335 335 FUDUTOURS International 19.03.24 04:40:45

03.06.2018 SC Staaken 1919 – Tennis Borussia Berlin 2:0 (0:0) / Sportpark Staaken / 323 Zs.

Staaken-Hahneberg. Der Alptraum unserer Jugend, die wir im Norden Berlins verbringen mussten. Bis an das Ende unserer Tage wird dieser Ortsname mit der bitteren Erkenntnis verbunden bleiben, im Nachtbus nach Hause eingeschlafen zu sein. Wer auch nur einmal an der Endstation Staaken-Hahneberg erwacht ist, weiß, was es bedeutet, wenn man aus Versehen gut 22 Kilometer zu weit gefahren ist. Da ich ansonsten keinerlei Berührungspunkte mit diesem abgelegenen Winkel Berlins habe, steht für mich dennoch eine Reise in unbekanntes Terrain an. Der SC Staaken 1919 wird heute in der Oberliga Nordost-Nord den Champions-League-Aspiranten in lila und weiß zum Stelldichein empfangen.

Wann immer ich fremdes Gefilde bereise, belese ich mich im Vorfeld über das Reiseziel. So auch am heutigen Morgen des 03. Juni. Dank Wikipedia erfahre ich, was mich rund um den „Sportpark Staaken“ so alles erwarten wird. Der Stadtteil Spandaus hat einen alten Dorfkern zu bieten, die Wohnsiedlung „Gartenstadt Staaken“, die zu den bedeutendsten Berliner Bau- und Gartendenkmälern des 20. Jahrhunderts zählt, sowie architektonisch weniger spektakuläre Neubausiedlungen der 1960er und 70er Jahre in Neu-Staaken. Hahneberg hat offenbar neben dem Hahneberg (65 stolze Meter hoch!) für neugierige Touristen auch ein Fort im Portfolio. Aufgrund seiner Rolle im geteilten Deutschland darf man darüber hinaus durchaus von einer historischen Relevanz sprechen, wenn man seinen Blick auf Staaken richtet. Zu Zeiten des Kalten Krieges war das Siedlungsgelände wegen der Nähe zur Berliner Mauer zu Sperrgebiet erklärt worden. Auf der anderen Seite der Berliner Mauer befand sich das von West-Berlin losgelöste West-Staaken, welches am 01.06.1952 auf die zur DDR gehörige Gemeinde Falkensee übertragen wurde. Hier kam am 03.12.1965 niemand geringeres als Katarina Witt zur Welt. So entscheiden eben manchmal wenige schicksalhafte Meter darüber, welchem politischen System man sein hübsches Antlitz zur Verfügung stellen muss. Am 01. Januar 1971 wurde West-Staaken dann ausgegliedert und bildete fortan die Gemeinde Staaken in der DDR. Nach der Wende war „das schönste Gesicht des Sozialismus“ übrigens exakt 148 Tage lang mit MacGyver liiert – aber ich schweife womöglich etwas ab.

Richte ich die Konzentration also lieber auf die Frage, wie Berlin-Staaken bestmöglich zu erreichen ist. Die Website der Deutschen Bahn schlägt mir vor, einen ICE vom Ostbahnhof nach Spandau zu nehmen und taxiert hierfür 8,60 € mit der Bahncard25. Interessante Idee, innerhalb der eigenen Stadt mit einem Fernverkehrszug zum Hoppen zu fahren, sinniere ich vor mir hin, als mir der rumänische Kassenwart aus dem Nichts heraus eine Nackenschelle gibt. Okay, dann wird es wohl doch die Regionalbahn werden, die mich um 12.58 Uhr im Rahmen des BVG-Abonnements für lau in 15 Minuten Fahrzeit vom Hauptbahnhof nach Staaken Central Station befördern wird.

Mit einigen wenigen TeBe-Fans verlasse ich die Regionalbahn und erhasche auf dem Weg zum Sportpark erste Eindrücke der Gartenstadt. Eine beklemmende Spießigkeit liegt in der Luft, welche kurz vor dem Erreichen des Sportparks kulminiert. Neben Blumenkübeln und kitschigen Lebensweisheiten auf Holztäfelchen grüßt hier zu allem Überfluss beinahe vor jeder Tür ein Kunststoffdackel vorbeilaufende Passanten.

