602 602 FUDUTOURS International 20.04.24 13:40:46

30.09.2018 Parma Calcio – Empoli F.C. 1:0 (1:0) / Stadio Ennio Tardini / 14.584 Zs.

Am frühen Morgen ist der Rezeptionist des „Hotel Lugano“ bereits zu Smalltalk aufgelegt. Seit er gestern Abend erfahren hat, dass ich mich für Fußball interessiere, kennt er kein Halten mehr. Zunächst klagt er mir heute sein Leid, dass „sein“ SSC Napoli gestern bei der Juve mit 3:1 verloren hat. Davon ausgehend, dass jeder Mensch in Deutschland von Hause aus großer Borussia Dortmund Fan sein muss, gratuliert er mir herzlich zum überzeugenden 4:2 Sieg in Leverkusen. Netter Mann, dem ich nun zu verstehen gebe, dass mir Borussia Dortmund gelinde gesagt am Culo vorbeigeht und bekanntermaßen alles außer Union eh Merda ist! Das einzige, was ich in den letzten Jahren am BVB mochte, das war Ciro Immobile, weiß ich das Gespräch geschickt am Laufen zu halten. Der Rezeptionist freut sich über soviel Freundlichkeit gegenüber seines italienischen Landsmanns und ist seinerseits mehr auf zack als jede Fußball-App. 0,2 Sekunden später weiß ich jedenfalls, dass Lazio das Römer Derby mit 3:1 verloren hat – trotz des bereits vierten Saisontreffers von Ciro zum zwischenzeitlichen 1:1. Ist ja ein Ding.

Wir liegen gefühlt jedenfalls gut genug auf einer Wellenlänge, um nun die alles entscheidende Ryanair-Frage zu platzieren. Could you please print my Boarding Pass? Warum ich von Bergamo nach Nürnberg reisen will, erkläre ich im Anschluss bereitwillig. Because my Team is playing away in Ingolstadt! Klar, dass nur wenige Augenblicke darauf der Drucker rattert und mir mein Flugticket ausgehändigt wird und damit wieder einmal der Beweis vollbracht ist, dass der Verzicht auf Smartphones und Apps immer wieder für nette Begegnungen sorgt. Nun hält mein Gegenüber wiederum die Gelegenheit für günstig, mich noch darauf hinzuweisen, dass ich für nur 8 € hier im Hause frühstücken könnte. Ich erhasche aus dem Augenwinkel einen Blick auf das „Buffet“, welches aus abgepackten Croissants, Keksen und einer Espressomaschine besteht und verzichte dankend. Die Traurigkeit in seinen Augen ist kaum auszuhalten, aber mit einem kurz eingeschobenen „…because I am in a hurry. I am going to Parma to see some more Calcio!“ kehrt die Begeisterung zurück in sein Gesicht.

Und so stehe ich um 11.00 Uhr am Bahnhof Lambrate, lasse den Automaten mit der Eltern-Kinder-Schlange davor und den „UNO“-Spielen darin links liegen, decke mich mit einem echten Frühstück für weit weniger als 8 € ein und werde mich in Ermangelung eines Kartenspiels auf der knapp 90 minütigen Reise für 11,10 € dann wohl oder übel mit einem großen Bier aus der 0,66 Liter Flasche beschäftigen müssen.

Noch während der Reise grübele ich bereits über humoristische Verwertungsmöglichkeiten des Städtenamens. Manch einer wirft mir ja bereits vor, ich würde die Wahl meiner Reiseziele davon abhängig machen, ob sich schlechte Wortspiele mit ihnen anstellen lassen. Ihr könnt beruhigt sein, dem ist nicht so. Heute werde ich jedenfalls darauf verzichten, sind schließlich schon größere Komiker ein parma krachend an dieser Aufgabe gescheitert. Während erste konstruktive Tipps aus Ungarn über die bekannten sozialen Kanäle hineinflattern („Wenn dir jetzt nüscht einfällt, musste halt noch’n parma hinfahrn“), will der gemeine Ostler natürlich wieder nur Geschenke abgrasen. Nein, ich kann keinen Parmaschinken mitbringen. Warum? Na, parmark fehlen dafür!

