574 574 FUDUTOURS International 26.04.24 05:16:29

01.05.2016 Juventus FC – Carpi FC 2:0 (1:0) / Juventus Stadium / 40.316 Zs.

Es ist der 01. Mai 2016. Tag der Arbeit. Glücklicherweise haben wir heute keine und so verlassen wir unsere Hotelbetten in Brescia tiefenentspannt, um nur kurz darauf noch einmal in den Genuss des U-Bahn-Netzes der Stadt zu kommen. Als wir den Zug am Hauptbahnhof verlassen, haben sich zwei Ticketkontrolleure an den Ausgang des Bahnhofs postiert. Wir zeigen pflichtbewusst unsere Billets, während eine Oma mit Regenschirm schnurstracks an den beiden Ragazzi vorbeizieht. Diese geben sich nur kurz Mühe, die Signora anzuhalten, ihren Fahrschein nachzuweisen, doch die Dame ohne Ticket sitzt am längeren Hebel. Ihre Schimpftiraden zünden eingangs nicht vollends, doch die nun folgende Drohgebärde unter Einsatz des Regenschirms kann die beiden Kontrolleure überzeugen, sie endgültig passieren zu lassen.

Beschwingt von diesem italienischen Moment am frühen Morgen nehmen wir gelassen zur Kenntnis, dass unser Zug nach Torino 20 Minuten Verspätung haben wird. Wir füllen das Zeitfenster abermals sinnvoll, indem wir in der Bahnhofspinte zwei Peroni à 0,66 Liter und Sandwiches, die nummerisch zu unseren Sitzplätzen passen, käuflich erwerben und zunächst in den Rucksäcken verstauen. Wir brausen zwischen Novara und Vercelli an matschigen Feldern vorbei. Erste Scherzraketen werden gezündet: Ist unser Zug entführt worden? Good Morning, Vietnam! Ein Blick in den Reiseführer verschafft dann aber schnell Klarheit. Es handelt sich tatsächlich um Reisfelder, die wir beide nicht in Italien verortet hätten. Aber gut, auf die Querverbindung hätte man kommen können, schließlich schnippelt der Italiener an sich gerne ein paar Funghi in Pampe und nennt das ganze dann Risotto, welches hier offenbar direkt aus der Suhle gefischt werden kann.

Nach nur knappen zwei Stunden Fahrt erwacht ein latenter Bierdurst innerhalb der Reisegruppe und schon hat diese im Frecciabianca folgende kniffelige Aufgabe zu lösen:
Wenn wir um 10.00 Uhr das Bier öffnen und fahrplanmäßig um 10.50 Uhr in Torino ankommen und wir in dieser Zeit je 0,66 Liter Bier zu uns nehmen müssen, in welchen Zeitabständen müsste man einen Shot trinken, um innerhalb von 50 Minuten die Gesamtmenge Bier zu tilgen? Die im Zug errechnete Antwort: Alle drei Minuten und zwölf Sekunden, so man von einem Shot mit 4 cl ausgeht. Vielleicht hätte mir Mathe damals auf diese Weise auch schon Spaß bereitet.

Und während ihr noch so nachrechnet, ob das auch nur ansatzweise stimmen kann, sitzen wir bereits im Linienbus zum Delle Alpi. Genaugenommen stehen wir im Linienbus, der ziemlich voll ist und genaugenommen geht es auch nicht zum Delle Alpi, sondern zum Nuovo Delle Alpi, welches offiziell unter dem schmuckvollen Namen Juventus Stadium firmiert. Im Bus werden wir recht bald von einem Italiener in ein Gespräch verwickelt, der aktuell im Rahmen eines Auslandssemesters in Reutlingen (!) studiert und zunächst vorgibt, einer der größten Juve-Tifosi weltweit zu sein, dann aber relativ schnell klein bei gibt, als er feststellt, dass wir in den vergangenen zwei Spielzeiten aus Deutschland kommend wesentlich mehr Spiele der alten Dame live im Stadion gesehen haben als er – und das, obwohl er lange Zeit in Italien gelebt hatte. Er verspricht uns, dass die „Stimmung heute eine Bombe“ werden wird und seine Vorfreude auf das Spiel ist nahezu mit Händen zu greifen.

Auch wir sind guter Hoffnung, heute ein besonderes Spiel erleben zu dürfen. Bereits vor Wochen kämpfte ein Software-Spezialist in einem Berliner Büro einen ganzen Vormittag lang mit der F5 Taste gegen die italienische Listicket-Plattform. Mit dem Ergebnis, am Ende des Tages zwei Tickets in zwei verschiedenen Blöcken auf zwei verschiedenen Tribünen zu stattlichen Preisen käuflich erworben zu haben. Ich lege schmale 75 Taler auf den Tisch, der Juventino gar 85. Egal. Das Stadion ist restlos ausverkauft. Ganz Torino scheint diesem Spiel entgegenzufiebern. Juventus ist seit dem vergangenen Spieltag offiziell italienischer Meister und so hoffen wir, dass das Heimpublikum seine Helden 90 Minuten lang frenetisch bejubelt und am Ende des Tages der Scudetto emporgereckt wird, inklusive KonFETTIkanonen und „We are the Champions!“ vom Band.

Nun entlassen wir aber erst einmal unseren Reutlinger Freund aus dem Gespräch und umkreisen die Arena auf der Suche nach dem Kassenhäuschen, an dem wir unsere Tickets entgegennehmen können. Das Juventus Stadium sieht von Außen so aus, wie ein modernes Stadion eben so aussieht, lediglich das wunderbare Alpenpanorama überzeugt. Ein Vorteil des Neubaus ist der Standort – die Arena wurde nicht irgendwo an einer Autobahn errichtet, sondern exakt an der selben Stelle des alten Stadions. Noch mehr Pluspunkte gibt es dann für die erfolgreiche Kartenübergabe. Ich sitze in Reihe 13, Platz 12 und bin in Gedanken plötzlich bei Freunden in Kreuzberg. Nächstes Jahr bin ich dann wieder mit von der Partie, Leute!

Mein Bruder und ich verabschieden uns an einem Imbissstand voneinander, den wir gleichzeitig zu unserem späteren Treffpunkt deklarieren. Ich passiere eine erste Sicherheitsschleuse, wofür das Zeigen der Eintrittskarte ausreicht. Kurz darauf folgt Kontrolle Nummer zwei: Ich habe noch immer das richtige Ticket, doch obendrein erfolgt ein oberflächliches Abtasten. Auch dieses bestehe ich erfolgreich und erreiche nun Level Drei: Oha, der Endgegner. Dieser will das Ticket sehen, mich abtasten UND in meinen Rucksack schauen. Es kommt, wie es kommen muss und Mario Montanari hat etwas zu monieren. Mit meiner bedrohlichen wurstgefüllten Tupperdose schickt er mich mit einem müden Lächeln zurück zu Sicherheitsschleuse Uno.

Hier deponiere ich die Dose mittenmang hunderter Trinkflaschen, anderer Verpflegungspakete und unzähliger Regenschirme auf offener Straße, reihe mich erneut in die Schlangen ein und lasse die dreimalige Prozedur abermals über mich ergehen. Dieses Mal erfolgreich, sodass ich wenige Minuten vor Anpfiff Platz im Stadion nehmen kann – gerade noch rechtzeitig zur großartigen und von 40.000 Menschen emotional mitgeschmetterten Juve-Hymne („Storia di un grande Amore!“)!

Das Juventus Stadium sieht von Innen so aus, wie eine moderne Arena eben so aussieht. Zwei Sitzplätze bleiben neben mir frei und so informiere ich meinen Bruder gegenüber per SMS, ob er nicht die Seite wechseln und sich dem Endgegner stellen mag. Er verzichtet jedoch dankend, nicht ohne über Listicket zu schimpfen, die mit ihrer katastrophalen Plattform abermals dafür gesorgt haben, dass das Stadion eben NICHT ausverkauft ist. Mehrere Plätze auf den Tribünen bleiben verwaist, ins Besondere im Oberrang hinter dem Tor und nahe des VIP-Bereiches klaffen deutliche Lücken. Ansehnlich gefüllt ist hingegen der Gästeblock des Carpi FC. Schön wäre es, wenn diesem italienischen Fußballmärchen (Dorfclub steigt von der 4. bis in die 1. Liga auf und nimmt einige Spieler den gesamten Weg über mit) mit dem Klassenerhalt ein letztes gelungenes Kapitel hinzugefügt werden könnte…

Das Spiel ist recht schnell zusammengefasst: Es spielt der bereits feststehende Meister gegen einen Verein, der um das Überleben in der Serie A kämpft. Die Hausherren bieten (auf dem Platz und auf den Rängen) nicht ihre allererste Garde auf und tun nur das Nötigste, während sich Carpi (auf dem Platz und auf den Rängen) mit Händen und Füßen wehrt, sich selbst einige Chancen erspielt und so zurecht lange Zeit Hoffnung auf einen Punkt haben darf. Nachdem Juve durch Hernanes in der 42. Minute per Fernschuss das 1:0 gelingt, rufen sie jedoch nach und nach ihre Qualität ab, spielen mit großer Leichtigkeit und das eine oder andere technische Schmankerl wird dem Publikum feilgeboten. Zunächst bereitet es große Freude, diesem Zirkus zuzusehen, aber mit der Zeit lässt die Begeisterung nach. Juve wirkt müde, das Publikum satt, die Stimmung im weiten Rund bewegt sich nunmehr auf dem Niveau eines Freundschaftsspiels. Einen Schreckmoment gibt es, als Pogba ohne Einwirkung des Gegenspielers plötzlich auf dem Feld zusammensackt. Der Sportmediziner in mir konstatiert: entweder ist nichts passiert – oder Kreuzbandriss. Auch ganz Frankreich hält kurz vor der EM den Atem an und glücklicherweise steht der Topstar nach wenigen Augenblicken wieder auf den Beinen. Als dann in der 60. Minute nach minutenlanger Stille „La Ola“ durch die Arena schwappt, beginnt mein Herz deutlicher für den Underdog zu schlagen. Nach 75 Minuten hätte sich Carpi den Ausgleich verdient gehabt, doch im Stile einer absoluten Spitzenmannschaft verwertet Zaza per Kopf einen wie am Reißbrett entworfenen Konter zum 2:0. Jetzt bringt nur noch der Schiedsrichter etwas Farbe ins Spiel, indem er ab der 85. Minute plötzlich wie wild mit gelben Karten um sich wirft. Da musste wohl noch irgendeine Quote erfüllt werden.
Das Spiel wird abgepfiffen, das Stadion leert sich. Nichts mit Konfettikanonen, nichts mit Scudetto-Übergabe.

Etwas enttäuscht schleiche ich aus dem Stadion und finde an der ersten Einlassschleuse zu meiner Überraschung meine Tupperdose samt Inhalt wieder. Ein Lächeln kehrt auf mein Gesicht zurück – endlich deutsche Wurst, endlich Piemontkirschen für Fetti! Weiter geht’s zum Imbissstand, an dem mein Bruder, ebenfalls etwas enttäuscht ob der Darbietungen im Stadion, bereits auf mich wartet. Bei ein-zwei Bierchen und Salsiccia-Snack ist das Spiel schnell ausgewertet.

Am Bahnhof Torino Porta Susa steht bereits unser Bus nach Milano-Malpensa zur Abfahrt bereit. Der Busfahrer ist nicht fingerfertig genug, um unsere Fahrkarten an der gestrichelten Kante per Abriss zu entwerten. Nachdem er erfahren hat, dass wir aus Berlin kommen, stellt er Querverbindungen zu Osteuropa her und stammelt wirres Zeug auf russisch und erzählt etwas über Warszawa. Freunde, wenn ihr mich fragt: Der ist betrunken. Aber das hier heute Abend eben leider auch unsere einzige Möglichkeit, noch zum Flughafen zu gelangen. Glücklicherweise liegt mein Testament bereits vollständig ausgefüllt im Safe meines rumänischen Kassenwarts.

Im Bus verschaffe ich mir zunächst einen Überblick. Es gibt keine Toilette und wir haben knappe zwei Stunden Busfahrt vor der Brust. Psychoterror. Kalter Schweiß. Zitterige Hände. Ich fange an, an den Nägeln zu knabbern. Und es kommt, wie es kommen muss: Nur 25 Minuten nach Abfahrt drücken die zwei Bier dermaßen auf die Blase, dass ich ausschließlich an Flushing Meadows denken kann. Wenigstens ist der gesamte hintere Teil des Busses menschenleer und ich male mir bereits aus, wie es mir gelingen kann, meine Notdurft zu entrichten, ohne dass der betrunkene Fahrer es merkt – als dieser plötzlich auf der Autobahn in zweiter Spur hält und wortlos den Bus verlässt. Aus dem Fenster sehe ich ihn noch mit einer Rolle Toilettenpapier in einer Unterführung verschwinden und jubiliere. Jawohl, wir Sprittis halten eben zusammen! Ich eile aus dem Bus, nutze den außerplanmäßigen Stopp ebenfalls und kehre hochgradig erleichtert auf meinen Platz zurück. Die restlichen 1h35min gehen leicht von der Hand…

… der Fußweg vom Flughafen in unser Flughafenhotel dann eher nicht so. Zwischenzeitlich sind wir uns nicht mehr in Gänze sicher, ob wir uns noch auf Wegen befinden, die man betreten darf, oder ob wir Gefahr laufen, von der italienischen Luftwaffe mit Risotto attackiert zu werden. Irgendwann kurz vor Mitternacht erreichen wir unsere Billigabsteige, die dann aber mit einem Concierge aufwartet, der offenbar in einem früheren Leben in einem fünf-Sterne-Ressort arbeitete und uns nun auf Wunsch Tramezzini zubereitet und uns für den kommenden Morgen einen Shuttle zum Flughafen organisiert, telefonischer Weckservice inklusive. Da kann man nicht meckern.