Für schlanke 5 € erhalte ich ermäßigten Eintritt und ein Stadionheftchen, ohne lästige Gegenfragen beantworten oder Nachweise erbringen zu müssen. Auf den sündhaft süßen Donut eines Sponsoren verzichte ich höflich und bereite mich gedanklich auf die Partie vor. Schon im Hinspiel war FUDU übrigens Zeuge einer geschlossenen Mannschaftsleistung der Staakener geworden, die dazu führte, dem Staffelfavoriten aus dem Mommsenstadion einen Punkt abzuluchsen.

Besondere Brisanz erfährt die heutige Partie dadurch, dass es am 10.05.2018 im Rahmen des U19-Pokalfinales, welches Tennis Borussia letztlich mit 2:1 für sich entscheiden konnte, zwischen Staakener und Charlottenburger Fans zu Handgreiflichkeiten samt Polizeieinsatz gekommen war. Die Ursache für die Auseinandersetzung ist dem Autor nicht bekannt, es steht aber die Vermutung im Raum, dass irgendein Staakener Senior zu oft „negativ“ gesagt hat oder schlecht über seinen Urlaub auf Lesbos gesprochen hat. Irgendein Moralapostel vom Eichkamp wird dann schon im richtigen Moment genau das gehört haben, was er gerne hören wollte.

Trotz der Vorzeichen gibt es heute keine sichtbare Polizeipräsenz auf dem Kunstrasenplatz mit vielleicht 200 Sitzschalen und der breitensporttypischen Reling zum Abstützen. Tennis Borussia ist mit annähernd 150 Mensch*innen angereist, die sich im Verlauf des Spiels aber jedweden akustisch vernehmbaren Supports verwehren werden. Cheftrainer Thomas Brdarić hat indes unlängst bekanntgegeben, dass er Tennis Borussia als Sprungbrett in den höherklassigen Fußball nutzen und zu Rot-Weiß Erfurt wechseln wird und auch der Aufstieg in die Regionalliga ist in weite Ferne gerückt. Am letzten Spieltag der Oberliga-Saison führt Optik Rathenow die Tabelle nahezu uneinholbar an. Tennis Borussia fehlen vor Anpfiff der Partie drei Punkte und stolze 11 Tore, um die Optiker in einem furiosen Schlussspurt abfangen zu können.

Aber was kümmern mich am Wochenende schon die Probleme anderer, denke ich mir, während ich mich dazu entschließe, mir noch eben schnell eine Sucuk vom Grill im Brötchen mit geheimer Soße aus dem Plastikeimer für sehr kulante 1,50 € und ein Bier der Marke „Schaumparty“ für alles relativierende 2,60 € zu gönnen.

Das Spiel beginnt. Schon in den ersten fünfzehn Minuten lässt Tennis Borussia eine „All-In-Mentalität“ vollends vermissen. Anstatt alles nach vorne zu werfen, um das Wunder zu ermöglichen, erlangt man stupide Spielkontrolle durch Ballsicherheit und Quergeschiebe im Mittelfeld. Die ersten etwas mutigeren Angriffe samt zweier Abschlüsse können dann sogar die Staakener für sich verbuchen, die die Saison als Aufsteiger mit einem Sieg auf einem sehr guten 5. Rang beenden könnten. Im Hintergrund rauschen Fernzüge durch das Ambiente, während ein Kind vom Nebenplatz einen Ball über den Zaun auf das Oberliga-Spielfeld schießt und für eine Spielunterbrechung sorgt (24.). Spätestens jetzt fühlt man sich wie in der Kreisliga, konterkariert durch einen TeBe-Fan, der einen Staakener Kleingärtner stolz darauf hinweist, dass ihr Trainer einst Nationalspieler war.