Parma. 196.000 Einwohner. Emilia Romagna. Und für Menschen, die in den Neunzigern Fußballsozialisiert worden sind, natürlich unmittelbar mit dem AC Parma verbunden. In der Hochzeit mischten Gianlugi Buffon, Tomas Brolin, Fabio Cannavaro, Gianfranco Zola, Faustino Asprilla, Hernán Crespo, Lilian Thuram und Dino Baggio in gelb-blau in der Spitze Europas mit. 1992/93 gewann man den Europapokal der Pokalsieger, 1994/95 und 1998/99 den UEFA-Cup. Eine wesentliche Rolle in dieser Erfolgsgeschichte spielte der „Parmalat“-Konzern, der als Miteigentümer und Großsponsor etliche Millionen zur Verfügung gestellt und den Durchmarsch des AC von der Serie C bis in die Serie A ermöglicht hatte. Vor 1990 hatte der AC Parma niemals erstklassig gespielt und ist somit genaugenommen auch nicht viel mehr, als ein Kleinstadtverein, der ausschließlich dank monetärer Unterstützung eines Mäzens eine Rolle im Weltfußball einnehmen konnte. Wie gefährlich solche Konstrukte sind, mussten die Tifosi dann im Zuge des „Parmalat“-Konkurses von 2004 erfahren. Seitdem kam es zu mehreren Pleiten, Insolvenzen, Vereinsauflösungen und -umbenennungen. AC, FC, Parma Calcio. Zwischenzeitlich ging es dann sogar hinunter bis in die Serie D, in der man aber immerhin stolze 7.947 Zuschauer im Schnitt für sich begeistern und somit unter Beweis stellen konnte, dass man doch sehr viel stolzer ist, als manch ein vielleicht vergleichbarer Retortenverein.

Ein weiterer Vorteil, den Parma gegenüber den hierzulande bekannten Retortenvereinen aufweist: Es liegt halt in Italien und hat ein derart schönes Stadtbild zu bieten, dass Hoffenheim, Wolfsburg, Leverkusen und Co endlich über eine Selbstauflösung nachdenken sollten. Ich schlendere durch die sonnigen Gassen des „Alten“ Parma (ein kleiner Rinnsal namens Parma trennt die Alt- von der Neustadt), begutachte den Dom, den Palazzo del Governatore und andere mir namentlich unbekannte Gebäude und bin wieder einmal begeistert. Vielleicht sollte man grundsätzlich davon absehen, sich vorher zu informieren, was man in fremden Städten sehen kann und abzuwägen, ob sich ein längerer Aufenthalt „lohnt“. Diese Überraschungen à la Parma sind aus meiner Sicht immer wieder die schönsten Urlaubserfahrungen – da schmeckt doch der 5 € teure „Aperitivi“ an der Piazza Garibaldi gleich doppelt so gut, auch wenn ich mir in Italien streng genommen schöneres vorstellen kann, als „Memminger Hell“ serviert zu bekommen. Weniger schön ist die überraschend hohe Dichte an deutschen Touristen, die sich im Gegensatz zu mir offenbar belesen haben. Aktuell tobt nämlich das „Festival Verdi“ in der Stadt, welches jährlich zu Ehren des italienischen Komponisten Giuseppe Verdi in der Emilia Romagna abgehalten wird. Das „Teatro Regio“ gehört mit zu den Spielstätten des Opernfestivals und verleitet unzählige bayerische Seniorengruppen offenbar dazu, mal einen Abstecher gen Italien zu unternehmen. Motto der Busreiseveranstalter womöglich: Verdi Veranstaltung verpasst, ist selber Schuld.

Mich zieht es schon zwei Stunden vor Anpfiff in Richtung „Stadio Ennio Tardini“, benannt nach einem ehemaligen Präsidenten des AC, der den Bau des Stadions beauftragt, aber dessen Eröffnung (1924) nicht mehr miterlebt hatte. Aus dieser Zeit dürfte das wunderbare Eingangsportal der Spielstätte stammen und auch ansonsten nagt der Zahn der Zeit etwas an der alten Bausubstanz, die seit 2017 wieder Spiele der Serie A erleben darf. Ich sitze mit meinem Dosenbier auf der Stradone Martiri della Libertà und werde von irgendwelchen Killermücken zerstochen, als gerade die Mannschaftsbusse an mir vorbeirollen.

