710 710 FUDUTOURS International 02.05.24 08:36:51

12.08.2018 Sportfreunde Siegen von 1899 – TuS 1895 Erndtebrück 3:2 (2:1) / Leimbachstadion / 1.511 Zs.

Am Sonntagmorgen fährt mich meine freundliche Gastgeberin nach Düren. Während ich so nach draußen schaue, bin ich froh, dass die Fenster heruntergekurbelt und die Türen fest verschlossen sind. Das „Tor zur Nordeifel“ befindet sich jedenfalls in einem erbärmlichen Zustand und die wenigen Menschen, die bereits die heruntergekommenen Straßen säumen, erwecken den Anschein, als sei die letzte Zombie-Apokalypse hier noch nicht all zu lange her. Die Fahrerin bestätigt meine Wahrnehmung und gibt zum Besten, dass sie in ihrem Landkreis die freie Wahl bezüglich ihres KFZ-Kennzeichens hatte und sich mit Händen und Füßen gegen ein Dürener Exemplar wehrte. Nun fährt sie unter Jülicher Flagge – für diese Kreisstadt müsse man sich nicht ganz so sehr schämen.

Für den Shuttleservice bin ich sehr dankbar, da die Deutsche Bahn vom Dürener Bahnhof eine gute Direktverbindung per Regionalbahn nach Siegen im Angebot hat. Für gerade einmal 23,95 € werde ich in den kommenden zwei Stunden die knapp 150 Kilometer quer durch NRW zurücklegen können.

Der sensationsgeile Fetti, nebenberuflich Handyfotograf, Bildreporter und Blaulichtberichterstatter, freut sich heute besonders auf die Reise und auf die Möglichkeit, Katastrophenfotos anzufertigen. Schließlich hatte es vor vier Tagen auf der ICE-Strecke zwischen Köln und Frankfurt auf Höhe Siegburg einen Böschungsbrand gegeben, der auf umliegende Häuser übergriff. 32 Menschen wurden verletzt, darunter 12 Feuerwehrmänner. Glück im Unglück: Vor zwei Tagen wurde die Strecke für Nah- und Fernverkehr wieder freigegeben und Fettis Kreuz im Leimbachstadion ist nicht mehr in Gefahr.

 

Gut ein Jahr lang hatten sogenannte Experten die Unglücksstelle untersucht (nur allein deswegen musste ich mit der Anfertigung dieses Berichtes so lange warten…) und hierbei zunächst Brandstiftung und „sorgloses Handeln Dritter“ (entspricht dem deutschen Verb → grillen) als Brandursache ausgeschlossen, ehe sie im April 2019 verkündeten, dass diese weiterhin „ungeklärt bleibt“. Knapp vier Monate später war man dann letztlich darauf gekommen, dass es vor dem Ausbruch des Feuers lange keinen Regen gegeben hatte. Ein vertrockneter Brombeerstrauch wurde der Öffentlichkeit als Attentäter präsentiert, der sich offenbar selbst entzündet hatte. Die Konsequenz dieses Unfalls: in Zukunft wird die DB dafür sorgen, dass sechs Meter links und rechts der Gleise keine Pflanzen und Bäume mehr wachsen. Schade um die schöne Aussicht, du olle Hecke…

 

Eine Stunde später ist Fetti enttäuscht. Der Bahnhof Siegburg/Bonn liegt längst hinter uns und noch immer gibt es keine verkohlten Häuser oder brennende Feuerwehrmänner zu sehen. Wenn Katastrophentourismus zur Katastrophe wird…

Kurz darauf habe ich Siegen erreicht und begebe mich zu Fuß in Richtung Hotel. Dort angekommen, staune ich zunächst einmal nicht schlecht. Eine mit St. Pauli (Freunde werden wir nie!) Schal geschmückte Puppe glotzt mich inmitten unzähliger Seefahrerdevotionalien aus einem Schaufenster heraus an. Das Treppenhaus knüpft nahtlos an das Thema „Hamburger Hafen“ an und spätestens bei Eintritt in den Gastraum zum Check-In ist das Bild vollständig zu Ende gezeichnet, hängt doch hier bereits um 14.15 ein Seemann im Matrosenanzug samt Mütze ziemlich lädiert und mit vollem Bierglas an der Theke herum. Ein maritimes Motto im Siegerland – war jetzt so auch nicht unbedingt zu erwarten.

