum „Stadion Buschallee“ zu Fuß zurückzulegen.

Den „Simon-Hedlund-Gedächtnis-Schädel“ bekämpfe ich erfolgreich mit einem kühlen Konterpils und so nimmt dieser „Sonntagmorgenspabiergang“ doch recht schnell angenehme Züge an. An alten Vespas und am Thälmann-Denkmal vorbeilaufend, beginne ich, Zusammenhänge zu begreifen. In Berlin komme ich eigentlich immer nur per Bahn von A nach B und hätte es bis eben vermutlich nicht geschafft, im Auto sitzend von Friedrichshain nach Weißensee zu finden. Nun ergeben Straßenverläufe plötzlich einen Sinn und ein Fixpunkt nach dem nächsten wird passiert und ehe ich mich versehe, habe ich um 13.07 Uhr auch schon das Ortseingangsschild passiert. Willkommen in „White Lake City“!

Die ersten Eindrücke sind überaus positiv. Die Fassade des „Tønsberg“ wurde angemessen gestaltet, wobei ich nicht gänzlich sicher bin, ob der Kampf bereits endgültig gewonnen ist und das Geschäft dauerhaft schließen muss. Kann man im Nachgang auf jeden Fall heilfroh darüber sein, dass die Metastase „Tromsø“ in der Petersburger im Jahre 2013 nach vier quälend langen Jahren aufgeben musste. Kurz muss ich mich schütteln. Unfassbar, dass das nun auch schon wieder zehn Jahre her ist, dass man vor der eigenen Wohnungstür gegen rechtes Gesocks demonstrieren musste…

Angesichts der etwas qualmenden Füße entschließe ich mich, die letzten Meter in der Straßenbahn zurückzulegen. Vor dem „Kino Toni“ hält nur einige Augenblicke später die M4 und nur wenige Sekunden nach dem Einsteigen bereue ich bereits die Entscheidung, eingestiegen zu sein. Zwei Mangamädchen sitzen mir gegenüber, wischen über ihre Handys und noch bevor die beiden anfangen, sich miteinander zu unterhalten, bin ich bereits von tiefer Trauer ergriffen. Bedauerlich, dass sich immer mehr Menschen aus der Realität in Parallelwelten flüchten müssen, um irgendwelche Scheinidentitäten aufzubauen, nur um das Gefühl zu haben, wenigstens irgendjemand oder irgendetwas zu sein. Dabei könnte man seine Zeit doch viel sinnvoller nutzen und Anstrengungen unternehmen, eine eigene Meinung oder eine Haltung zu entwickeln und beispielsweise gegen Naziläden kämpfen, anstatt sich zu verkleiden und die Wirklichkeit auszublenden. Egal. So lange die Cosplayer, Mittelaltertrottel, Rollen- und Computerspieler nicht in meine Parallelwelt Fußball eindringen, werde ich schon einen angemessenen Umgang mit all diesen gescheiterten Existenzen pflegen können. Das eine Mangamädchen hebt den Blick vom Handydisplay und spricht zum anderen:

<< Ey, warum ist das so? Warum werde ich immer so gejudged? >>

Ich frage mich auch angesichts dieser sprachlichen Auswüchse wieder einmal, wann genau die Menschheit falsch abgebogen ist, doch bevor ich mich in zu deprimierenden Gedankenspielen verheddern kann, habe ich glücklicherweise bereits das „Stadion Buschallee“ erreicht.