Wir genießen unser Toastbrot im Schein einer Lampenattrappe. Die Nacht ist kurz, aber erholsam. Die Taxifahrt am nächsten Morgen ebenfalls, da uns unser Fahrer wortlos in der Lobby empfängt, unser Gepäck wortlos in seinem Auto verstaut, uns wortlos 10 Minuten zum Flughafen fährt und uns dort wortlos aus seinem Auto entlässt. Über seinem Gehirnbehälter schwebt eine Sprechblase: Am Montag um 4.30 Uhr zum Flughafen? Muss das denn sein, ihr Assis?

Ja, muss sein. Irgendwann muss FUDU schließlich auch mal Geld verdienen. Beispielsweise am 02.05.2016. Tag der Arbeit eben. /hvg

30.04.2016 Brescia Calcio – Vicenza Calcio 0:1 (0:0) / Stadio Mario Rigamonti / 7.557 Zs.

Endlich haben es die Spielplanmacher der DFL einmal gut mit uns gemeint. Mein Herzensverein erhält ein Heimspiel am Freitagabend gegen den VfL Bochum und schon tut sich im Anschluss ein zweitägiges Zeitfenster auf, das mit adäquatem Inhalt gefüllt werden mag. Schnell entschließen sich mein Bianconeri-Bruderherz und meine Person, einen spontanen Abstecher nach Italien zu unternehmen, um Juventus zu Hause spielen sehen und auf dem Weg dorthin noch ein zweitklassiges Vorspiel mitnehmen zu können.

Am Samstagmorgen landen wir in Bergamo, der Stadt, in der ich mich dank Ryanair mittlerweile mit verbundenen Augen bewegen kann. Der obligatorische Stadtbummel ist schnell erledigt und schon sitzen wir bei strahlendem Sonnenschein frühstückend in den Straßen der norditalienischen Stadt. Wenig später hocken wir mit zwei kiffenden Afrikanern auf dem Bahnsteig und warten auf unseren Zug nach Brescia. Die erste Etappe wird in einer Regionalbahn zurückgelegt, in der wir lernen, dass das italienische Wort „fallo“ offenbar nicht nur das „Foulspiel“ auf dem Fußballfeld bezeichnet, sondern auch in anderen Alltagssituationen Fehlverhalten benennt. Hier und heute belegt der Schaffner jedenfalls zwei schwarzfahrende Jugendliche mit eben diesem Wort und bittet sie zur Kasse.

Vor unserem Umstieg in den nächsten Zug haben wir einige Minuten Zeit, die FUDU natürlich nutzt, um in den Bahnhofskiosk einzukehren. Mit zwei 0,66 Liter Flaschen Peroni wird der Rucksack zwar etwas schwerer, die Vorfreude auf die Weiterfahrt aber größer. Die einfahrende Bahn ist dann leider so überfüllt, dass es für uns nur zu einem Stehplatz im Gang reicht. Das Bier trinken wir immer dann, wenn für wenige Augenblicke genügend Spielraum entsteht, die Flasche zum Mund zu führen. Dabei werden wir von den Italienern so angeschaut, wie man in Italien nun einmal angeschaut wird, wenn man anstelle eines feinen Weines ein Bier trinkt. Und dann auch noch in der Öffentlichkeit. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass die Italiener Bier in 0,66 Liter Flaschen füllen, um genau diesen Blicken weiteres Futter zu liefern: Was für Bauern. Bestimmt Deutsche.

Diesen Fauxpas (oder: fallo) machen wir wieder wett, als wir kurz darauf kulturinteressiert durch die Gassen von Brescia stromern. Schnell stellt sich heraus, dass wir von der Architektur Brescias begeisterter sind, als wir dies laut  des vorab bei ebay ersteigerten Reiseführers sein dürften. Hier heißt es beispielsweise über den Dom, den wir imposant finden: „Mit ihrem Stilgemisch und ihrer Massigkeit kann die 1604 begonnene, komplett aus strahlend weißem Botticino-Marmor gestaltete Kirche letztlich wenig überzeugen“. Auch mal eine Marktlücke – der ehrliche Reiseführer.

Besonders angetan hat es uns das U-Bahn-Netz der Stadt. Brescia ist eine der kleinsten Städte Europas, die über ein solches verfügt. Erst 2013 wurde dieses fertiggestellt und soll dank vollautomatisch fahrender Züge den Stadtverkehr entlasten. Wir gönnen uns eine Fahrt zum Hotel, sitzen wie die kleinen Kinder direkt hinter der Frontscheibe des ersten Wagens und spielen Zugführer.

Das Hotel erreichen wir aufgrund der schnellen unterirdischen Passage der Stadt noch vor der vereinbarten Check-In-Zeit und müssen nun den Rezeptionisten herbeiklingeln. Dieser ist so freundlich, eilt aus einem Nebengebäude herbei und empfängt uns trotz unserer deutschen Überpünktlichkeit herzlich. Das Lachen vergeht ihm auch nicht, als er feststellt, dass er auf die Schnelle kein Wechselgeld finden kann. Kurzerhand entschließt er sich, uns das Zimmer ein wenig günstiger zu überlassen, damit wir passend zahlen können. Gute Lösung!

Wir schauen auf die Uhr. Nur noch 25 Minuten bis zum Anpfiff und laut Stadtplan ist doch noch ein Stückchen Hauptstraße abzulaufen. Wir hetzen durch die Nachmittagssonne und werden erst dann vorsichtig optimistisch, dass wir es noch pünktlich zum Anpfiff schaffen, als ein Familienvater mit Sohn und Brescia-Schal auf eine Art Feldweg abbiegt. Geheimweg, Abkürzung, FUDU ist dabei und folgt unauffällig. Wenig später sehen wir die Flutlichtmasten des Stadions, noch zehn Minuten bis zum Anpfiff, jetzt noch schnell eine Eintrittskarte besorgen. Die Kassen vor dem Stadion sind jedoch verschlossen, auch hinter der Kurve gibt es keine Eintrittskarten zu erwerben. Es sind nur noch acht Minuten bis zum Anpfiff übrig, als wir erfahren, dass es Tickets nur in einem Container auf der Hauptstraße gegenüber der Schwimmhalle zu erwerben gibt. Klar, liegt ja auch auf der Hand. Warum sollte man die Karten für das Spiel auch direkt vor dem Stadion in den Kassenhäuschen verkaufen, wenn man nicht auch einen Container in zwei Kilometern Entfernung auf die Straße stellen kann?

FUDU et la Famiglia hetzt also zurück. Etwas fluchend, aber auch etwas grinsend über diese Kuriosität, muss man wohl von einer emotionalen Unausgewogenheit sprechen. Diese hat sich aber nur wenig später wieder austariert, da unter dem Strich steht: Wir sind in Italien. Bei 25 Grad und Sonnenschein. Gibt schlimmeres. Und nur wenige Minuten nach Anpfiff betreten wir das Stadion des italienischen Zweitligisten Brescia Calcio, der heute Vicenza Calcio zum Stelldichein erwartet.

Das Stadion hat eine wunderbare alte Bausubstanz zu bieten, die jedoch auf zwei Seiten optisch durch Stahlrohrtribünen malträtiert wird. Während die alte Haupttribüne in ihrer ursprünglichen Form genutzt wird, erweitert eine Behelfstribüne hinter der Gegengeraden die Kapazität des Stadions zu Lasten der Optik. Die Fanszene Brescias steht komplett in blau und weiß gekleidet hinter dem Tor, ebenfalls auf einem Stahlrohrungetüm, welches vor die alte Kurve in den Innenraum des Stadions gestellt worden ist. Nicht so schön auch der permanente „Klapperkrach“, den die Zuschauer auf der Geraden erzeugen, indem sie auf die Bleche trampeln und mit den Händen gegen die Alu-Balustraden trommeln. Lediglich die Fankurve sorgt für echte Fußballatmosphäre, doch die vielen Gesänge und Parolen entweichen in Ermangelung eines Daches zu schnell in das weite Rund und das umliegende Gebirge.

Das Niveau des Spiels passt sich dann nahtlos dem Stadionambiente an und reißt einen nicht von den Sitzen. Vicenza versucht es mit schnellen Abschlüssen aus allen Lagen und Distanzen und wirkt durch diese Aktivitäten noch etwas mehr so, als könnten sie in der Lage sein, ein Tor zu erzielen. Wie schon in Livorno zu Ostern braucht es für dieses Erfolgserlebnis im italienischen Unterhaus dann aber doch 94 Spielminuten und einen Elfmeterpfiff. Vicenza fährt durch einen verwandelten Strafstoß einen nicht ganz ungerechtfertigten Auswärtsdreier ein.

Während die Spieler der Heimmannschaft mit Applaus von ihrer Kurve verabschiedet und aufgemuntert werden, lassen es sich die siegreichen Gästeakteure nicht nehmen, vor ihrer komplett verwaisten Fankurve eine Welle zu zelebrieren. Die Nichtexistenz von Auswärtsfans ist ja noch lange kein Grund, nicht angemessen vor dem Block zu feiern.

Nach dem Spiel genießen wir noch einmal das Leben in Brescias Altstadt, besichtigen das Castello, welches zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und kehren schließlich in einem Bistro ein, welches uns dadurch überzeugt, dass das Titelbild der Speisekarte ein Eis leckender Hund ziert. Mehr Qualität kann man nicht erwarten und so klingt der laue Frühlingsabend mit Bier und Imbiss zu Fuße des Kastells von Brescia aus… /hvg

26.03.2016 AS Livorno – FC Pro Vercelli 1892 0:1 (0:0) / Stadio Armando Picchi / 6.891 Zs.

Kurz vor Ostern sitze ich mit einigen Freunden und Bekannten im Kino Babylon. Im Rahmen des Fußballfilmfestivals „11mm“ genießen wir den Streifen „Una meravigliosa stagione fallimentare“. Der großartig gemachte Film begleitet den am Boden liegenden AS Bari durch eine Saison, für die es kein besseres Drehbuch hätte geben können und die entgegen aller Erwartungen am Ende beinahe mit einem Aufstieg in die Serie A endet. Wenn man nach diesem Film keine Lust verspürt, sich italienischem Zweitligafußball zuzuwenden, dann sind Hopfen und Malz wohl verloren…

So also besteige ich nur wenige Tage später ein Beförderungsmittel meiner irischen Lieblingsfirma und düsenjette nach Bergamo. Seit meinem Ausflug nach Malta via Bergamo im Oktober berichte ich immer wieder gerne, wie ich mir nachts am Flughafen ein spektakuläres Wettrennen mit einer jungen Dame um die wirklich einzige Steckdose geliefert habe. Die Geschichte endete damals so, dass Krystyna aus Katowice knapp gewann, wir aber zwei nette Stunden gemeinsam an der Steckdose herumlungerten und am Ende nicht nur die Handys voll waren. Sei es wie es sei: DIE Steckdose am Flughafen Bergamo gibt es aktuell leider nicht mehr. Das Café ist hinter Pressspanplatten verschwunden und wird offenbar saniert, was mich heute aber nicht weiter stört, da meine Weiterreise nach Livorno per Zug unmittelbar bevor steht.

In Milano Centrale steigen dann Mutti (überschminkt) und Tochter (überschminkter) zu. Aufgrund der Anzahl der Tüten ist zu befürchten, dass die beiden die gesamte Innenstadt leer gekauft haben. Das Platzangebot im Frecciabianca minimiert sich deutlich und mir fällt es angesichts des Outfits und des Habitus der beiden unheimlich schwer, wegzugucken.

Glücklicherweise bin ich gerade einmal vier Stunden später bereits in der Toskana angekommen. In Livorno begrüßen mich etwas Abendsonne, Palmen vor dem Bahnhof und zum seichten Einstieg in das italienische Verkehrschaos zwei Kreisverkehre ohne Fußgängerüberwege, die es direkt vor dem Bahnhofsgebäude zu überqueren gilt. Ich mache auf der anderen Seite angekommen drei Kreuze, dass ich den Auftakt in dieses Abenteuer überlebt habe und vergleiche aktuell ersichtliche Straßennamen mit meinen handschriftlichen Notizen bezüglich der Anreise zum Hotel. Keine Übereinstimmungen soweit.

Schnell stellt sich heraus, dass in Livorno offenbar niemand in der Lage ist, mit mir in englischer Sprache zu sprechen, aber wirklich alle Menschen, die ich im Verlauf des folgenden völlig planlosen Spaziergangs um Hilfe bitte, kommunizieren in irgendeiner Form mit mir. Auf Italienisch in erster Linie, gerne auch etwas lauter werdend, sobald Verständnis dafür eingekehrt ist, dass ich nichts verstehe. Mit wilden Gesten und Handzeichen. Mit Geleitschutz, mit Stadtplaneinsichten auf dem Smartphone. Von einer alten Dame werde ich sogar kurzzeitig an die Hand genommen. Als ich nach gut 90 Minuten Irrweg mein Hotel erreicht habe, bin ich bereits in Livorno verliebt.
Am nächsten Morgen wächst diese Liebe ins Unermessliche, als die Grand Dame des Hauses hinter der Rezeption hustend im Morgenmantel aus ihrem Raucherkabuff schleicht. Einen Stadtplan hat sie nicht, Englisch kann sie nicht, sie lacht, die Sonne scheint, a dopo!

So verbinde ich also das Angenehme mit dem Nützlichen und ich streife auf der Suche nach Tourismusbüro und Livorno-Eintrittskarte bei bestem Wetter durch die Gassen der Stadt, über große Plätze, entlang diverser Wasserstraßen, kehre in der wunderbaren Markthalle ein und werfe einen Blick auf den Hafen und die riesigen Kreuzfahrtschiffe.