„Moin“, sagt der Trinker. Der zieht es wenigstens durch, denke ich mir und kann mir einen kurzen Kommentar, ob ich aus Versehen in den falschen Zug nach Hamburg gestiegen bin, nicht verkneifen. Hiermit öffne ich dem Seemann, der sich gleich als Hotelbesitzer herausstellen wird, natürlich Tür und Tor, mir eben auf die Schnelle seine komplette Biographie herunterzubeten. Ich bestelle mir ein kleines „Krombacher“ (wird im 14 Kilometer entfernten Kreuztal gebraut und schmeckt auch scheiße, wenn man es sich als ‚local thing‘ schönredet) und schenke ihm ein Ohr. Dieser ist Hamburger Jung (Notiz für die booking-Rezension: „authentisch!“), lange zur See gefahren, hat hunderte Länder gesehen, hunderte Frauengeschichten zu erzählen. Aber dann macht er das, was Idioten nun einmal nach durchschnittlich 4 Minuten und 37 Sekunden so machen: Sie geben offen zu, dass sie Idioten sind.

Dieser Idiot hier erzählt mir jedenfalls, dass er nicht mehr zur See fährt, sein Leben, seine Leidenschaft, seine Liebe aufgeben musste, weil all die Ausländer den deutschen Seemännern die Jobs weggenommen hätten und er es nicht mehr ausgehalten hätte, als auf den Schiffen kaum noch wer deutsch gesprochen hat und wie es überhaupt heutzutage in Deutschland … bla, bla, bla. Man stelle sich vor, diese Leute würden sich etwas geschickter anstellen. In unsere Freundeskreise eindringen und dort subversiv Meinungen streuen, Stimmungen verbreiten, infiltrieren. Kann man ja fast schon „Danke“ sagen, dass sich der gemeine Wutbürger eben spätestens nach 4:37 das Wort „Idiot“ in blinkenden LED auf die Stirn schnallt.

Ich jedenfalls habe das kleine Bier geleert, genug gehört und meinen Zimmerschlüssel erhalten. Die schwere Stahltür ist in etwa 20 Zentimeter breit und gibt mir das beruhigende Gefühl, dass mich der Klabautermann des Hauses hier über Nacht keinesfalls heimsuchen kann.

Auf dem Weg in Stadt schreit mir ein buntes Werbeplakat eine Einladung entgegen, die ich wohl nicht ausschlagen kann. An Weihnachten Scheunenpartys veranstalten, an Ostern abhängen und in Siegen „XXL-Hüpfburgen, Wasserrutsche und coole Games“ beim Meet&Greet versprechen. Dieser Jesus ist schon ein verdammt cooler Character!

Der weitere Stadtbummel wird dadurch erschwert, dass das Tourismusbüro nur von Montag bis Freitag geöffnet hat und man mich nicht mit einem Faltplan versorgen kann. In Siegen rechnet man am Wochenende offenbar nicht mit Gästen. Auf den Uferterrassen entlang der Sieg laufen bereits die ersten Mitglieder der Fanszene der Sportfreunde ein und bereiten sich auf die Saisoneröffnung vor. In der Oberliga Westfalen ist heute direkt das Derby gegen Erndtebrück angesetzt, welches im Landkreis Siegen-Wittgenstein liegt und somit auch nur 10 Kilometer weiter entfernt ist, als die „Krombacher“-Brauerei. Ein beliebtes Stickermotiv dieser Tage ist ein Büffel mit TuS-Logo im Fadenkreuz und dem Slogan: „Siegen ohne Wittgenstein!“ Da hat wohl jemand die Kreisfusion vom Januar 1975 noch nicht vollends verkraftet…