Kurz darauf versuche ich meinen Sitzplatz zu finden. Die Karte habe ich mir mit einem 10 € „Ridotto Web“ Rabatt im Vorfeld der Reise online gekauft und bin nun auf der Suche nach der richtigen Tribüne. Leider gibt es im Umfeld des Stadions keine Schautafel und auch der Ordner, den ich anspreche, hat heute bedauerlicherweise seinen ersten Tag und keinerlei Ahnung, was hier Phase ist. Ein freundlicher Kollege eilt zu Hilfe und weist mir den Weg auf eine Tribüne, die einen anderen Namen hat, als auf der Karte angegeben ist. Drei alte Ordner bewachen dort die Treppe zum Aufgang A und haben ihren Heidenspaß mit mehreren Kindergruppen, die später allesamt in meinem Block Platz finden werden. Eine Gruppe vor mir, eine neben mir, eine hinter mir. Spielende, tobende und lärmende Kinder am Wochenende. Da geht mir ja eher nicht so das Herz auf, weswegen ich meinen Platz noch einmal verlasse, mir ein schönes Panini mit Parmaschinken gönne und erfolgreich Ausschau nach anderen leeren Sitzschalen halte.

Heute ist der Empoli F.C. zu Gast, der „handgezählte“ 456 Fans (einen Tag nach dem Spiel hat Parma Calcio auf seiner Website transparent veröffentlicht: 14.584 Zuschauer, 456 Gäste, Gesamteinnahme 156.698,82 €) und einige Fahnenschwenker mitgebracht hat. Diese laufen nun mit ihren Empoli-Fahnen gemeinsam mit irgendwelchen Parma-Kutten, ebenfalls Fahnen schwenkend, eine Ehrenrunde, während beide Fanblöcke gemeinsam etwas skandieren. Mein nicht all zu weit hergeholter Verdacht, dass es sich hierbei um eine freundschaftliche Verbindung beider Fanlager handeln muss, bestätigt sich im Nachhinein. Das Spruchband auf der Heimseite („Orgogliosamente Gemellati“) nimmt ebenfalls auf die zwillingshafte Beziehung Bezug und wird von etwas blauem und gelbem Rauch untermalt.

Das Spiel besticht erst einmal durch puren Leerlauf. Erst nach 15 Minuten machen beide Teams Anstalten, überhaupt irgendwie in der Partie anzukommen. Das Niveau der Begegnung ist überschaubar, sodass die animierten Werbefilmchen auf der Anzeigetafel schon einiges an Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die hier anstelle einer Uhrzeit oder des Spielstandes versendet werden. Nach einer guten halben Stunde nähert sich Parma dem Tor erstmals gefährlich an, doch eine durch den Strafraum durchgerutschte Ecke verpassen alle angreifenden Akteure am zweiten Pfosten denkbar knapp. Bis zur Halbzeit folgt die stärkste Phase der Hausherren, die sich nun nach und nach steigern und Oberwasser gewinnen. In der 33. Minute tankt sich Rigoni mit einer schönen Energieleistung durch das Mittelfeld, schüttelt zwei-drei gegnerische Akteure ab und bedient den bis dato auffälligsten Akteur auf dem Feld mit einem schönen Steckpass. Gervinho nimmt den Ball geschickt an und mit und verwandelt aus spitzem Winkel zum 1:0, wobei man sich schon die Frage stellen muss, ob Empoli-Keeper Terraciano den mit einem etwas besseren Stellungsspiel nicht hätte verhindern können. Um ein Haar wäre Empoli noch vor der Pause der Ausgleich gelungen, doch Zajc‘ Abschluss innerhalb der Box landet lediglich am Torpfosten. Parmas Publikum verabschiedet seine Helden mit Applaus in die Katakomben – im Gegensatz zum gestrigen Stadionerlebnis im Meazza ist man hier doch deutlich entspannter und trotz vorherrschender Fußballmagerkost sehr dankbar über Kleinigkeiten.

Bis zur Halbzeitpause ist mir eine leichte Müdigkeit in die Knochen gefahren. Grund genug, den Versorgungsstand aufzusuchen, an dem Omi und Opi schnellstmöglich alle Kundenwünsche zu erfüllen versuchen. Irgendwie so herzallerliebst, dass ich mich gleich zwei Mal anstellen und mir zwei Becherchen Espresso zu je einem Euro kaufen werde.