Der Eintrittskartenkauf scheitert in einer Art Lotto-Geschäft im ersten Versuch daran, dass die Ticketmaschine angeblich defekt sei. Immerhin habe ich kurz darauf das Tourismusbüro gefunden und muss für einen Stadtplan vom Abreißblock 0,50 € zahlen, wofür sich die freundliche Dame beinahe entschuldigt und mich zur Wiedergutmachung mit wesentlich höherwertigen Informationsbroschüren, die paradoxerweise kostenlos sind, eindeckt. Auf meine Frage, wo sich in der Stadt das Fußballstadion befände, schmunzelt sie und sagt: „Nobody ever asked that before“, doch nach kurzer Suche hat sie mir einen Kugelschreiberkringel um das Armando Picchi gesetzt. „Can I reach the Stadium by foot?“, frage ich – „Of course, you can. You are young and you have legs!“, antwortet sie spitzfindig. Ach, wie Recht sie doch hat…

Der zweite Versuch im selben Zeitungskiosk kann dann erfolgreich gestaltet werden. Der Mitarbeiter mit der Schicht nach der Siesta weiß von der defekten Ticketmaschine nichts und nimmt freundlich meine Daten auf. Er empfiehlt mir die überdachte Haupttribüne, weil man dort keine Sonne abbekäme. Ich deutsche Kartoffel tippe mit dem Finger nun immer energischer auf die „Tribuna Gradinata“ auf der vor mir liegenden Stadionübersicht. Gegengerade, unüberdacht, gib mir ganz viel Sonne für 23,00 €, Ragazzo! Freundlicherweise weist er mich noch auf eine Ticketaktion des AS hin, im Zuge derer man heute für nur 5,00 € einen Freund mit in das Stadion nehmen könnte. Gut, das kopulierende Pärchen im Hotel nebenan hat gestern Nacht einige intime Details mit mir geteilt (Versager!), doch Freundschaften sind so schnell leider nicht entstanden und so muss ich dem nett gemeinten Angebot leider eine Absage erteilen. Nur wenige Augenblicke später rattert mein Ticket aus der defekten Maschine und ich begebe mich jugendlich frisch und mit meenen molto bene (zwee an der Zahl) auf den Weg in Richtung Stadion.

Ich flaniere die Strandpromenade „Lungomare“ entlang. Eingesäumt von Palmen, das Meer zu meiner rechten, die ballernde Sonne von vorne, lege ich auf der „Terrazza Mascagni“ auf halber Strecke einen Halt ein und sauge so viel positive Energie wie möglich auf. Wenn der Weg zum Stadion meines Herzensvereins alle 14 Tage doch bloß genau so aussehen würde…

Kurz darauf erspähe ich die Flutlichtmasten des Armando Picchi am Horizont. Bei über 20 Grad finden es die Einheimischen doch noch etwas frisch und so ziehen diese teilweise mit Jacke, Kapuze und Handschuhen (!) ausgerüstet an mir vorbei. Ohnehin bin ich in meinem kalendarischen Gleichgewicht bereits irritiert. Hier in Livorno riecht es an vielen Stellen so, wie man es zu Hause dergestalt als untrügliches Zeichen für den Hochsommer deuten würde: Nach erwärmten Hundekot (der, wie ich als Hobbyveterinär anzumerken habe, häufig bedenkliche Konsistenz hat)! Und zur Krönung der Verwirrung erblicke ich in direkter Stadionnähe eine attraktive Dame, die zu „Conga“-Klängen von Gloria Estefan dem winterlichen Vergnügen des Eistanzes nachgeht – auf einer Betonfläche. Na, watten nu? Einigen wir uns einfach auf: Frühling.

Es flattern derweil SMS-Grüße aus den Stadien in Cloppenburg (mein Bruder) und Lichtenberg (mein Vater) ein. Mit den dort genannten Bierpreisen kann mein Stadion-Peroni (gekauft an einem griechischen Imbiss mit Aris Saloniki Wimpeln) für 2 schlanke Euro locker mithalten, welches ich noch vor Betreten des Blockes mit Blick auf die wunderbar bröckelnde „Tribuna Gradinata“ genieße. Der Ordner spricht leider kein Englisch, ich leider kein Italienisch. Aufgrund der klassischen Pattsituationen verzichtet er darauf, den Inhalt meines ostberliner Reisekoffers zu überprüfen. Netter Mann.

Blecherne Durchsagen wie an einem alten Bahnhof scheppern kurz darauf durch das weite Rund, während ich in der knallenden Sonne zwischen alten Herren Platz nehme. Schnell noch etwas Sonnencreme ins Gesicht, Gästefans durchzählen (49), Hopperspasti.

Das Spiel zwischen dem vom Abstieg bedrohten Gastgeber aus Livorno und dem FC Pro Vercelli, einer der ältesten italienischen Fußballclubs mit ruhmreicher scudettogekrönter Vergangenheit (7x Meister zwischen 1908 und 1922), beginnt. Es entwickelt sich ein zum Gähnen langweiliger Kick, da beide Mannschaften mit etlichen defensivorientierten taktischen Fesseln auflaufen. Es gibt kaum herausgespielte Torchancen, stattdessen häufen sich hilflose Weitschüsse aus abnormen Distanzen. Ein Akteur Livornos versucht es gar per Seitfallzieher aus gut 25 Metern. Nach 30 Minuten gibt es erste Pfiffe aus der weinroten Kurve, in der es übrigens keine deutlich linken Symboliken mehr zu sehen und leider auch keine bekannten Melodien zu hören gibt. Da hatte die 11 Freunde Redaktion, die den AS Livorno und seine Galionsfigur Cristiano Lucarelli vor gut 10 Jahren in wirklich jedem Heft als linkes Pendant zum Fußballkommerz in den Himmel gelobt hatte, wohl zu viel versprochen. Nach 45 Minuten verlassen erste Menschen fluchtartig das Stadion, was ich von meinem Platz am oberen Rand der Tribüne mit Blick auf den Stadionvorplatz gut beobachten kann.

Im zweiten Spielabschnitt wird das Spiel zwar etwas lebendiger, bleibt aber gleichermaßen fehlerhaft. Alles pendelt sich auf ein trostlos-torloses und gerechtes Remis ein, als der Herr Schiedsrichter in der 94. Minute den Gästen einen überaus zweifelhaften Handelfmeter zuspricht, den Marchi vewandeln kann. Livorno taumelt nun dem Abstieg entgegen, ich habe einen Sonnenbrand im Gesicht und mein Lachen über den eingewechselten Gästespieler Mattia Mustacchio verfliegt auch, als ich aus Nahdistanz konstatieren muss, dass dieser über gar keinen Schnurrbart verfügt. Blender.

Im weiteren Verlauf der Reise werde ich noch den Wirtschaftsflüchtling und seine charmante schottische Begleitung auf einen Espresso treffen und auf eigene Faust das Touristenmoloch Pisa besichtigen. Den schiefen Turm tragen alle auf Händen, nur ich wähle den fotografischen Blickwinkel der anderen Seite, sodass ich die Flutlichtmasten des örtlichen Fußballstadions mit im Bild habe. Kurz vor dem Rückflug vergeht mir erstmals die Lust auf Kackeland, als ich in einem Straßencafé ein Gespräch in einer mir vertrauten Sprache vernehmen muss. Szene ab:

Personen: Mutter (52), Sohnemann Jonathan (11) und Vater Klaus-Dieter (63):

M: „Jonathan, könntest Du mir einen Gefallen tun? Sei doch nicht immer dermaßen larmoyant! Und du Klaus-Dieter, geh doch bitte nicht immer darauf ein!“

V: „Jonathan, wo wir gerade dabei sind, tue mir doch bitte den Gefallen und führe die Speise zum Mund, nicht den Mund zur Speise!“

J: „Mama, Leonardo da Vinci kommt doch aus Florenz, oder?“

M: „Jonathan, nun überlege doch mal. DA Vinci. Was mag das wohl bedeuten? Selbstredend kommt Leonardo DA Vinci von, also aus, Vinci!“

Im Hintergrund habe ich soeben mein Bier und mein leckeres Mittagessen auf den Tisch gekotzt – und das noch bevor ich auch nur ahnen kann, dass auch die zweite Bekanntschaft mit einer Familie aus Kackeland eher anstrengend werden wird. Das weibliche Oberhaupt dieser hat nämlich am Flughafen in der easyjet-Schlange nichts besseres zu tun, als alle 30 Sekunden auf die Uhr zu schauen und zu bemängeln, dass dieser Flug wohl nicht pünktlich starten würde.

Gleichzeitig faucht sie in ähnlichen Zeitabständen Mann und Kind an, was diese zu tun und zu lassen hätten. Meine Fresse. Wahrscheinlich hat die Alte gerade 10 Tage Urlaub in der Toskana gehabt, hat trotz Aufenthalt in Italien nichts von all dem verstanden, was das Leben so ausmachen kann und unter dem Strich ist ihr offenbar nichts wichtiger, als auf die Sekunde pünktlich in ihr scheiß Spießerleben in Berlin-West zurückzukehren. Ich würge noch etwas Spinat nach. Nächstes Jahr schaukel ich mir wieder die Ostereier am Strand. Mit hoffentlich noch weniger Menschen, deren Sprache ich spreche und mit noch mehr Menschen, die ich verstehe. /hvg

07.02.2016 FC Basel – FC Luzern 3:0 (0:0) / St. Jakob-Park / 25.821 Zs.

Es ist relativ spät geworden, als wir am Samstag in unserem preisbewusst gewählten Hotel in Basel einchecken. Es verbleibt gerade noch genügend Kraft für eine Dusche in der legendären IBIS-Astronautenkabine, ehe die Klassenfahrt-Doppelstockbetten fair verteilt werden und das gute alte zdf-Sportstudio die Nachtruhe einläutet.

Als wir am nächsten Morgen erwachen, regnet es bereits in Strömen. Nur gut, dass wir beim Auschecken drei Tageskarten für den öffentlichen Nahverkehr Basels samt Stadtplan gratis an der Rezeption erhalten. Den Weg in die Stadt können wir so trocken und überdacht in der Straßenbahn zurücklegen, wobei wir nur wenige Sekunden nach Abfahrt von zivilen Kontrolleuren zum Vorzeigen unserer Billets aufgefordert werden. Von der uns kontrollierenden Dame erfahren wir, dass es uns 100 Franken gekostet hätte, wären wir ohne Fahrkarte unterwegs gewesen. Ihr Kollege trägt einen wunderbaren Hut, kann unsere darauf bezogenen Komplimente aber nur widerwillig annehmen. Am Ende des Vormittags werden wir alles gesehen haben, was Basel so zu bieten hat: Rathaus, Altstadt, Basler Münster, Theater und ein Hallenflohmarkt, dessen Kundschaft sehr an das szenige Kreuzberg erinnert, politisch korrekte zeitgemäße Versorgungsstände mit überteuerten Unnötigkeiten inklusive. Während eines Spaziergangs am Rhein fallen diverse Anti-Pegida-Plakate ins Auge, wobei ins Besondere der Slogan „Kartoffelauflauf? Kein Bock drauf!“ zu überzeugen weiß. Außerdem stellt die Basler Fähre eine Besonderheit dar, die Groß- und Kleinbasel verbindet und an einem Drahtseil befestigt die Strömung des Rheins zur Überfahrt nutzt. Eines dieser Holzboote legt offenbar seit 1877 direkt vor dem Münsterhügel an und geht somit als das wohl spektakulärste Kirchenschiff der Welt in die Notizbücher ein. Ganz nett, erledigt.

Spannender gestaltet sich in der Schweiz abermals die Suche nach erwärmten Nahrungsmitteln, die gegen 13.00 Uhr den aufkommenden Mittagshunger für unter 20 Franken zu stillen versprechen. Als vor der „Bierhalle zum braunen Mutz“ ein Sonntagsbrunch für 38 Franken beworben wird, schüttelt es uns ein wenig und gedanklich kehrt man bereits bei Mc-Donald’s ein, ehe man sich daran erinnert, dass man in Aarau selbst bei der königlichen Konkurrenz 18 Fränkli für das preiswerteste Fleischbrot der Karte und frittierte Kartoffelstangen gelassen hatte. Der bereits öffentlich angedrohte Hungerstreik FUDUs kann gerade noch so abgewendet werden, da sich ein Asia Bistro namens „Mr. Wong“ erbarmt, die Reisegruppe in Empfang zu nehmen. In der Kantinenküche mit Selbstbedienung gibt es beispielsweise Eierreis mit Hühnchen für geradezu freundschaftliche 14 Franken. Zugeschlagen, denkt sich da der Cateringverlierer und steuert sehenden Auges zielstrebig in das nächste kulinarische Verderben. Während sich die hoolde Maid eine Suppe aus einem eimerähnlichen Gefäß und der Hoollege eine exotische Speise munden lässt, kämpft unsereins mit hartem, vertrocknetem Reis und totgebratenem Huhn. Alter, what’s Wong with you?

Jetzt hilft nur noch literweise Sojasoße, um das Elend ein wenig zu minimieren. Guter Plan, dem angesichts des horrenden Aufpreises für wenige Milliliter Soße aus dem Plastikbecherchen ein Riegel vorgeschoben wird.