Ich setze meinen Spaziergang fort. Für eine Städtepartnerschaft mit Berlin hat es nicht ganz gereicht, aber immerhin hat sich Spandau erbarmt, den Siegerländern eine Brücke zu bauen und zusätzlich 1974 einen Bären zu stiften, der seit jeher am Übergang zur Oberstadt grüßt. Im Jahre 2012 ist der Bär dann aus dem Stadtbild verschwunden und eine Zwangsumsiedlung vor eine Shopping Mall drohte, doch nach vierjährigem Kampf und einer Volksabstimmung stand der Verbleib am angestammten Platz am „Kölner Tor“ nichts mehr im Wege. Wie würde der Matrose sagen: „Als ob wir keine anderen Probleme hätten…!“

Nachdem Unteres Schloss, Nikolaikirche und Rathaus abgeklappert worden sind und im „Deichmann“ erfolglos nach einer alten Bekannten Ausschau gehalten wurde, reicht es dann auch schon wieder mit dem kräftezehrenden Herumgelaufe. Ein Bier soll es nun sein. Die nächsten 30 Minuten sind frustrierend. Cafés und Bäckereien laden zum Verweilen ein, eine Eisdiele jagt die nächste, doch bedauerlicherweise tut sich keine einzige Kneipe im Vorbeigehen auf. 100.000 Einwohner, aber nichts zu saufen. In Soziologenfachkreisen längst als „Hofer Havarie“ bekannt. So fühlt sich verlieren in Siegen an.

Schweren Herzens kehre ich aus Alternativlosigkeit in Bahnhofsnähe in der „Bar Celona“ ein. Eine Kettenausgeburt der Hölle, die auf mediterran tut und genügend Franchisenehmer findet, die irgendwelchen Provinztrotteln dreieckige Kartoffelchips überbacken und „Krombacher“ für 4,50 € verkaufen. Das Beste an dem Laden ist noch der Tippfehler in der Speisekarte. 32 x in Deutschland kann man „die dümmste Pizza der Welt“ probieren. Viel Spaß!

Glücklicherweise erlöst mich ein zweiter Siegertyp aus den Reihen FUDUs recht bald aus diesem Elend und gemeinsam begeben wir uns mit einem Weg-„Mythos“ aus der Traditionsgaststätte „Tsolias“ in den Händen auf direkten Weg ins Leimbachstadion.

Die Spielstätte fasst 18.700 Zuschauer und wurde letztmals anlässlich des sensationellen Aufstiegs der Sportfreunde in die 2. Bundesliga anno 2005 modernisiert. Die unüberdachte Stehplatzgegengerade weckt nostalgische Gefühle, der Ausblick in das umliegende Gebirge könnte malerischer nicht sein.

Über 1.500 Fans strömen heute in das schöne Stadion, um dem Derby beiwohnen zu können. Auf der Gegengerade befinden sich ältere Damen mit Klappsitzen, Familien, Kutten und Ultras. Und dank der „Rude Boys“ auch der „Moretti“-Mann. Ein bunt gemischtes Völkchen, in das man sich gerne einreiht. Einziges Manko dieser Perspektive ist, dass die Fanszene etwas roten Rauch zündet und eine kleine Choreographie präsentiert, die wir von der gegenüberliegenden Haupttribüne sicherlich wesentlich besser hätten genießen können.

Der Gästeblock bleibt leer, der fromme Wunsch des Spieltag-Stickers erfüllt sich: Siegen ohne Wittgenstein! Das Spiel beginnt und überzeugt recht schnell mit ansprechendem Oberliga Kampf und Krampf. In den Strafräumen spielt sich dermaßen wenig ab, dass Siegens Torwart Thies nach 23 Minuten schon selbst für Gefahr sorgen muss. Einen harmlosen Rückpass macht dieser ordentlich scharf, indem er mustergültig über den Ball wemst. Erndtebrücks Mehdi Reichert sagt „Danke“ und schiebt zum 0:1 ein.