In einem ansonsten ereignisarmen Spiel wird eine vermeintliche Abseitsfehlentscheidung des Linienrichters zum größten Aufreger der ersten halben Stunde. Hätte er die Fahne nicht gehoben, wäre Staakens Stürmer urplötzlich im 1:1 Duell mit TeBe-Keeper Flauder gewesen. So aber bleibt für den Stadionsprecher genügend Zeit, die Berliner A-Jugend-Meisterschaft zu feiern – mit einem 3:3 Remis gegen den Frohnauer SC hatten die Staakener Jungspunde um 11.00 Uhr den Aufstieg in die Regionalliga perfekt gemacht. Die Flanke, die abgefälscht durch ein TeBe-Bein in der 36. Minute beinahe im Gehäuse der Charlottenburger eingeschlagen wäre, geht im Hupkonzert einiger A-Jugendlicher unter, die den Platz noch während der ersten Halbzeit mangels Interesse verlassen.

Sie verpassen, wie auch die Borussen zu leidtragenden der Entscheidungen des Schiedsrichtergespanns werden. In der 52. Minute pfeift Referee Wessel einen lupenreinen Vorteil ab und nimmt TeBe so die Chance, einen brandgefährlichen Konter auszuspielen. Vier Minuten später scheitert Rockenbach da Silva per Kopf – und dann ist es vorbei mit der lila-weißen Herrlichkeit. Spätestens als Gigold mit seinem 20. Saisontreffer in der 62. Minute mit Hilfe des Innenpfostens die Führung gelingt, sind hier alle Messen gesungen. Schön, dass sich die verliebenden A-Jugendlichen nun an die Auseinandersetzungen im Berliner Pokalfinale erinnern und bierselig die eine oder andere Provokation von der Reling auf den Breitensportkunstrasen entsenden. TeBe-Vollprofi Iyad Al-Khalaf lässt sich nicht zwei Mal bitten und erhält nach einer Tätlichkeit sowie stattlichen Spuckens in das Publikum eine rote Karte.

Plötzlich fühlen sich die 150 Tennisnasen unheimlich unfair behandelt und man unterstellt den Gastgebern zum Himmel schreiende Unsportlichkeit. Natürlich stellt man noch einmal zur Schau, dass man wegen des Finales über die Maße nachtragend ist, vermutlich besonders wegen des Lesbos-Skandals. Dass genau diesen Grantler*innen das 0:2 durch Engel in der 79. Minute vollkommen egal ist, passt nur in das bereits fertiggestellte Bild. Fußball ist denen wirklich nicht sonderlich wichtig.

11 Minuten später steht fest: Tennis Borussia ist der Klassenerhalt gelungen. Ich gratuliere herzlich und verlasse den Sportpark mit einem weiteren Schaumbier in der Hand. Nur wenige Minuten später treffe ich vor der Sportanlage auf den ungeduschten Karim Benyamina, der offenbar auch nicht länger in Staaken verweilen will, als nötig. Vor seinem unprätentiösen Oberliga-Mustang verwickele ich ihn in ein kurzes Gespräch: „Da haben sie dich ja ganz schön in der Luft hängen lassen da vorne!“ – „Ja, was soll ich machen, ich bin 37!“ – „War trotzdem schön, Dich mal wieder spielen zu sehen, Eisern bleiben!“, woraufhin Karim sich ein Grinsen nicht verkneifen kann und mit einem „Eisern“ zurückgrüßt, während 2-3 TeBe-Gestalten ungläubig guckend an mir und ihrem Starstürmer vorbeihuschen.

Mir bleibt nun genügend Zeit, das vorbereitete Sightseeing in Staaken-Hahneberg bei bestem Wetter abzuspulen. Gartenstadt, Dorfkirche, Mauerweg. Eine Gedenktafel erinnert an Dieter Wohlfahrt, der am 09.12.1961 als Fluchthelfer von DDR-Grenzposten erschossen wurde. Wahrlich, manchmal gibt es eben doch wichtigeres als Fußball – es sei denn, man ist gerade beim Fußball. Und so werfe ich nur noch einen kurzen Blick auf das Fort Hahneberg von 1888 und halte dann fest: Staaken-Hahneberg. Ein guter Ort, um wieder fort zu fahren. Oder eben schlicht und ergreifend: Der Alptraum unserer Jugend. /hvg