Drauf geschissen. Aber auch das ist aufgrund der verschlossenen Toilettentür, die man nur mittels Code öffnen kann, leichter gesagt als getan. Der Hoollege erfragt diesen bei den asiatischen Servicekräften und kehrt schulterzuckend zurück. „Irgendwas mit Sekunde“, so seine Antwort auf die Frage nach dem einzugebenden Zahlenschlüssel. Das tendenziell rassistische imitieren deutsch sprechender Menschen mit asiatischem Migrationshintergrund überlasse ich jetzt euch. Vielleicht kommt ihr ja auch anderweitig auf des Rätsels Lösung: „600“ ist jedenfalls gemeint. Nein, nein, is kein Snaps, is nul Flaume!

Der Weg zum Stadion ist mit der Straßenbahn schnell zurückgelegt. Der St. Jakob-Park ist eine moderne Fußballarena, die zuletzt für die EM 2008 baulich verändert worden ist. Der Zahn der Zeit nagt etwas an der Stadionumgebung und der altmodischen Fassade. Das unmittelbar angrenzende Shoppingcenter und der Umstand, dass sich der Bahnhof direkt hinter dem Kurvenbereich verorten lässt, versprüht dann jedoch wieder die Modernität, die man in der Umgebung eines EM-Stadions eher erwartet hätte.

Ein kleiner Junge wird mit selbstgebastelter FCB-Fahne, bestehend aus Stock und Einkaufstüte mit Logo, von einem Ordner abgewiesen. Für ihn sicherlich kein guter Start in die Rückrunde. Sein Vater reagiert umgehend und versteckt das gute Stück unter einer Treppe, an der wir gerade stehen, um unsere letzten Getränke zu leeren. Kurz darauf betreten wir das Stadion, nehmen bessere Plätze als die von uns bezahlten ein und staunen, dass die Spieler den Kabinentrakt durch eine überdimensionierte Senftube verlassen und den heiligen Rasen betreten. Der schöne Panoramablick aus dem Stadion ist durch die hohen Ränge und den VIP-Klotz auf der Haupttribüne leider etwas verbaut. Auf Seiten des FC Luzern kennt man Trainer Babbel und die Spieler Fandrich und Schachten, beim Gastgeber freut man sich besonders über die Namen Walter Samuel und Marc Janko.

Die Gäste werden von gut Sekunde Mann aus dem proppevollen Gästeblock unter dem Dach unterstützt, wobei man heute einem Faschingsmotto folgend verkleidet anreist. Die dazugehörigen Spruchbänder sind aufgrund des Sprachbarrierlis leider vollkommen unverständlich, während die Hausherren offenbar gegen die Vereins- und Transferpolitik ihres Clubs protestieren. Das Spiel beginnt – und hat in der ersten Halbzeit nicht all zu viele Höhepunkte zu bieten. Der Außenseiter aus Luzern hat gar die größte Chance des ersten Spielabschnitts, scheitert aber am Pfosten. Insgesamt gelingt es ihnen sehr gut, den haushohen Favoriten und Serienmeister aus Basel in Schach zu halten. In der 43. Minute wird es dann abenteuerlich, als Herr Safari aus Basel gelb erhält. Die Videowand beginnt, das übliche Werbespektakel abzuspulen. Diese Karte wird ihnen präsentiert von… Mr. Wong! Ein kleiner animierter asiatischer Kung-Fu-Koch springt dabei durch das Bild, verkörpert offenbar die „gelbe Gefahr“, holt einen gleichfarbigen Karton aus dem Wok und schlägt FUDU ein zweites Mal in die Magengegend.

Da hilft nur noch ein Bier in der Halbzeitpause. Angesichts der Preisgestaltung von 5,50 Franken pro Getränk entschließt sich FUDU dazu, zwei Bier zu kaufen und eines zu stehlen. Bei einem Franken Pfand pro Becher freut man sich nach Abpfiff zusätzlich darüber, dass etliche Schweizer ihre Becher im Stadion stehen lassen, die der Umwelt zu Liebe von uns selbstverständlich eingesammelt und abgegeben werden. Ach, Schweiz. 18 Franken für einen Bleppo-Burger mit Pommes? Jetzt sind wir beinahe wieder quitt.

Die zweite Halbzeit ist dann wesentlich attraktiver als die erste. Basel wird nach und nach dominanter und schnürt den nun immer mehr geforderten FC Luzern in seiner eigenen Hälfte ein. Die Tore durch Birkir Bjarnason (Der Skandinavien-Experte in Ekstase!) und Matías Delgado sind folgerichtig. Die größte Aufmerksamkeit des zweiten Spielabschnitts ziehen die Einwechselspieler auf sich. Bei Luzern kommt die „hässliche 77“, die sich bei nachträglicher Recherche als Markus Neumayr herausstellt. Natürlich ein Deutscher. (Der mal bei Manchester United unter Vertrag stand und vermutlich seitdem als fleischgewordene Starallür herumläuft, so als hätte er dort Cristiano Ronaldo aus der Startelf verdrängt.) Auf der anderen Seite wird beim FCB ein gewisser Renato Steffen eingewechselt, der von der Ultrakurve über die gesamte Restdauer des Spiels gnadenlos ausgepfiffen wird, selbst, nachdem er das 3:0 erzielt und vor eben jener Kurve zum Jubeln einkehrt. Und dann ist auch schon Feierabend im „Joggeli“.

Im Shuttle-Bus zum Flughafen sitzt uns ein Pärchen gegenüber, das uns die bittere Wahrheit vor Augen führt, dass wir demnächst wieder in Berlin Zeit verbringen müssen. Er mit Tarnfarbenparka und Deutschlandflagge, sie mit Jeanshose unter den Achseln. Hipster, ick hör‘ dir trapsen.

Der Aufenthalt auf dem Flughafen Basel-Mulhouse-Freiburg ist dann zunächst von einer erfolglosen Biersuche geprägt. Das Preis-Leistungsverhältnis stimmt wieder einmal nicht überein. Später ergibt eine Zeitungslektüre, dass es rumänische Eishockeyspieler gibt und dass das Auspfeifen von Steffen und die Spruchbänder vor dem Anpfiff in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Steffen war erst kürzlich unter Protest der Fanszene vom großen Rivalen Young Boys Bern nach Basel gewechselt. Währenddessen finden sich Jugendmannschaften des Liverpool FC und des Chelsea FC in der Wartehalle ein und sorgen neben der Anwesenheit des 1.FC Union Berlin (wir!) dafür, dass zwei weitere recht vernünftige Fußballvereine repräsentiert sind. Ein Mann mit verkehrtherum angezogenen Schuhen (Nein, keine Entenfüße. Nein, nicht mit der Sohle nach oben. Manche Dinge muss man vielleicht einfach gesehen haben, um sie zu verstehen) schlappt durch das Szenario, als wäre es das Normalste der Welt.

Als wir in Berlin landen, treffen wir das Pärchen aus dem Bus im Terminal des Flughafen Schönefeld wieder. Hatten wir also offenbar den richtigen Riecher. Egal, Deutschland hat auch schöne Ecken. Beispielsweise dort, wo die Ottomane auf den Rest meiner Couch trifft. Nur noch drei d:sf-Montage – dann geht’s ja Gott sei Dank auch wieder nach Tschechien. /hvg

02.01.2016 Celtic FC – Partick Thistle FC 1:0 (0:0) / Celtic Park / 46.067 Zs.

Zwischen den Jahren kommt FUDU endlich in den Genuss eines wunderbaren britischen Frühstücks in einem türkischen Imbiss. So also sieht Multi-Kulti in Schottland aus. In ewiger Erinnerung bleiben die nur kurz darauf folgenden Silvesterfeierlichkeiten in einem Glasgower Pub, in dem der Siedepunkt erreicht ist, als man um Mitternacht gemeinsam mit einheimischen Trinkern und Trinkerinnen in den Kontakt mit britischen Silvestergepflogenheiten tritt und zu „Auld Lang Syne“ eine Schottenpolonaise tanzt. Um 1:30 Uhr werden wir als letzte verbliebene Gäste aus dem Pub geschmissen. „You don’t have to go home, but you can’t stay here!“

Am zweiten Januar plant FUDU die offizielle Eröffnung des Hopping-Jahres 2016. Ob es ein „fröhliches Neues“ wird, darf bereits jetzt in Frage gestellt werden. Diese Unsicherheit liegt darin begründet, dass die Eintrittskarten für das Highlight der Reise bereits in Deutschland bestellt und bezahlt – jedoch leider erst nach unserer Abreise postalisch zugestellt worden sind. Nun liegen unsere Karten also in Germany – und 2/3 der Reisegruppe in Glasgower Hotelbetten. Bereits um 10.00 Uhr morgens sind diese 66,66% zu 100% motiviert, sich fußläufig auf den Weg in Richtung Ticketoffice am „Celtic Park“ zu begeben, um diesen etwas unglücklichen Stand der Dinge zurechtzurücken. Und nach der in Falkirk gestellten Kofferaufgabe bleibt es auch gewissermaßen die Funktion FUDUs, die Schotten aus ihrer Komfortzone zu befördern und sie mit Fragen und Herausforderungen zu konfrontieren, die möglicherweise neu für sie sind. Daran können alle Beteiligten nur wachsen!

„Fackelmann“ und WIFI-Genius Dr. Dieter Fotzenhobel kommen auf dem Weg zum Stadion aber nicht an „TK Maxx“, einigen Sportläden und britischen Casual-Clothing-Boutiquen vorbei, ohne wenigstens kurz geschaut zu haben, ob man denn hier nicht auch etwas Geld loswerden könnte. Aufgrund der schottischen Körperformen und die daraus resultierenden Kleidergrößen scheitert das Unterfangen jedoch kläglich.

Eine gute Stunde später stehen wir am „Celtic Park“ und schießen staunend erste Fotos. Wenige Augenblicke später öffnet der Eintrittskartenladen und die überschaubare Menschenschlange wird abgearbeitet. In feinstem Scottish English wünscht der „Fackelmann“ zunächst ein „Happy New Yearrrrr“ – ein cleverer zwischenmenschlicher Schachzug, der dank des rollenden R Türen und Herzen öffnet. Das vermaledeite Kartenproblem ist schnell geschildert und die Lösung ebenso schnell herbeigeführt: Der gute Mann hinter der Glasscheibe druckt uns unsere Tickets einfach noch einmal aus und wünscht uns ein schönes Spiel. Ach, wie unkompliziert.

Der „Wirtschaftsflüchtling“ wird per SMS über den Erfolg der Reisegruppe informiert und zu 12 Uhr in einen Pub nahe des Hauptbahnhofs zitiert. Dort stoßen wir pflichtgemäß auf den positiven Verlauf des Tages an und hoffen derweil, dass wir den ersten Preis des „Wetherspoon“-Malwettbewerbs gewinnen werden. Liebe Kinder, malt euer Lieblingstier! Zwar können wir aufgrund der eingeschränkten Gestaltungsmöglichkeiten den „VergeWalTiger“ nicht ins Rennen schicken, doch unter Umständen holt auch der „sexuelle Belästigungspanda“ die Kastanien für FUDU aus dem Feuer. Unser aller Lieblingsfetti wird angesichts mehrerer verspeister Pulled Pork Burger von einer Teilnahme ausgeschlossen. Alles andere wäre auch pietätlos gewesen.

Wir begeben uns im Anschluss auf den Rückweg zum Stadion und schwingen uns dank der gesammelten Erfahrungen auf dem Hinweg zu zielsicheren Reiseführern für den „Wirtschaftsflüchtling“ auf. Da wir noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff zu überbrücken und mittlerweile verstanden haben, dass man in Schottland nicht mehr Zeit als nötig vor und nach dem Spiel im Stadion verbringt, kehren wir noch in einen letzten Pub ein. Dieser liegt in Sichtweite zum Stadion, befindet sich in der Straße, die von zigtausenden Celticfans vierzehntägig passiert werden muss – und ist dennoch fest in Hand der Blauen. Der Union-Jack und ein Portraitfoto der Queen hinter der Theke lassen erste Vermutungen in diese Richtung aufkommen. Weitere Verdachtsmomente sind anhand einiger in blau gekleideter Menschen in der Lokalität schnell ausgemacht und als erste ältere Herren sogar mit stolz und offen getragenem Logo zu erspähen sind, kehrt Gewissheit ein. Wir sind hier tatsächlich in einer Rangers-Kneipe gelandet. Fünf Minuten vom „Celtic Park“ entfernt. Wenn hier keine Hoffnung aufkommt, relativ zeitnah Augenzeuge eines handfesten Kneipensturms werden zu können, wo denn dann?

Aber alles bleibt ruhig. Nach nur einem Bier und einem kurzen Fanshopbesuch betreten wir auch bereits das imposante Stadion und nehmen auf der Hintertortribüne Platz. Das Spiel beginnt. Wir warten auf das sagenumwobene „You’ll never walk alone“, freuen uns auf 46.000 ekstatisch feiernde Menschen, auf endlos lange „Just can’t get enough!“-Gesänge, auf den „Huddle“, auf markerschütternde „Bhoys“-Schlachtrufe und auf eine spielerisch überlegene Heimmannschaft, die ihre Gäste in alle Einzelteile zerlegt.

Aber alles bleibt ruhig. 70 Minuten später steht es noch immer 0:0. Das Spiel ist furchtbar niveauarm. Die Gäste von Partick Thistle halten die haushohen Favoriten durch Kampf und Leidenschaft fernab des eigenen Tores und verhindern mit simplen Mitteln den Spielfluss. Was allerdings noch wesentlich enttäuschender ist, ist die Stimmung im Stadion. Es. Gibt. Keine.