Bis zur 40. Minute hat Siegen ordentlich Dusel, hier nicht höher in Rückstand zu geraten. Bei 2-3 Angriffen des TuS erweckt die Siegener Defensive schon einen sehr unsortierten Eindruck. Von Glück kann man reden, dass Erndtebrücks litauischer Stürmer Ruzgis mit dem Supervornamen Manfredas nicht clever/unsportlich genug ist, eine vogelwilde Grätsche im Sechzehner zu seinen Gunsten zu nutzen und das Elfmetergeschenk auf dem Silbertablett dankbar anzunehmen.

Die Sportfreunde haben in der Offensive nichts furchteinflößendes anzubieten, sodass Erndtebrücks Torwart Schünemann nach 40 Minuten schon selbst für Gefahr sorgen muss. Einen harmlosen Flankenball macht dieser ordentlich scharf, indem er mustergültig einen Siegener Angreifer über den Haufen wemst. Elfmeter. Björn Jost läuft an und verwandelt. Wenige Augenblicke später hat Björn Jost nach einem ersten gelungenen herauskombinierten Angriff auf 2:1 erhöht und das Leimbachstadion in Ekstase versetzt. Auf der Anzeigetafel steht noch immer ein 0:1 zu Buche und ein Sponsor, der hier die Tore präsentiert und mit einer Spende für die Jugendarbeit des Vereins verknüpft, muss innerhalb von weniger als 120 Sekunden 80,00 € herausrücken. Halbzeitpause, durchatmen.

In der zweiten Halbzeit wird Siegen etwas aktiver und geht durch einen wirklich sehenswerten Linksschuss ins obere rechte Toreck durch den quirligen Japaner Ryo Suzuki mit 3:1 in Führung (53. Minute). Die Siegener Ultras setzen zum Wechselgesang mit der Haupttribüne an. Spektakulär ist, dass von dort zwar wenig zurückkommt, der Schall aus dem Gebirge aber immerhin das eigene Gebrülle zurück transportiert. Wechselsang alleine? Geht!

Ich erinnere mich an die Worte von Straelens Trainer, der gestern von einem „Zwei-Klassen-Unterschied“ zwischen Ober- und Regionalliga gesprochen hatte. Und genau jetzt weiß ich, was er damit meint. Das Spiel im Leimbachstadion hat kaum noch Tempo und wenig Intensität. Viele Ungenauigkeiten bestimmen das Bild und so kann Siegen die Führung relativ souverän verwalten. Ab der 75. Minute liegen Spieler beider Mannschaften von Krämpfen geplagt auf der Wiese und auch der Anschlusstreffer nach Ecke durch Schmitt kann in der 86. Minute nicht mehr dafür sorgen, dass noch einmal ein Ruck durch die Gastmannschaft geht.

Nach dem Spiel gönnen wir uns im „Tsolias“ einen schönen Gyrosteller, ehe die Hälfte der Reisegruppe den Rückweg nach Bonn antritt. Wie könnte man auch an einer Institution wie dieser vorbeikommen? Den Imbiss gibt es schließlich bereits seit 1985 in Siegen und auch ins Internet hat er es schon fast geschafft (Der Stand lautet zum 07.12.2019 diesbezüglich: „COMING SOON“).

Am nächsten Morgen betrete ich erneut den Gastraum des Hotels, um auszuchecken. Und siehe da, der Herbergsvater sitzt in selber Pose am Tresen, nur, dass er heute keinen Matrosenanzug, sondern eine Kapitänsjacke trägt. So schnell kann man also die Karriereleiter erklimmen, wenn man im Siegerland Schiff fährt. Meine Mastercard zur Zahlung will er zunächst nicht anerkennen, weil er dann eine Gebühr in Höhe von 3% abtreten müsste. Sind wahrscheinlich auch die Flüchtlinge dran Schuld. Da ich aber kein Bargeld dabei habe, muss er sich letztlich wohl oder übel damit zufrieden geben, nur 97% einbehalten zu dürfen. Na dann, weiterhin frohes Schippern und Sieg… ach, egal. /hvg