Die weitläufige Anlage kann zunächst ohne Zahlung eines Eintrittsgeldes betreten werden. Leider ist der Hauptplatz nicht präpariert, sodass schnell Klarheit eintritt, dass das heutige Fußballspiel lediglich auf dem Kunstrasen-Nebenplatz stattfinden wird. Schade. Dafür bietet ein Turnier des Rugby Klub 03 (Teilnehmer der 1. Rugby-Bundesliga!) auf einem weiteren Nebenplatz beste Unterhaltung. Etliche Kleinfelder sind hier abgesteckt, um mehrere Kinder-Mannschaften zeitgleich gegeneinander antreten zu lassen. Nach jeweils 20 Sekunden Ballbesitz fallen die lieben Kleinen übereinander her und stapeln sich imposant übereinander. Da ich als alleinreisender junger Mann mit Fotokamera im Anschlag in der Nähe der fremden Kinder für keinerlei Missverständnisse sorgen mag, ziehe ich mich dann aber doch recht bald zurück in den Catering-Container des Weißenseer FC, in dem ich jetzt nicht unbedingt ein Trikot des BSC Preussen Berlin erwartet hätte. Die hübsche Dame hinter dem Tresen hätte es nicht zwingend gebraucht, um mich zu motivieren, im Laufe des Tages noch zwei-drei Mal wiederzukehren…

Der Abstiegskrimi des 22. Spieltages beginnt mit sieben Minuten Verspätung. Die Heimelf von Trainer Marino Ballmer konnte zuletzt drei Siege in Serie einfahren und den Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz, der aktuell von den Gästen des BSC Rehberge belegt wird, auf immerhin sieben Punkte ausbauen. Heute könnte der Aufsteiger sich also bereits entscheidend absetzen – wenn man auf dem Sportplatz nicht munkeln hören würde, dass die Gäste in der Winterpause die Mannschaft nahezu komplett ausgetauscht hätten und nun über ganz andere Qualitäten verfügen würden.

Ich finde einen angenehmen Sitzplatz auf dem Boden am Rand des Spielfeldes. Die Sonne scheint nach wie vor, das Bier ist kühl und das Spiel kurzweilig. Rehberge trifft nach fünf Minuten die Latte, der WFC verzieht nach elf nur knapp. Die neu formierte Abwehr der Gäste ist noch nicht sonderlich sattelfest und so kommt es bis zur 20. Spielminute zu vier Eckstößen und drei weiteren hochkarätigen Torgelegenheiten. Der Gast lässt nur einmal aufhorchen – nach einem klugen Pass des Spielmachers Uluk vergibt Marvin Fedorovic Lemischko aus spitzem Winkel kläglich, was einer seiner Teamkameraden wie folgt kommentiert:

<< Lege doch ab, lan! >>

In der 20. Minute geht Weißensee durch seinen Kapitän Seckler mit 1:0 in Führung. Just in diesem Moment tauchen zwei Herren vor mir auf und haben nun die besten Argumente, vier Euro Eintritt von mir verlangen zu können. Ich reiße irgendeinen blöden Spruch über die Höhe des Preises und erhalte eine schlagfertige Antwort.

<< Das ist so teuer, weil bei uns der Präsident noch selbst um den Platz geht – aber dafür ist die Sonne umsonst! >>

Das Spiel bleibt offen und unterhaltsam. Rehberge sucht sein Heil in der Offensive, bleibt hinten aber ein Torso und kann sich bei Abou-Abbas bedanken, der dank seiner athletischen Fähigkeiten den einen oder anderen Raum noch gerade eben so zulaufen kann. Die wohl heißeste Mutti der Weltgeschichte dreht derweil in blau-weiß gestreift ihre Runden um den Platz und bekommt ihre Kinder glücklicherweise zu keiner Zeit des Spiels in den Griff. „Schiiiiiiiiiiiiiiiiieß!“ ruft jemand aus dem Publikum, der das offenbar immer ruft, wenn Rehberge in 35 Metern Tornähe den Ball am Fuß hat. Dieses Mal schießt Krause wirklich und der Ball zappelt nach 27 Minuten zum Ausgleich im Dreiangel. Sehenswerter Treffer aus der Drehung, Sportsfreund!

In den letzten Minuten der ersten Hälfte lässt die Qualität des Spiels nach, dafür steigt die der Konversation zwischen Ersatz- und Stammtorwart Rehberges in unfassbare Dimensionen.