Halt, so nicht ganz richtig. Es gibt keine, die von den Heimfans erzeugt wird. Weder aus dem kleinen Ultrablock in der Kurve, noch sonst irgendwo her. Nicht ein Gesang, nicht ein Schlachtruf, nicht ein Pöbeln. Totenstill wäre es in der Arena, würden die gut 300 Gäste von Partick Thistle hier nicht ihre eigene Party feiern. Ebenfalls aus Glasgow stammend, überzeugen die Anhänger des konfessionslosen Clubs durch Ausdauer, Selbstironie, Witz und Sangesfreude. „There’s only one Team in Glasgow!“ wird trotzig vorgetragen und in Anspielung auf Celtics katholische Anhängerschaft immer mal wieder gerne ein schmissiges „Kumbaya“ in den Fußballtempel gesungen.

Längst haben die rot-gelben unsere Herzen im Sturm erobert, als auch noch Celticspieler Bitton mit gelb-rot vom Platz geschickt wird. Gästecoach Archibald reagiert umgehend und wechselt in Mathias Pogba keinen geringeren als den Bruder von Paul ein. Jetzt muss es mit einem überraschenden Auswärtssieg doch klappen!

Nach 80 Minuten schalten zehntausende Heimfans ihre Handytaschenlampen ein und leuchten in das weite Rund. Manch einer mag hier vielleicht von einem imposanten Bild sprechen, doch FUDU konstatiert nach dem bislang stimmungslosen Auftritt und dem deutlichen Abfall auf der Sympathieskala der „Bhoys“: Kitschkacke.

Nach 85 Minuten erfolgt ungelogen der erste deutlich vernehmbare „Celtiiiiiiiic, Celtiiiiiiiic, Celtiiiiiiiic“- Anfeuerungsruf, der von den Gästen zurecht mit hämischem Applaus begleitet wird.

In der 90. Minute würgt Griffiths einen abgefälschten Drecksball über die Linie. Celtic gewinnt schmutzig mit 1:0 und plötzlich erwachen die Heimfans und feiern, als hätte man gerade den FC Barcelona besiegt. Einige ätzende Familienväter postieren sich vor dem Gästeblock, zeigen den aktuellen Spielstand mit ihren Fingern an und lassen den Larry raushängen. So ekelhaft, dass FUDU gerne jedem einzelnen eins auf die Schnauze gegeben hätte…

Völlig frustriert und angewidert verlassen der „Fackelmann“ und ich das Stadion, das eigentlich zum Highlight der Reise auserkoren und nun zum Rohrkrepierer geworden war. Der „Wirtschaftsflüchtling“, noch immer vom Weltruf Celtics überzeugt, stellt die These auf, dass wir das mit Babelsberg doch alles genauso gemacht hätten. Nein, hätten wir nicht. Wir hätten die 90 Minuten lang in Grund und Boden gesungen, sportlich vernichtet und uns dann über sie lustig gemacht. So – und nur so – darf man das machen.

Als hätte es abschließend noch irgendetwas gebraucht, um Celtic bis an das Lebensende eher gelangweilt und kopfschüttelnd zur Kenntnis zu nehmen, begegnen uns Fans, auf deren Celtic-Schals allen Ernstes die Minions mit ins Design eingebettet sind. Ach, hört doch auf, wir gehen jetzt noch einen saufen.

In der vorletzten Bar der Reise führen wir Gespräche mit mehreren freundlichen Celtic-Fans, die teilweise von sich preisgeben, das Stadion angesichts der verheerenden Leistung bereits in der Pause verlassen zu haben. In der Fußballwelt kennen sie sich jedoch aus und so entwickelt sich eine doch recht kurzweilige Fachsimpelei: Union Berlin. Paul Lambert. Alan McInally. Jurgen Klopp. St. Pauli (sucks).

Nach Beendigung des Kneipenbesuchs fasst der Wirtschaftsflüchtling seine Raucherpausengespräche für den Rest der Reisegruppe zusammen. Besonders angetan hat es ihm eine Anekdote aus dem Jahr 1967. Es begab sich zu dieser Zeit, dass der Celtic Football Club den Pokal der Landesmeister gewinnen konnte. Noch heute erzählen sich die Fans Legenden und im Fanshop finden sich nur wenige Produkte, die nicht mit den Helden von damals bedruckt sind. Gewonnen hätten diese Trophäe niemand geringeres als die „lesbischen Löwen“, was der „Wirtschaftsflüchtling“ äußerst amüsant findet und auf die Kurzhaarfrisuren der Akteure zurückführt.

Die 100% motivierten 66,66% wirken belustigt als Korrektiv und verweisen darauf, dass das Finale 1967 in Lissabon stattgefunden hat und wir das heutige Spiel auf der „Lisbon Lions“-Tribüne verfolgt hätten. Grandios. Lost in Translation: Russische Juden sind die besten Stürmer in der Welt, am vierten Mai werde ich mit ihnen sein – und die ‚lesbischen Löwen‘ gehen fortan in die FUDU-Fußballgeschichte ein.

Den Abend bzw. unsere Reise lassen wir dann stilsicher im „Merchants“ ausklingen. Der Weg des „Wirtschaftsflüchtlings“ führt schließlich über Edinburgh nach München, während wir nach einer kurzen Nacht am Flughafen Glasgow wieder sanft und sicher in Berlin landen.

Um kurz vor 13.00 Uhr kehren wir am Ostkreuz beim Dönerimbiss unseres Vertrauens ein. Ich habe nur noch drei Euro einstecken und klage dem Dönermann, der gerade Salat schneidet und dabei raucht, mein Leid. Er entscheidet, mir einfach ein „Berliner Pilsner“ zum Döner zu schenken und ich entscheide mich, gemeinsam mit dem „Fackelmann“ den im britischen Fernsehen beworbenen „Dryathlon“ zu boykottieren. Listen, it’s law – FUDU trinkt eben zum Mittag!

So fühlt sich also „zu Hause sein“ an – und doch könnte es kaum etwas Schöneres geben, als möglichst schnell wieder in dieses verrückte Schott-Land zurückzukehren… /hvg

30.12.2015 Hearts of Midlothian – Dundee United 3:2 (3:2) / Tynecastle Stadium / 16.721 Zs.

Das Sigthseeing-Programm in Edinburgh spult FUDU bei strömendem Regen und 80 km/h Windböen ab. Wir besichtigen das Castle, flanieren die Royal Mile entlang und stellen schnell fest, dass die Stadt zwar optisch zu überzeugen weiß, durch die Touristendichte aber gleichermaßen anstrengend ist. Offenbar sind in der schottischen Hauptstadt über Silvester „Asia Wochen“ angesetzt, anders können wir es uns nicht erklären, warum wir in den wenigen Stunden Aufenthalt in der Innenstadt mehr fotografierende Menschen asiatischer Herkunft als Schotten wahrnehmen.

Nebenan laufen die Aufbauarbeiten für die größte Silvesterparty Schottlands („Hogmanay“). Einige Straßenzüge werden gesperrt, mit Einlasstoren versehen, die man morgen nur gegen Entrichtung eines Entgelts passieren werden darf. Dazu werden erste Verbotsschilder aufgestellt und Verhaltensregeln via digitaler Anzeigetafeln kundgetan. Furchtbar.

Das schlechte Wetter spült uns recht bald in die erstbeste Gaststätte, in der wir feststellen, dass zu allem Überfluss auch die Bierpreise in Edinburgh touristisch gestaltet sind und wesentlich höher liegen als im 70 Kilometer entfernten Glasgow. Dennoch erklimmt FUDU alsbald den Gipfel rhetorischen Schwachsinns und dialogisch entstandene Improvisationsscherze für die Ewigkeit werden geboren. Beispiele gefällig? „Ich habe mal neben Ashton Kutcher gepullert!“ – „Neben dem echten?“ – „Ja, neben dem Ashton!“. Oder die lässig ausgesprochene Empfehlung, dass man angesichts der aufkommenden Fragestellung, worin sich die Sportarten Cricket und Crocket unterscheiden würden, einfach mal „Crocketdile Dundee“ fragen müsste. Nun gut, die vollständige Verblödung scheint nach fünf Tagen Schottland nun nicht mehr zu verhindern sein…

So wird FUDU also geradezu dazu gezwungen, etwas kulturellen Input zu ziehen und man entscheidet sich, der Scottish National Gallery of Modern Art einen Besuch abzustatten. Dort bewundern wir die Werke berühmter Künstler wie Warhol, Lichtenstein und Picasso und erfreuen uns der in Großbritannien üblichen Eintrittsgelderpraxis in Museen: Kostet nüscht, Spenden erbeten. Funktioniert, weil viele Menschen den Wert von Kunst selbst zu taxieren wissen und entsprechend monetär goutieren. Würde nicht funktionieren, wenn es mehr Asoziale wie uns gäbe, die das gesparte Geld blitzschnell in Pints umrechnen können und daher auf eine freiwillige Abgabe verzichten.

Im Anschluss machen wir uns auf zum Hafen von Leith, um die königliche Yacht Britannia besichtigen zu können. Nach wie vor ist es uns angesichts der defekten Fahrkartenautomaten in schottischen Bussen nicht möglich, einen Fahrschein zu kaufen. Okay, genaugenommen tragen wir auf perfide osteuropäische Art und Weise zu diesem preiswerten Vergnügen bei. Während die Schotten nämlich Einzelfahrten (ohne Ticketausdruck) beim Fahrer in bar bezahlen, ist FUDU clever genug, um bei jeder Bustour nach einer Tageskarte zu fragen, für die es einen funktionsfähigen Automaten benötigen würde. Die Antwort der Fahrer heißt daher stets: „Jump in, guys!“

Nach Ankunft am Zielort stellt sich schnell heraus, dass diese kostenlose Busfahrt in etwa den selben Wert hat, wie das Ausflugsziel. Schwer enttäuscht sind wir, dass wir weder freien Blick auf das Meer haben, noch am Ufer entlanglaufen oder einen Hafen erkunden können – und auch von der Britannia können wir uns nur minimale (und enttäuschende) Eindrücke verschaffen, da die Sichtachse durch ein furchtbares Shoppingcenter getrübt wird. In eben jenes „Ocean Terminal Center“ werden alle Touristen zwangsläufig geleitet, die etwas mehr von der königlichen Yacht sehen wollen. Nachdem man sich mühselig durch zwei Etagen Konsumhölle gekämpft hat, erhält man sogleich den nächsten Tiefschlag. Hier wird eine Eintrittszahlung in Höhe von 12 Pfund fällig – ist ja kein Museum.

FUDU verzichtet dankend und macht sich fußläufig auf den Rückweg in Richtung Innenstadt, um sich mit zwei Pub-Aufenthalten die Zeit bis zum Anpfiff des Spiels Hearts of Midlothian gegen Dundee United zu versüßen. Einige Pints später besteigen wir den Bus in Richtung Tynecastle Stadium und ordern siegesgewiss drei Tagestickets. Ohne jeden Kommentar betätigt der Busfahrer zwei-drei Knöpfe und unsere Billets à 4 Pfund rattern aus der Maschine. Verdammt. Wäre diese Glückssträhne also auch gerissen.

Nach dem ersten flüchtigen Blick auf das Stadion kehrt das Lächeln jedoch sehr schnell wieder in die Gesichter der Reisenden zurück. Inmitten eines Wohnblocks liegt das Stadion, das bereits von außen gar nicht britischer aussehen könnte. Eine wunderbare Klinkerfassade mit beleuchtetem Logo setzt erste optische Akzente, alles wirkt eng, verbaut, urig und der Duft mehrerer Jahrzehnte Fußballhistorie liegt in der Luft. Ein Schild an der Tür des Fanshops informiert darüber, dass das Spiel heute „Sold Out“ sei. Wir sammeln unsere vorbestellten Eintrittskarten ein. Ich kann es kaum erwarten, das Stadion von innen zu sehen und presche bereits eine halbe Stunde vor dem Fackelmann und dem Wirtschaftsflüchtling durch die „Sicherheitskontrolle“, die auch in diesem Stadion lediglich daraus besteht, seine Eintrittskarte vor dem Passieren eines elektronischen Drehkreuzes zu scannen und dem dahinter befindlichen Ordner freundlich „Hello“ zu sagen.

Unsere Plätze befinden sich in der fünften Reihe hinter dem Tor. Noch näher kann man kaum am Geschehen sein. Meine Blicke wandern durch das Stadion – besonders angesichts der alten Holz-Giebeldach-Tribüne auf der Längsseite steht der Mund weit offen. Nebenan beziehen die 744 Gäste aus Dundee Stellung und nur wenige Sekunden nach dem Eintreffen der beiden FUDU-Trödler gibt der Schiedsrichter das Spiel frei.
Bei Dundee fehlt der deutsche Torhüter Luis Zwick, der über weite Strecken der Saison die Position des Stammtorhüters inne hatte. Dafür spielt in Guy Demel ein alter Bekannter in der Verteidigung und die FUDU-Außenstelle Finnland weist darauf hin, dass Dundee-Coach Mika-Matti „Mixu“ Paatelainen in der Heimat wegen seiner „Weihnachtsbaumtaktik“ verschrien ist.

Die Fans aus Dundee geben in der Anfangsphase Vollgas und dominieren die Stimmung im Tynecastle Stadium, was aber angesichts der Abwesenheit von Heimstimmung auch nicht sonderlich schwer ist. Wirklich über alle Maße enttäuschend ist, dass es im gesamten Spiel nicht einen einzigen lautstark vorgetragenen Sprechchor und kein einziges Lied der Heimfans zu hören geben wird – bis auf ein-zwei hämische und provozierende „You’re going down!“ Schlachtrufe in Richtung der abstiegsbedrohten Gäste, die sich dadurch aus der Fasson bringen und zu einigen kleinen Scharmützeln mit Ordnern und Heimfans hinreißen lassen. Im Anschluss kehrt dann auch im Gästeblock Ruhe ein.