So bin ich zu Wiederanpfiff hellwach – ganz im Gegensatz zu Parmas Defensive, die sich lediglich 55 Sekunden nach Wiederanpfiff beinahe kräftig übertölpeln lässt, doch glücklicherweise steht bei Caputos etwas unfreiwilliger Hacken-Zauberei abermals der Pfosten im Weg. Fünf Minuten später stockt dem Publikum erneut der Atem, als Gervinho Schmerz erfüllt auf dem Boden zusammensackt. Die schlimmsten Befürchtungen werden alsbald zur Gewissheit – der beste Mann muss offenbar mit muskulären Problem humpelnd vom Platz. Diesen schwerwiegenden Verlust kann Parma kaum kompensieren und sofort geht ein Negativruck durch die Mannschaft, die nun jeglichen Mut nach Vorne verliert und deutlich an Tempo einbüßt. Es ist der Gast aus Empoli, der dem Spiel Leben einhaucht und auf das Remis drängt, sich mit den tief verteidigenden und auf Zeit spielenden Gastgebern aber von Minute zu Minute schwerer tut. In der 80. scheitert Bennacer aus abseitsverdächtiger Position nur knapp und in der Nachspielzeit wird es dann richtig heikel. Flanke Empoli, Kopfballverlängerung – und zwei Verteidiger, die sich etwas ungeschickt anstellen und möglicherweise gar beide die Hand am Ball hatten, sorgen für helle Aufruhr. Während die Hälfte der Gästemannschaft bereits protestiert und Elfmeter fordert, reagiert der kurz zuvor eingewechselte La Gumina geistesgegenwärtig und jagt den Ball volley auf das Tor. Parmas Keeper Sepe trägt nicht nur das schönste Torwarttrikot aller Zeiten, sondern reagiert blendend und rettet seinen Farben heute im Schlussakkord die drei Punkte.

Ein Einkauf im Fanshop wird mir leider verwehrt, weil die Besucher der Ehrentribüne Vorrang haben und rund um den Einkaufsladen eine große Sperrzone errichtet worden ist. Genauso sinnvoll ist die Praxis des Spätverkaufs in Stadionnähe, welcher Bierflaschen hier nur gemeinsam mit braunen Papiertüten verkaufen darf. Gerade bin ich dabei, die passend herausgesuchten 1,20 € für die Pulle Moretti wieder in die Taschen zu stecken und einen Schein aus dem Portemonnaie zu zücken, als mir ein freundlicher Parma-Tifosi von hinten 20 Cent für die Tüte reicht. Grazie Mille!

Meinen Parma-Aufenthalt lasse ich dann in einem asiatischen Dönerfachgeschäft ausklingen, da ich vor Abfahrt meine Zuges nach Milano eigentlich nicht genügend Zeit für einen echten Restaurantbesuch übrig habe. Am Bahnhof stellt sich jedoch heraus, dass ich gut und gerne noch einkehren hätte können – 50 Minuten Verspätung. Aber wohl dem, der flugs umdisponieren kann, denn ein weiterer Zug in Richtung Milano, der planmäßig vor gut einer Stunde hätte abfahren sollen, weist gar 65 Minuten Verspätung auf und müsste demnach in ca. 10 Minuten hier eintreffen. Nun gilt es nur noch, die Schaffner davon zu überzeugen, mich mit meiner Billig-Fahrkarte mit Regionalbahn-Zugbindung schon um 22.43 mit dem höherwertigen Zug mitzunehmen, statt mich erst um 23.25 Uhr mit dem Schweinetransporter zu befördern. Als der Zug einrollt und die Zugbegleiterin mit Kippe im Mund aus der Tür hüpft, habe ich ein gutes Gefühl und natürlich ist es kein Problem, sich kurz darauf in den Luxussessel des „Fracciarossa“ sacken zu lassen. Auf den letzten sechs Minuten vom Bahnhof Centrale nach Lambrate sammele ich dann noch einmal stolze 15 Verspätungsminuten, die dazu führen, dass die letzte Ansage vor meiner Ankunft gegen 0.30 Uhr bereits mit „Good Morning“ beginnt.

Und wie recht diese automatische Ansage doch hat. In 20 Stunden wird in Ingolstadt schließlich der Anpfiff zum Spitzenspiel der zweiten Bundesliga erfolgen. Und jeder Morgen eines Tages, an dem man ein Fußballspiel besuchen kann, ist bekanntlich ein guter Morgen! /hvg