<< Du sollst höher stehen bei langen Bällen! >>
<< Aber ich krieg die nicht! >>
<< Weiß nicht, ist nicht meine Idee, ich soll Dir das bloß sagen! >>

In der Halbzeitpause ist das Bierfass leer. So hat halt jeder seine Probleme. Wobei ich natürlich von Glück reden kann, dass ich von der hübschen Zapferin wenigstens nicht <<gejudged>> werde, während ich da so in ihrem Container herumlungere, auf das Getränk warte und dem Eishockey-Trikot mehr Aufmerksamkeit schenke als ihr.

Im zweiten Spielabschnitt hat sich der Platz deutlich gefüllt. Gut 40 Kiebitze sind offenbar in dem Wissen darin, dass der Präsident seine Ehrenrunde beendet hat, noch dazugestoßen und treiben die offizielle Zuschauerzahl auf 150 in die Höhe. Die Gäste sind nun deutlich sattelfester aufgestellt, das Spiel wird fahrig, die Aktionen nickelig. Waldemar Huhn hat nicht nur einen super Namen, sondern auch einige fußballerische Qualitäten auf der rechten Außenbahn, die er nun als Einwechselspieler für den WFC in die Waagschale wirft. Die eine oder andere gute Aktion ist ihm bereits gelungen, ehe er in der 78. Minute unnachahmlich davonzieht und Richtung Strafraum drängt. Serkan Akkas versucht Huhn aufzuhalten, doch selbst mehrere Foulspiele auf dem langen Weg Huhns aus dem Mittelfeld in den Strafraum können ihn nicht stoppen. Erst das vierte Vergehen – mittlerweile im Strafraum angekommen – nimmt Huhn an. Notbremse, rote Karte, Elfmeter. Clever. Kapitän Seckler verschießt, Rotsünder Akkas wird mit Geleitschutz vom Feld geführt, noch zehn Minuten zu spielen, hier ist was los!

Wenige Augenblicke vor dem Ablauf der regulären Spielzeit scheitert der WFC nach einem Querpass in den Strafraum in aussichtsreicher Position kläglich. Kurz darauf gibt der Schiedsrichter die Nachspielzeit akustisch gut wahrnehmbar bekannt. Vier Minuten! Rehberge tankt sich über den Flügel durch, Hereingabe und der defensiv überragende Abou-Abbas steht parat und netzt zum 2:1 ein. Jetzt nur noch 2-3 Minuten durchhalten…

… denken sich die Männer aus den Rehbergen, während ihr filigraner Zehner Uluk den folgenschweren Fehler begeht, einen Ball in der eigenen Hälfte vollkommen unnötig und sinnlos zu vertändeln, anstatt ihn in den Weißen See zu schießen. Pass in die Mitte, Seckler steht frei, bumm, 2:2. Abpfiff. Die Spieler in Grün und Weiß fluchen und Uluk ist just in diesem Moment nicht der allerbeliebteste Mitspieler.

Ich begebe mich fußläufig auf den Rückweg in den sieben Kilometer entfernten Friedrichshain. Bei „Buddys Burger“ stärke ich mich für läppische 3,70 € mit der BBQ-Variante, werfe noch einen Blick auf den gegenüberliegenden See im Sonnenlicht und ärgere mich kurz darauf über all die Affen, die mir in Frei.Wild-Oberbekleidung – auf dem Weg zu einem Konzert – begegnen. Vermutlich genau die selben Irrläufer, die ich auf dem Hinweg in Dynamo-Kutten angetroffen hatte und die sich im Laufe des Nachmittags offenbar umgezogen haben. Naja, wat soll man sonntags auch machen, wenn das „Tønsberg“ geschlossen hat…

Der Rückweg gelingt ohne Nutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels. Ich belohne mich am Frankfurter Tor mit einem weiteren Bier und einem letzten Sonnenbad des Tages. Am nächsten Morgen kaufe ich mir eine „Fußball-Woche“, um die offizielle Zuschauerzahl für das Blog in Erfahrung zu bringen. Als „Bester Spieler des Spiels“ wird Deniz Uluk genannt. Kann sein, dass der Redakteur zwei Minuten zu früh gegangen ist. Aber gut, bevor ich mit dem Finger auf andere zeige: Möglich, dass ich beim morgendlichen Fenstertheater selbigen Fehler begangen habe… /hvg