Das Spiel reißt uns währenddessen jedoch von den Sitzen. Nach den trüben Zweitligapartien weiß das Niveau dieser Erstligabegegnung zu überzeugen. Gleich fünf Tore fallen in der ersten Halbzeit, davon zwei per Elfmeter und eines nach einem katastrophalen Torwartfehler des Ersatzmannes von Luis Zwick. Ständig marschieren beide Mannschaften mit hohem Tempo, hoher Leidenschaft, hoher Aggressivität und geringem technischen Vermögen das Spielfeld auf und ab. Es gibt Abschluss- und Torchancen im Minutentakt, sodass das ganze Stadion eigentlich kochen müsste. Tut es aber nicht. Dafür kochen wir um so mehr und sind nahezu erleichtert, dass uns der Herr Schiedsrichter nach 45 Minuten eine kurze Pause zum Verschnaufen gönnt.
Dort legt der stilsichere Stadion-DJ zunächst einmal aufgrund der aktuellen Ereignisse „Ace Of Spades“ von Motörhead auf und erobert hiermit unsere Herzen (of Midlothian) im Sturm.

In der zweiten Halbzeit beruhigt sich das Spiel ungemein, wobei über die Dauer des Spiels nach und nach immer klarer wird, warum die Gäste abgeschlagen am Tabellenende stehen. Waren sie hier und heute durchaus furios in die Partie gestartet, macht sich nun – auch dank einer erhaltenen roten Karte – Ernüchterung breit. Die Hearts haben alles im Griff, kontrollieren das Spiel nach Belieben und werden letztlich nicht dafür bestraft, dass sie etliche Großchancen liegen lassen und das Ergebnis nicht in die Höhe schrauben können.

Wie in Schottland üblich, stürmen auch wir direkt nach dem Abpfiff den erstbesten Pub. In einer gegenüberliegenden Fish&Chips Bude bestellen und verspeisen wir im Anschluss das größte frittierte Lebewesen, das jemals einen FUDU-Schweinemagen kennenlernen durfte, ehe wir uns mit dem Bus zurück in Richtung Edinburgh City Center machen.

Dort entdecken wir tatsächlich auf dem Weg ins Hotel noch einen geöffneten Pub, für den aus irgendeinem Grund die Sperrstunde keinerlei Bedeutung hat. Nach einigen überteuerten Bieren (because of the Ausnahmeregelung) lassen Teile der Reisegruppe ihren Nemo wieder frei. Nicht in jedem von uns steckt also ein waschechter Schotte! Bereits gegen 2.30 Uhr sind die Hotelbetten erreicht. Morgen gilt es, ein britisches Frühstück einzunehmen und den Heimweg nach Glasgow anzutreten, um den Tourimassen, den exorbitant steigenden Hotelpreisen und den elitären Straßenfeierlichkeiten zu entfliehen. /hvg

28.12.2015 Glasgow Rangers FC – Hibernian Edinburgh FC 4:2 (2:1) / Ibrox-Park / 49.995 Zs.

Nach nur drei Tagen sind wir komplett in Glasgow akklimatisiert. So sehr, dass wir uns bereits vollkommen im „Glasgow-Effekt“ verheddert haben. Arbeitslosigkeit, soziales Elend, ungesunde Ernährung und Alkoholismus führen in einigen Bezirken der Stadt zu einer statistischen Lebenserwartung von 53 Jahren. Und wahrlich: Noch nie haben wir so viele dicke Menschen an einem Ort gesehen. Noch nie haben wir so viele dicke Frauen an einem Ort gesehen. Noch nie haben wir so viel ungesundes Essen gegessen. Wir stellen uns angesichts der auffälligen Häufung unreiner Haut und dicker Make-Up-Schichten die Huhn-Ei Frage. Wenn ihr versteht, was ich meine. Nach einigen Steak & Cheese Rolls zum Frühstück, Sausage Rolls für 70 Pence, Fish&Chips-Portionen in XXXXXL-Größe und Lasagne mit Pommes können wir immerhin mitfühlen. All das erträgt man nur, wenn man sich schon vormittags die ersten Bierchen gönnt. Der Gesundheitsminister empfiehlt derweil, nicht mehr als four Units Alkohol pro Tag zu sich zu nehmen, wobei ein Pint etwa 2,5 Units entspricht. Ob der Bauer wohl mal nachgerechnet hat?

Wie jeder Schotte haben wir die empfohlene Tagesdosis also bereits häufig mit dem Frühstück intus, haben am Ende des Tages Tennent’s-iell immer überpowert und auch einen Stamm-Pub haben wir bereits gefunden. Das „Merchants“ in der Paisley Street lädt immer wieder zum Verweilen ein. Dort gibt es Mutter und Tochter hinter dem Tresen. Dort erlebt man jeden Tag Geschichten, die man seinen Enkeln erzählen kann: Das Treffen mit Esteban, dem Pseudo-Spanier, der im Vollsuff seine Kreditkarte verliert und dem ehrlichen Finder Prügel androht und des Diebstahls bezichtigt. Der kultige Karaoke-DJ, der seine Lads aus Germany ab dem zweiten Abend per Umarmung begrüßt. Die beiden rassistisch beleidigten Anel (Dzaka) und Abder (Ramdane), die nach einer solidarischen Geste unsererseits etliche Freibier springen lassen. Und amouröse Eskapaden rund um den „Acid-Dealer“. Aber Obacht, keine Details: „What happens in the Merchants, stays in the Merchants!“

Eine Unterhaltung darf dann aber doch noch gerne nach Außen dringen. Angesprochen auf unsere Reisepläne geben wir zum Besten, dass wir nach Carlisle reisen werden. Der findige Gesprächspartner entgegnet: „No, you aren’t going to Carlisle!“ – „But why?“ – „Because it’s under water!“. Was wir zunächst für einen Scherz halten, wird im Hotelzimmer zur traurigen Gewissheit. Das Stadion des Carlisle FC gleicht einem Freibad und auch der Rest der Stadt ist unter den Fluten verschwunden. Hotelbuchung und Zugfahrkarten lassen wir verfallen, disponieren schleunigst um, buchen eine Nacht in Glasgow dazu und entscheiden uns alternativ für den Besuch der Rangers. Auch nicht die schlechteste Notlösung.

Tags darauf voller Vorfreude am Ticketoffice der Rangers angekommen, wirft uns die Verkäuferin zur Begrüßung erst einmal einen ordentlichen Knüppel zwischen die Beine. Das Spiel sei bereits seit zwei Wochen ausverkauft und wir hätten keine Chance, auf irgendeinem erdenklichen Weg an Eintrittskarten zu gelangen.

Etwas niedergeschlagen ziehen wir uns in einen Pub zurück, schmieden Schlachtpläne und knüpfen erste Kontakte. Die Maximalsumme, die wir auf dem Schwarzmarkt ausgeben würden, wird ausgelotet und beträgt 60 Pfund pro Nase. Zwei Bier später kehren Fackelmann und ich (zwei Stunden vor Anpfiff) zum Stadion zurück, drehen unsere Runden um die Spielstätte und den U-Bahnhof, um Kartenverkäufer zu erspähen, während der Wirtschaftsflüchtling weiterhin in der Kneipe ein-zwei-drei Karten aufzutreiben versucht. Nach einer Stunde Rundgang und zwei Mal pullern hinter dem Polizeipferd ist klar, dass der Schwarzmarkt ausschließlich aus Kartensuchenden besteht. Fackelmann zieht sich erschöpft in die Kneipe zurück und schlägt mit dem Wirtschaftsflüchtling ab, der mich fortan bei der Suche unterstützt. Zwei tapfere Mohikaner wollen das weiße Taschentuch noch etwas stecken lassen und weitere Kilometer abspulen. Fünfzehn Minuten vor Anpfiff klingelt mein Handy. Der Wirtschaftsflüchtling hat doch tatsächlich eine Karte auftreiben können – für zehn Pfund – wobei die preiswerteste Karte im Vorverkauf doppelt so teuer gewesen war. Der Mann ist ein Phänomen. Und ein echter Kumpel, da er mir die Karte überlässt und sich zum Fackelmann zurück in den Pub gesellt.

Mein Glück noch gar nicht fassend, stehe ich plötzlich im altehrwürdigen Ibrox-Park. Was für ein wunderbares Stadion: Klinkerfassade, enge, steile Ränge ohne Abstand zum Rasen, holzvertäfelte Ehrenlogen, Katakomben, welche man dergestalt auch in Industriehallen vorfinden könnte, kein Schicki-Micki-Brimborium, kein sichtbares V.I.P-Chichi mit roten Teppichen, einfach nur ein Fußballstadion!

Das Spiel beginnt. Von meinem Platz in der letzten Reihe kann ich ausschließlich Rasen, das untere Drittel der Tribünen und die Dachkonstruktion der Haupttribüne mit dort angebrachten alten funktionslosen Röhrenfernsehern sehen. Die Herkunft des Lärms, den die Rangers-Fans teilweise erzeugen, kann ich nur erahnen. In Hochphasen zieht einem die Stimmung beinahe die Schuhe aus – leider beteiligen sich jedoch nur äußerst sporadisch alle Zuschauer, sodass es über weite Strecken des Spiels auch ziemlich leise wird. Das Spiel jedoch hätte das Zeug gehabt, über die komplette Distanz lautstark begleitet zu werden. Wirklich schnell, temporeich und sehenswert, wie hier die beiden Spitzenmannschaften der zweiten schottischen Liga um die Tabellenführung kämpfen. Der Gast aus Edinburgh geht früh mit 1:0 in Führung. Der Gästemob (knapp 1000 Mann stark) feiert den Treffer ekstatisch und der schöne Torpogo endet mit kleineren Scharmützeln mit nebenan sitzenden Rangers-Fans und den Ordnern. Richtig lautstark gesungen wird im Block der Hibs jedoch leider nur nach dem Tor, ansonsten darf wohl eher von einer enttäuschenden Performance gesprochen werden. Torschütze Jason Cummings, gerade einmal zwanzig Jahre alt, wird zum auffälligsten Spieler der Partie werden. Technisch auf einem anderen Level als alle anderen Akteure, immer mit einer guten Idee und einem guten Pass ausgestattet, dazu Agent Provocateur à la Sören Brandy, wird er dank seiner Gesamtekligkeit für den Gegner schnell dazu auserkoren, ausgepfiffen zu werden. In bislang 52 Spielen in der zweithöchsten Spielklasse gelangen ihm 31 Treffer. Da wette ich 5 Pfund

Schweinemett drauf, dass dieser Mann in zwei bis drei Jahren zum schottischen Nationalspieler reifen und nach England wechseln wird…

Die Rangers zeigen sich jedoch als Mannschaft geschlossener und besser aufgestellt als ihr Gegner und drehen die Partie noch vor der Halbzeit. In der zweiten Halbzeit legen die Rangers den schönsten Treffer des Abends nach und gehen nach einer butterweich getretenen Flanke auf den langen Pfosten mit darauf folgender Direktabnahme 3:1 in Führung. Spannung bringt jetzt nur noch der Schiedsrichter hinein, als er in der 70. Minute einen Rangers-Akteur mit glatt Rot zum Duschen schickt. Dennoch verwalten die Rangers die Führung lange Zeit souverän – so lange, bis ihr Torhüter an einer harmlosen Flanke vorbeisegelt und der eingewechselte Gästeakteur den Ball ins leere Tor stolpern kann. Erst dann entsteht eine Art Druckphase der Gäste, die aber jäh durch einen Konter und eine wunderbare Einzelleistung samt Torerfolg durch Waghorn beendet wird.
Auch bei den Rangers verlassen viele Zuschauer das Spiel bereits vor dem Abpfiff. Der Drang, im Pub ein Bier trinken zu gehen, ist offenbar zu groß. Mehr als 50% der Zuschauer verlassen das Stadion jedoch nicht, ohne der Ordnerin einen Kuss gegeben zu haben. Hier scheint man sich zu kennen.

Ich bleibe selbstverständlich bis zum Abpfiff und stelle dann ernüchtert fest, dass sich das Stadion dann innerhalb von nur 2 Minuten komplett leert. Es gibt keinen Applaus, keine Feierei, kein Ehrenrunde der Spieler, sodass auch ich mich von den Massen in Richtung Pub schieben lasse, um dort die beiden anderen Specknacken einzusammeln und von meinem Erlebnis Bericht erstatten zu können.

Als ich die Pubtür öffne, verstehe ich plötzlich die Hektik der Leute. Die letzten 1,2 Quadratzentimeter Platz nutze ich, um einen Fuß in die Kneipe zu bekommen. Der Wirtschaftsflüchtling steht in guter Position nahe der Zapfhähne und nimmt mein Gewinke wahr. Bei einem gemeinsamen Bier, das man immer dann trinkt, wenn man den Arm weit genug vom Körper bewegen kann, wird das Stadion- mit dem Fernseherlebnis abgeglichen.

Am Ende des Abends fahren wir mit der Glasgower Metro – die wohl kleinste Bahn mit den engsten Tunnelröhren und schmalsten Bahnsteigen der Welt. Der Wagon ist so niedrig, dass ich mir darin beinahe den Kopf stoße. Von den Einheimischen wird die Metro liebevoll „Clockwork Orange“ genannt. Uns kutschiert sie in die Stadtmitte, um in der Buchanan Street in einem „Wetherspoons“ einzukehren. Das opulente Gebäude, in dem früher eine Bank beherbergt war, macht optisch dermaßen viel her, dass es einem beinahe stilvoll erscheint, ein letztes Bier des Tages zu trinken und dann glücksbeseelt ins Bett zu fallen „Merchants“ weiterzuziehen… /hvg

21.11.2015 Roda JC Kerkrade – PEC Zwolle 0:5 (0:2) / Parkstad Limburg Stadion / 14.378 Zs.

Es ist früh am Samstag. Der Wirtschaftsflüchtling riecht nach Schnapsbrennerei und torkelt mir am Bochumer Hauptbahnhof entgegen. Ich bin abermals überrascht, dass der Italiener ausgerechnet immer dann pünktlich ist, wenn er keinen Kontakt mit einem Bett und/oder Wasser hatte. Weniger pünktlich ist abermals die Deutsche Bahn, deren Regionalbahn von Bochum nach Aachen Rothe Erde dermaßen viel Verspätung sammelt, dass wir den Anschlussbus nach Kerkrade verpassen und spontan entscheiden werden, erst einmal bis zum Aachener Hauptbahnhof zu fahren.

Dort betreten wir zur besten Frühstückszeit eine Eckkneipe und sind innerhalb weniger Sekunden bei dem ersten Kölsch des Tages davon überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Schnell führt der sympathische Wirt all seine Gäste am Nasenring durch die Arena und betet uns die bedauerlichen Biographien seiner Stammkunden vor. Da auch wir, immerhin zum Frühstück Bier trinkend, die eine oder andere Frauengeschichte ohne Happy End zum melancholischen Singsang beizutragen haben, schließen wir schnell Freundschaften. Am Pissoir entwickelt sich dann auch ein Dialog, der sich gewaschen hat: „Wie lange biste denn schon hier in der Kneipe?“, frage ich meinen Nebenmann. „Ach, seit wann kenn ich de Jupp? Wann war isch dat erste Mal im Knast jewesen? Dreißisch Jahr muss dat her sein!“ – „Oh, im Knast? Was haste gemacht?“ – „Jung, isch hab Illusionen verkauft!“ – „Ach, du bist ein Magier?“

Gelächter. Noch ein Kölsch.

Am Ende verlassen wir die Kneipe aus Versehen nicht durch die Tür, sondern durch die Fensterfront und verpassen beinahe unseren Zug, der uns über (Willy) Landgraaf nach Kerkrade führen soll. Ab Landgraaf steigt der Altersdurchschnitt im Zug auf ca. 75 und wir stellen uns mental auf Rentnerschwemme in einer etwas überalterten niederländischen Stadt ein.

Als wir unsere Pension in Kerkrade betreten, sind wir dennoch ein wenig überrascht, dass uns ein Rentnerehepaar mit Kaffee und Kuchen empfängt. Der freundliche alte Herr fragt uns, ob wir heute auch wegen des Konzerts von „Golden Earring“ in der Stadt seien. Wir verneinen dies und offenbaren, dass wir noch nie in unserem Leben etwas von „Golden Earring“ gehört hätten. Den alten Leuten schlafen die Gesichtszüge ein. Und das schon, bevor wir erklären, dass wir wegen eines Fußballspiels und des Genusses alkoholischer Getränke vor Ort sind. Die etwas weniger offene ältere Dame reagiert blitzschnell und erklärt uns die Hausregeln. In Erinnerung geblieben sind mir die Worte: Nicht. Nicht. Nicht. Nicht. Nicht. Und leise sein.

Der Wirtschaftsflüchtling sagt, dass Südländer nicht bei unter 30 Grad Zimmertemperatur schlafen können würden und dreht die Heizung unseres Kämmerchens auf Stufe 100. Schnell recherchieren wir, wer oder was „Golden Earring“ sind. Eine holländische Rockband. Jetzt schlafen mir die Gesichtszüge ein. Sensationell. Im Anschluss seiner Dusche wird der Wirtschaftsflüchtling monieren, dass das Wasser unheimlich schlecht abläuft und mir empfehlen, mit meiner Körperpflege noch etwas abzuwarten. 20 Minuten später verspüre auch ich das Bedürfnis nach Hygiene und werde nach Analyse des Abflussproblems flugs zum Klempner des Jahres, indem ich den Stöpsel aus dem Duschbecken entferne (!!!) und so das Problem des nicht ablaufenden Wassers behebe. Oh Mann, der Wirtschaftsflüchtling. Nicht immer überlebensfähig, aber heute wenigstens pünktlich.

Auf dem Weg zum Stadion feiern wir gemeinsam mit handgezählten 23 Bürgern und Bürgerinnen Kerkrades sowie mit acht eingefärbten Mohren, die wohl durch Blackfacing und ein klein wenig Alltagsrassismus die Stimmung auflockern sollen, ein Stadtfest, das sich gewaschen hat. Kurz darauf stelle ich mit erkalteten Händen fest, dass in den Niederlanden der Winter bereits früher vor der Tür steht und kaufe mir ein Paar Handschuhe, das ich von der gleichermaßen hübschen wie überforderten Kassiererin des lokalen C&A beinahe geschenkt bekomme. Den letzten Zwischenstopp vor dem Stadionbesuch legen wir im „De Gouden Leeuw“ ein. Eine Kneipe, in der der Wirt auf Nachfrage so nett ist, uns einen Song von „Golden Earring“ vorzuspielen. Oh, kennt man sogar. Jetzt aber schnell mit dem Bus zum Fußball…

Das Parkstad Limburg Stadion wurde im Jahr 2000 eröffnet und sieht dementsprechend aus. Vor den Stadionkassen erwerben wir von einem freundlichen Herren Karten für 10 Euro und entlasten die Reisekasse, die bei einem Kauf regulärer Tickets an der Tageskasse doch etwas mehr hätte geschröpft werden müssen. Kurz darauf nehmen wir Platz auf der Hintertortribüne und lassen uns wie neulich in Prag die Wärmestrahlersonne auf den Bauch scheinen. Das Spiel beginnt – und ist dann bereits nach 14 Minuten entschieden. Der Gast aus Zwolle führt mit 2:0 und spielt hier und heute die furchtbar unsortierten und niveauarmen Hausherren an die Wand.

In der Halbzeitpause betreten zwei junge Menschen in T-Shirts einer Brauerei den Rasen und deuten an, etwas mit einer Druckluft-Röhre in das Publikum feuern zu wollen. Ich persönliche hoffe, dass es sich um Bierdosen handelt, bin nach dem ersten Schuss dann allerdings hochgradig enttäuscht, weil das verschossene Präsent leider weit über das Stadiondach hinaus in den Orbit gejagt wird. Ziiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiisch. Läuft halt heute irgendwie nicht so für Roda – alles geht daneben!

Mich erreichen über die Dauer des Spiels diverse Kurznachrichten aus dem Fanblock gegenüber, von dem aus ein Freund erst fragt, wo wir im Stadion sitzen würden („Im Osten. Passt zu uns!“), ob wir nach dem Spiel ein Bier mit ihm trinken wollen würden („Ja, unbedingt!“), um dann wenige Minuten später nachzulegen, dass ihm der Auftritt seiner Lieblinge sehr peinlich sei und wir unbedingt noch einmal wiederkommen müssten. Zum Zeitpunkt der dritten Nachricht sind 60 Minuten gespielt und der Gast aus Zwolle führt 4:0. Und wenn man einen Gegner im eigenen Stadion schon einmal richtig demütigt, dann darf man auch gut und gerne in der 90. Minute noch ein 5:0 einschenken. Das Stadion, das sich ohnehin schon nach jedem Gegentreffer weiter und weiter geleert hatte, gleicht nun einem Friedhof. Auch die Fantribüne, die über das gesamte Spiel noch gute Miene (Achtung: Bergbauwortspiel!) zum bösen Spiel gemacht hatte, verstummt nun und verabschiedet ihre Helden wortlos, aber bemerkenswerterweise ohne Pfiffe.

Nach dem Spiel halten wir Ausschau nach meinem Bekannten, der so aussieht, wie ich. FUDUs bärtiger Bruder findet uns verwirrte und orientierungslose Menschen dann im Stadionumfeld, nimmt uns an die Hand und schleust uns an den Ordnern vorbei in die Fankneipe des RJC, welche sich im Bauch der Fantribüne befindet. Dort lernen wir seine Familie kennen, wobei Vater, Mutter und Bruder nicht müde werden, zu betonen, dass es eigentlich auch noch eine Schwester geben würde. Die sei aber kein Roda-Fan, von daher würden wir heute genau genommen bereits die gesamte Familie kennenlernen. Nett. Noch netter ist, dass uns ständig zwei Pils gleichzeitig in die Hand gedrückt werden („Sind ja nur kleine Bier!“) und sich ein feucht-fröhlicher Abend entwickelt, der damit endet, dass wir als letzte verbliebene Gäste aus der Fankneipe gebeten werden. Im Nachgang der Reise zeigt sich, dass sich ein Kerl mit Schapka in den Hintergrund aller Gruppenfotos gedrängt hat. Da wir ihn in den Momenten der Aufnahmen nicht wahrgenommen hatten, kann wohl konstatiert werden, dass auch mehrere kleine Pils irgendwann zu einigen großen werden.

Mein Lieblingskumpel (Achtung: Bergbauwortspiel!) erzählt unzählige Anekdoten aus der Vereinshistorie (z.B. über Europapokalspiele gegen den AC Mailand und über Dick Nanninga, WM-Final-Torschütze 78 und Spieler des RJC), der Region Limburg und führt mich dann durch die heiligen Gänge des Stadions und erklärt mir die Wandbilder.

Als wir das Stadion verlassen, treffen wir auf Abwehrspieler Ard van Peppen, der schick gekleidet noch immer die Geduld aufbringt, auch den letzten verstrahlten Stadionbesuchern die Niederlage zu erklären und mit ihnen für Fotos zu posieren. Ai, das hat Spaß gemacht! Wir verabschieden uns von unseren niederländischen Gastgebern und sind uns sicher, dass wir uns irgendwann einmal An der Alten Försterei oder im Parkstad Limburg Stadion wiedersehen werden…

Da wir die Regeln der Pension nüchtern verinnerlicht haben, können wir nun ruhig noch ein gepflegtes Bier trinken gehen. Die Spelunke, die wir betreten, ist ziemlich urig, der Altersdurchschnitt ebenfalls. Aus dem „einen schnellen Bier“ mit dem Wirtschaftsflüchtling werden gewohntermaßen mehrere, wobei ihn dieses Mal keine Schuld trifft, wird hier doch tatsächlich Gerstensaft in 0,18 Liter Gläsern kredenzt. Mal ernsthaft, was soll das sein? Was für eine Maßeinheit ist das? Eine Frikandellänge?

In der Pension angekommen, treffen wir auf die Gäste des anderen Zimmers. Es sind hässliche Deutsche aus Frankfurt (nicht an der Oder), die Besucher des „Golden Earring“ Konzerts waren. Nun würden sie gleich auf den Geburtstag ihres Papas anstoßen, erzählt uns Ayla („Mein Name ist türkisch, ich nicht!“) und schmeißt uns die Verandatür vor der Nase zu. Oh, da will wohl jemand unter sich sein.

Der Wirtschaftsflüchtling und ich gehen zum Kühlschrank in der Gemeinschaftsküche und erleichtern diesen um alle verfügbaren Pit-Bierdosen. Wir lassen das entsprechende Klimpergeld in die Kasse des Vertrauens wandern und hoffen, dass Familie Gold aus Westdeutschland nichts eigenes zum Trinken dabei hat, schleichen still und leise die Treppe in unseren Saunaraum hinauf, füllen das Bier in mein 0,18 Liter großes Kleptomaniesouvenir und stoßen auf Aylas Vati an. Prost. /hvg

14.11.2015 SV Lichtenberg 47 – Tennis Borussia Berlin 2:0 (0:0) / Hans-Zoschke-Stadion / 673 Zs.

Soeben ist das Länderspiel Frankreich gegen Deutschland zu Ende gegangen. Inmitten des Spiels hat es eine deutlich vernehmbare Detonation gegeben. Mittlerweile ist durchgesickert, dass es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat, der ursprünglich nicht in der Nähe, sondern im „Stade de France“ durchgeführt werden sollte. Weitere Anschläge erschüttern derweil Paris und finden ihre Opfer im Theater „Bataclan“ und an vier anderen Orten im 10. und 11. Arrondissement. Ich sitze bis tief in die Nacht vor dem Fernseher und verfolge die aktuellen Nachrichten aus der französischen Hauptstadt. Dabei ärgere ich mich ein wenig darüber, dass es permanent Liveschalten zu Experten gibt, die auch noch nicht mehr wissen, als jeder andere auch. Immer und immer wieder werden Gerüchte verbreitet, von eventuellen neuen Anschlagsorten berichtet und Opferzahlen taxiert, ohne zu vergessen, dabei zu betonen, dass dies alles noch keine gesicherten Informationen seien. Nichts genaues weiß man nicht, aber man kann bekanntlich nie früh genug damit beginnen, Ängste zu schüren. Auch Deutschland könnte irgendwann natürlich einmal potentielles Anschlagsziel sein. Die gewagte Querverbindung von islamistischen Terroranschlägen zum Fußballsport im Allgemeinen führt dazu, dass auch Herr Rauball zu den Geschehnissen der vergangenen Stunden befragt wird. Dieser lässt es sich dann auch nicht nehmen, zu erwähnen, dass im Fußball nie wieder irgendetwas so sein wird, wie es einmal war und ebnet so bereits den Weg für neue überbordende Sicherheitsmaßnahmen, Kontrollen und verschärfte Überwachungsmethoden.

Die nie gestellte Frage, ob ich jemals wieder ein Fußballstadion betreten werde, beantwortet mein Vater am nächsten Morgen, indem er mich fragt, ob ich ihn zu einem Spiel im Berliner Pokal zwischen Lichtenberg 47 und Tennis Borussia Berlin begleiten will. Ja, ich will.

Am Kassenhäuschen bestellt mein Vater für jeweils 5 € ermäßigte Eintrittskarten und nennt doppelt lügend „Rentner“ und „Student“ als Grund. Da nur ich nach einem Nachweis gefragt werde, gehe ich davon aus, dass ich mittlerweile für einen gewöhnlichen Studenten zu alt aussehe, worüber sich mein Vater köstlich amüsiert. Aber nur so lange, bis ich ihn darauf hinweise, dass er offenbar alt genug aussieht, um ihm die Rentnernummer ohne Ausweispapier abzukaufen. Ein norddeutscher Ordner stimmt in unseren Humorkanon mit ein und verkauft uns ein hübsches Stadionheft für einen Euro.

Da die legendäre Imbissbude an der Ecke Normannen-/Ruschestraße, in der schon so manche Turmspringschlacht von FUDU aufmerksam verfolgt wurde, im Vorfeld der Partie leider geschlossen bleibt, ist unser Imbisshunger und Bierdurst bislang nicht gestillt worden. Da der hierfür eingerechnete Zeitfaktor in Form von 45 Minuten so auf die Habenseite gewandert ist, verbleibt nun genügend Zeit, anstatt dessen in das Vereinscasino der 47er einzukehren, wobei angesichts der winterlich kalten Temperaturen auch ein gewisser Bedarf an Wärme nicht zu leugnen ist. Dort überzeugt das von Halil Savran unterschriebene Trikot hinter Glas, eine Ehrenwand ehemaliger Lichtenberger Spieler, die es in den Profibereich geschafft haben, das Publikum und die Preise. Das sensationell schöne „Zoschke“ verfügt also auch über eine wunderbare Gaststätte – ein weiterer Grund, immer mal wieder auf einen Besuch vorbeizukommen!

Als wir das Stadion dann erneut betreten, passieren wir einen kleinen Fanshop der Lichtenberger, der durch sein Sortiment und seine charmante Preisgestaltung überzeugt (Preise enden jeweils auf 47 Cent). Robert Jaspert fachsimpelt mit dem gleichen adrett gekleideten Begleiter wie neulich in Zehlendorf (Nachtigall, ick hör dir trapsen…), wird aber im Verlauf der Partie vom TeBe-Haufen auf der Gegengeraden nicht homophob beleidigt. Schön, dass die sich auch mal zusammenreißen können.

Vor dem Anpfiff gibt es eine Schweigeminute für die Opfer der gestrigen Attentate. Nach dem Anpfiff gibt es im gut gefüllten „Zoschke“ immer mal wieder Anfeuerungen für die Gäste, wobei der Block politisch korrekt mit französischen Nationalflaggen geschmückt ist und der allseits beliebter Charlottenburger Schlachtruf „Lila-Weiße“ von meinem Vater um „Westberliner Scheiße“ ergänzt wird. Ach ja, Erziehung und Sozialisation sind schon unbezahlbare Werte. Knapp 150 Borussen haben sich heute auf den Weg nach Lichtenberg gemacht und ein rot-weißes Flatterband sorgt für die immens wichtige Fantrennung. Der lauteste im Rund ist jedoch mit weitem Abstand Daniel Volbert, Trainer der Charlottenburger, der cholerisch alles und jeden lautstark zusammenscheißt.

Das Spiel zwischen den beiden Oberligisten findet hart umkämpft zwischen den Strafräumen statt. Ich erfreue mich darüber, dass in den Reihen Lichtenbergs mit Reiniger und Mayoungou zwei ehemalige Unioner agieren und auch Tennis Borussia hat in Onur Yesilli einen ehemaligen Schützling der Zweeten in der Startelf, wenn auch noch ohne Namen auf dem Trikot. Ansonsten bietet die Partie nicht viel mehr Gründe zur Freude. TeBe hat mehr Ballbesitz, kann hiermit aber rein gar nichts anfangen. Lichtenberg riegelt den eigenen Strafraum ab, kommt aber seinerseits ebenfalls nur sporadisch mit Ball am Fuß in die Nähe des gegnerischen Strafraums. Bereits nach 20 Minuten richten wir uns so gedanklich auf eine Verlängerung ein und konsumieren den ersten Stadionglühwein des Jahres.

Nachdem wir in der ersten Halbzeit sitzend auf der Haupttribüne gefroren hatten, wechseln wir im zweiten Spielabschnitt auf die Stehtribüne. Dort ist es aufgrund der Bewegungsfreiheit wesentlich wärmer, außerdem stehen wir dem TeBe-Tor näher, in welches wir den Ball gerne einschlagen sehen würden. Aufgewertet wird der Stehplatz durch die gute Nachbarschaft (Rocco Teichmann, Steffen Baumgart) und durch den überragenden Spielverlauf. Für eine Dauer von 10 Minuten lösen beide Mannschaften urplötzlich die Fesseln und kommen jeweils zu Großchancen. Einen Schuss von TeBe kratzen die Lichtenberger von der Linie. TeBe hat hingegen Glück, dass Lichtenbergs Brechler eine 1:1 Situation gegen den Torwart nicht erfolgreich bewältigen kann. Danach ergibt sich wieder das gleiche Bild wie in der ersten Halbzeit, doch in der 93. Minute schlägt die große Stunde der Heimmannschaft: Brechler kann einen an die Latte geköpften Ball im Nachschuss verwerten, woraufhin alle Lichtenberger Ersatzspieler und Betreuer auf den Platz stürmen und eine überdimensional große Jubeltraube bilden. Auch der Fotograf kennt kein Halten mehr, klettert von den Traversen auf den Rasen und muss alles aus nächster Nähe dokumentieren. In der letzten Minute der Nachspielzeit gelingt Daniel Wahl (96. Minute) durch einen Konter und einen strammen Schuss ins linke Eck gar das 2:0, womit Lichtenberg verdient in das Achtelfinale des Paul-Rusch-Pokals einzieht.

Die Jubelorgie verstummt nach wenigen Sekunden. Es ist kalt und die Menschen verlassen das Stadion trotz der emotionalen Schlussphase in Scharen. Da die Polizei die verordnete Fantrennung nach wie vor sehr Ernst meint, dürfen wir den Ausgang Normannenstraße nicht offiziell nutzen, sondern müssen wir uns unter dem Flatterband hindurch bücken, als gerade niemand hinschaut, um dann doch gemeinsam mit den TeBe-Fans aus dem Stadion zu entweichen. Wirklich nichts ist mehr so, wie es früher einmal war. Und sicher ist bekanntlich sicher. /hvg

06.09.2015 BSV Hürtürkel 1980 – SC Borsigwalde 1910 1:2 (1:0) / Sportanlage Hertzberplatz / 40 Zs.

Berlin-Pokal, 1. Runde. Mein Heimatverein darf als frischgebackener Bezirksligist beim BSV Hürtürkel vorstellig werden. Der BSV startet in dieser Saison bereits in seine dritte Oberligasaison in Folge und spielt somit um genau vier Klassen höher als die gerade eben aufgestiegenen Borsigwalder. Das Spiel findet auf dem „Hertzbergplatz“ statt, welcher auch in dieser Saison Heimspielstätte des BSV Hürtürkel ist, aber von FUDU bislang nicht gekreuzt wurde. Auf der Hopping-Mission, die NOFV Oberliga Nord irgendwann einmal zu komplettieren, gelingt es so neben meinem Vater auch den „Hoollegen“ für diesen Tagesausflug zu akquirieren.

Der Sportplatz befindet sich in der Sonnenallee und ist somit lediglich vier S-Bahn-Stationen von meinem zu Hause entfernt. Trotzdem kann man es als Prokrastinationsweltmeister natürlich locker schaffen, diese Teufelsetappe auf die lange Bank zu schieben und nicht anzugehen. Nun zeigt sich im Gewirr des Berliner Nahverkehrs recht schnell, dass man diese Reise keineswegs auf die leichte Schulter nehmen darf. Etwas unbedarft in die falsche S-Bahn eingestiegen und schon ist man versehentlich im Plänterwald angekommen. Kann schon man passieren, wenn man sonst so selten in Richtung Westen fährt. Aber geschenkt…

Mein Vater muss so leider etwas länger als geplant an der Sonnenallee ausharren, bis die beiden FUDU-Trottel den Weg endlich gefunden haben. Zu Fuß sind die 750 Meter zum Sportplatz aber schnell genug zurückgelegt, um rechtzeitig vor dem Anpfiff seine Plätze einzunehmen und einen ersten Rundumblick in die bisher unbekannte Oberliga-Spielstätte zu werfen: Man nehme einen Naturrasenplatz, baue an eine der beiden Längsseiten fünf Stufen – fertig ist in Berlin das, was sich Oberliga-Stadion nennt. Sicherlich ganz witzig, wenn hier auf der 2500 Zuschauer fassenden Anlage Tennis Borussia oder Hansa Rostock II gastiert, doch heute kommt nicht mehr auf als Sportplatzflair.

Am Ende des Spiels werden sich etwa 40 Menschen auf der Anlage befinden, wobei die Nummerierung unserer Eintrittskarten (001 bis 003), die wir gut 5 Minuten vor Anpfiff erworben haben, darauf hindeutet, dass heute womöglich nicht all zu viele Menschen, die es mit dem Gastgeber halten, Eintritt bezahlen müssen. Dennoch ist die Karte ihre 3,00 € locker wert, befindet sich sogar ein Logo des Gastvereins auf ihr.

Die Imbisshütte auf dem „Hertzbergplatz“ ist ganz offensichtlich verpachtet und hat mit dem gastgebenden Verein so rein gar nichts zu tun. Das Angebot reicht von Bier bis zu Variationen vom Schwein und ist somit nicht ganz genau auf die türkischstämmige Zielgruppe zugeschnitten, aber immerhin werden gleich drei von 40 Zuschauern auf ihre Kosten kommen. Damit das Neuköllner Original hinter dem Tresen wenigstens nicht gänzlich leer ausgeht, machen wenigstens wir ihr unsere Aufwartung und bestellen Kindl und zweierlei Wurst (eine Bocki, zwei Bratwurst).

Die Frau hinter dem Tresen ist überrascht, dass die Ordner im Hintergrund eine im Ligaalltag übliche Absperrung vornehmen, was sie dazu veranlasst, das Glasflaschenbier in Plastikbecher umzufüllen, so wie sie es dank NOFV-Auflagen in der Oberliga auch tun muss. Also doch großer Fußball! Der Hoollege beschwert sich alsbald, dass es ein ungeschriebenes Gesetz sei, dass zu einer Wurst immer eine dreieckige Scheibe Toast gereicht werden müsse und prangert die brotlose Kunst der Cateringdame an.

Dann kann das Spiel beginnen, von dem sich nur der Vater des Autors und ausgewiesener Borsigwaldekenner Spannung erhofft. Der Rest der Reisegruppe geht von einem deutlichen Sieg des Oberligisten aus und ist gleichzeitig froh darüber, dass nach und nach Sonnenstrahlen den morgendlichen Dauerregen ablösen.

Schnell wird klar, dass der BSV hier und heute kein leichtes Spiel haben wird. Die Borsigwalder sind gut organisiert und schließen dank einer sehr hohen Laufbereitschaft jede sich öffnende Lücke und ersticken den Spielaufbau des uninspirierten Oberligisten im Keim. Nur wenige Chancen werden zugelassen, die wiederum bravourös vom Schlussmann vereitelt werden können. Gleichzeitig nimmt der SCB aber auch am Spiel teil und lässt den Ball teilweise gefällig laufen und erspielt sich seinerseits ebenfalls Abschlussgelegenheiten. Durch einen direkten Freistoß von Kucak in die Torwartecke (36. Minute) kann der Favorit etwas schmeichelhaft in Führung gehen und alles scheint nun seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Erst jetzt geben sich die Spieler des BSV lautstark Kommandos, zuvor war es in Reihen des BSV erschreckend ruhig geblieben. Vielleicht hatten sich die Spieler als Reaktion auf die schwachen sportlichen Auftritte der jüngeren Vergangenheit (Drei Niederlagen in den ersten drei Saisonspielen gegen Wismar, Fürstenwalde und den BSC Süd) aber auch erst einmal zur Ruhe ermahnt…

In der zweiten Halbzeit nehmen es die Favoriten dann etwas zu locker mit den Freizeitfußballern aus Borsigwalde, die immer besser ins Spiel kommen. Überraschend ist, dass konditionell offenbar dermaßen viele Körner vorhanden sind, dass zu keiner Sekunde des Spiels ein deutlicher Abfall der Laufbereitschaft zu konstatieren ist. Sensationell.

Die erste Chance, die sich dann eher zufällig auftut, nutzt der SCB in Person von Pierre Henkel mit etwas Glück, aber viel Geschick, zum 1:1 in der 50. Minute. Der Siegtreffer fällt 25 Minuten später durch Milewski. Und während die Führung Hürtürkels einem Torwartfehler geschuldet war und der Schütze des Ausgleichstores etwas mit dem Glück im Bunde war, ist dann der dritte Treffer wahrlich ein blitzsauber heraus gespieltes Tor mit einem wunderbaren Linksschuss an den Innenpfosten als krönender Abschluss.

Die restliche Viertelstunde bekommt der SCB gut verteidigend über die Zeit, wechselt die beiden einzig verfügbaren Auswechselspieler ein und zieht auch mit dieser dünnen Personaldecke letztlich verdient in die nächste Runde ein. Auf den BSV Hürtürkel werden in der Oberliga wohl schwere Zeiten zukommen. „Riesenjubel bei allen Borsigwaldern und den drei Fans, die den weiten Weg zur Sonnenallee gefunden hatten“, schreibt die offizielle Website des SCB tags darauf und auch auf der Titelseite der „Fußball-Woche“ vom Montag werden die Feierabendfußballer aus Borsigwalde gebührend gefeiert. /hvg